Kitabı oku: «Eine Schule ohne Noten (E-Book)», sayfa 2

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Fallbeispiel 2: Obersee Bilingual School

von Nina Schnatz[7]

Die Obersee Bilingual School im Kanton Schwyz am Fuße der Schweizer Alpen ist eine private, bilinguale Schule, die vom Vorkindergarten bis zur Matura oder dem Internationalen Bakkalaureat (IB) ca. 350 Lernende betreut. Seit Schulgründung basierte das Konzept schon auf den Prämissen von Individualisierung, selbstgesteuertem Lernen und Kompetenzorientierung, unterstützt durch digitale Tools. Die Schule stellte sich früh die Frage, was es bedeutet, Kompetenzen zu unterrichten. Wie bringe ich jemandem Fähigkeiten bei und wie prüfe ich diese? Die Lehrpläne sind bereits kompetenzorientiert gestaltet. Auch im Unterricht hat Kompetenzorientierung Einzug gehalten. Was aber im Sinne von Biggs Modell vom Constructive Alignment[8] noch fehlt, sind die Prüfungsformen, denn Lernziele, Methoden und Überprüfungsformen sollten eine Einheit bilden. Vernetztes Denken, Probleme lösen, im Team arbeiten und dort die Stärken jedes Einzelnen nutzen, analysieren, evaluieren und etwas neu erschaffen, sind Fähigkeiten, die wir in unserem Unterricht fördern. Herkömmliche Prüfungsformen und einfache Notenskalen können dieser Art zu lernen nicht gerecht werden. Daher hat sich die OBS entschieden, das klassische Notensystem abzuschaffen. Feedbackgeben als zentralen Bestandteil des Unterrichts gab es zuvor schon, aber durch diesen Schritt hat es nochmal an Gewicht gewonnen. Um das eigene Lernen sinnvoll steuern zu können, muss ich wissen, wo die Reise hingehen soll. Die Ziele werden daher jeweils zu Beginn einer Lerneinheit in Form von Kompetenzrastern den Schülerinnen und Schülern transparent zur Verfügung gestellt. In einer ersten Selbsteinschätzung können sich alle einordnen und dann planen, welche Stufe sie in dieser Einheit erreichen wollen. Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen, wird so zum zentralen Bestandteil des Unterrichtes. Ebenfalls wird durch konstantes Feedbackgeben der Weg zum Ziel erklärt. Noten können lediglich eine Momentaufnahme eines Lernzustands bieten, aber niemals wirklich abbilden, was ein Lernender oder eine Lernende kann. Damit einher geht bei uns der Wechsel von summativen Tests zum «authentic und formative assessment», das aus Leistungsbeurteilung eine Lernfortschrittsplanung macht. Lernende können teilweise selbst entscheiden, wie sie den Lernfortschritt demonstrieren möchten, z.B. indem sie eine kurze Lerneinheit für die anderen zu diesem Thema gestalten, inklusive einem Quiz, einem Erklärvideo, einer schriftlichen Auseinandersetzung, einer Ausstellung, Fotokollage etc. Die Möglichkeiten sind fast unbegrenzt, man muss nur den Mut haben, sich darauf einzulassen. Wir möchten unsere Lernenden dazu ermutigen, außerhalb herkömmlicher Muster zu denken und den Mut zu entwickeln, der eigenen Passion zu folgen, statt dem Weg, der kurzfristig als der leichtere erscheint. Ein positiver Umgang mit Fehlern gehört ebenfalls dazu. Im Kanton Schwyz sind wir in der glücklichen Lage, dass wir den Lernenden keine Notenzeugnisse geben müssen. Es muss allerdings gewährleistet sein, dass Schülerinnen und Schüler, die die Schule verlassen möchten, um auf eine andere Schule zu gehen, ein Notenzeugnis erhalten. Ebenfalls verlangt der IB-Abschluss Notenzeugnisse der vorangegangenen Jahre. So ganz ohne geht es eben doch noch nicht. Andere Schweizer Kantone sind da noch restriktiver, erlauben zwar eine freie Leistungsbeurteilung innerhalb des Semesters, aber am Ende müssen Noten im Zeugnis stehen.

Das klassische Notensystem ist tief eingegraben in unsere Denkmuster und sich davon zu lösen, ist ein langsamer und schwerer Prozess. Dabei sind alle Teilnehmenden, Lehrpersonen, Eltern und Schüler betroffen, wir alle sind durch die jahrelange Knechtschaft des Notensystems gegangen und wägen uns dabei in Sicherheit; was wir kennen, ist gut bzw. kann nicht so schlecht sein. Diese Denkmuster aufzubrechen, ist schwierig.

Das beginnt bei den Lehrpersonen, die sich mit dem neuen System anfreunden müssen und die Feedback-Prozesse noch konstanter in ihren Unterricht implementieren müssen, denn ohne Feedback funktioniert eine notenlose Lernumgebung nicht. Ebenfalls müssen alle Lernziele kompetenzorientiert formuliert werden. Das kostet viel Zeit und Energie. Intern wurde unser Prozess von Noten zum notenlosen Unterricht daher intensiv begleitet. Es gab viele Weiterbildungstage: Kompetenzraster wurden entwickelt, Feedback-Formen ausgetauscht, evaluiert und ausprobiert. Noch finden wir uns in einer Hybridsituation, was für alle Beteiligten schwierig ist. Der Wechsel zum komplett notenlosen Unterricht soll im neuen Schuljahr vollzogen werden.

Die zweite Partei, die vom Wandel betroffen ist, sind die Eltern, die einen Kontrollverlust erleben. Auf der Seite der Eltern mag dieser Prozess noch schlimmer sein, da die Lehrpersonen aktiv im Transformationsprozess beteiligt sind. «Keine Noten mehr? Da melden wir unser Kind ab!», sind Reaktionen, die häufig vorgekommen sind. Wichtig dabei ist, in den Fokus zu rücken, dass Lernen angstfrei erfolgen sollte, mit Neugier und Spaß und nicht aus Angst und Stress, um eine gewisse Note zu erhalten. Viele Eltern wünschen sich so eine Lernumgebung, würden aber dennoch gerne eine Note bekommen. Besonders die akademischen Standards und die Frage nach der Anschlusslösung sind die Fragezeichen der Eltern. Ist mein Kind ohne Noten überhaupt in der Lage, einen Abschluss zu schaffen? Was passiert, wenn wir die Schule wechseln wollen? Diese Ängste und Fragen können nur im Dialog abgebaut und beantwortet werden.

Die Lernenden sind diejenigen, die im Fokus des ganzen Prozesses stehen. Sie sind die Hauptakteure und um ihre Eigenverantwortung zu fördern, ist es wichtig, dass sie in den Beurteilungsprozess miteinbezogen werden. So werden z.B. Kompetenzraster mit den Lernenden teilweise gemeinsam entwickelt. Diese haben erstaunlich gute Vorstellungen, was man können muss, um ein Emerging (das reicht noch nicht ganz) oder ein Excelling (die Lernziele übertroffen) zu erreichen, und sie können die Ziele präzise ausformulieren. Dadurch ändert sich das Verhältnis von Lehrperson und Schüler oder Schülerin, die Hierarchie wird aufgehoben und beide arbeiten gemeinsam an einem Ziel: die bestmögliche Lernumgebung zu erschaffen. Für die Schülerinnen und Schüler ist die Frage nach der Note in den Fächern, die dieses Jahr schon notenlos unterrichtet wurden, tatsächlich in den Hintergrund gerückt. Es ging darum, was man erreichen kann, wie der aktuelle Stand ist, und dann wurden die nächsten Schritte gemeinsam besprochen und das Lernen gemeinsam geplant. Das fordert eine offene Kommunikation zwischen Lehrpersonen und Lernenden. So werden die Schülerinnen und Schüler in den Bewertungsprozess nicht nur einbezogen, sondern sie steuern ihn aktiv. Sie werden zu Akteurinnen und Akteuren des eigenen Lernens. Das ist die beste Basis für ein lebenslanges Lernen und genau darauf sollen unsere Schülerinnen und Schüler vorbereitet werden.

Unterricht ohne Noten: Eine Bilanz

In Schweden erhalten Schülerinnen und Schüler bis zur achten Klasse keine Noten. Diese werden durch schriftliche Leistungseinschätzungen und Kompetenzüberprüfungen ersetzt. Der Fokus ist die Entwicklung von Lernenden – genauso wie das in den beiden Fallbeispielen aus Berlin und aus der Schweiz gezeigt wird. Wie können die Kompetenzen erworben werden, die noch nicht ganz vorhanden sind (Emerging), wo werden Lernziele übertroffen (Excelling)?

Der komplette Verzicht auf Noten verhindert, dass die Orientierung am Lernstand von Kindern und Jugendlichen als Ausnahme gesehen wird, als ein Abweichen von einem Standard, zu dem alle zurückkehren müssen. Die Erfahrungen an Schulen ohne Noten sind durchgängig befreiend, konstruktiv, positiv für die Lernkultur und die Lernbeziehungen. Sie müssen aber durch Erklärungen, Gewöhnung und Rechtfertigungen erkauft werden.

Hier ist ein Wandel im Denken erforderlich: Die Konditionierung mit Noten ist es, die einer Begründung bedarf. Weshalb sollten Lernende verglichen werden? Weshalb wird ein Zahlensystem eingeführt, das ungenau und unfair ist? Weshalb werden Lehrende gezwungen, sich Lernenden gegenüber in die Rolle von Beurteilenden zu begeben? Wie kommt es, dass sich Eltern an künstlichen Bewertungssystemen orientieren, statt daran, was ein Kind kann und lernt?

Heute müssen Erfahrungen nicht mehr aufgearbeitet werden. Die Erfahrungen liegen vor und sie sind durchgängig positiv: seit Jahrzehnten. Es ist an der Zeit, diesen Erfahrungen zu vertrauen und sie zur Grundlage des Bildungssystems zu machen.

Ethics in Bricks, Twitter[9]

Manifest: Rückmeldungen sind wichtiger als Noten

Lernprozesse brauchen gute Bedingungen, um sich entfalten zu können. Zu diesen Bedingungen gehören Wohlbefinden, Selbstvertrauen, Sinnerfahrung, Kompetenzerleben, Herausforderung, soziale Eingebundenheit, Begleitung durch geschulte Fachpersonen, attraktive Lernumgebungen, Bewusstsein für das eigene Lernen und Feedback. Lernprozesse können aber auch behindert werden: durch Angst, Frustration, Komplikation, Ablenkung, Störung, Verunsicherung der Lernenden.

Noten beenden und behindern Lernprozesse. Sie erschweren es Lernenden, sich auf ihren Lernprozess zu fokussieren, und lenken die Aufmerksamkeit auf eine Bewertung, die alle fürs Lernen wichtigen Bedingungen erschüttert. Wer bewertet wird, zweifelt an sich selbst, sieht den Sinn des Lernens in dieser Bewertung statt im Aufbau von Kompetenz, im Lernen, im Sinnerleben.

Schule soll zu einem Ort werden, an dem Kinder gestärkt werden und sich entwickeln können. Im Unterricht erhalten sie Zugang zu vielfältigen Lernmöglichkeiten. Sinnvolle Routinen schaffen einen Rhythmus, Lernprodukte stellen aus, was Lernende können. Untereinander geben sie sich Feedback und lernen, wie das funktioniert – in Gesprächen mit Lehrenden erhalten sie Rückmeldungen, die sich auf ihre Arbeit und ihren Arbeitsprozess beziehen. Diese Gespräche sind eine Möglichkeit, um genaue Kritik so zu äußern, dass sie für alle annehmbar ist und ihnen dabei hilft, sich weiterzuentwickeln. Noten braucht es dazu keine: Sie schaffen Abhängigkeiten und Machtverhältnisse, welche Schulen und Lehrpersonen belasten und daran hindern, ihren Aufgaben nachzukommen.

Schulen orientieren sich an ihrem demokratischen Auftrag. Dazu gehören auch Standards, die beschreiben, welche Ziele Lernende erreichen sollten. Diese Zielerreichung steht in der täglichen Arbeit im Vordergrund. In motivierenden, sinnhaften Formen nähern sich Schülerinnen und Schüler ihren Zielen. Wenn sie diese nicht erreichen, merken sie es und werden aufgefordert, weiterzuarbeiten und andere Wege zu finden, die Vorgaben zu erfüllen. Noten braucht es dazu nicht: Sie zeigen entweder eine Zielerreichung an und überlagern dabei die Freude über die eigene Leistung – oder sie markieren einen Lernrückstand, der aber lediglich provisorisch ist. Im nächsten Lernschritt wird er aufgeholt, das Defizit muss nicht sichtbar gemacht werden. Noten mildern die Freude über gute Leistungen und erschweren es, Defizite anzupacken und aufzuholen.

Rückmeldungen hingegen stellen individuell erbrachte Leistungen in den Vordergrund, ermutigen, drücken Wertschätzung aus und machen Verbesserungsvorschläge. Sie laden ein, übers Lernen und Arbeiten mitzudenken, in Gespräche einzutreten, Verantwortung zu übernehmen. Feedback ist ein erster Schritt, um mit Lernenden gemeinsam über ihre Leistungen nachzudenken, eine Art Sprungbrett hin zu offenen Dialogen. Deshalb müssen Rückmeldungen mehr sein als verkappte Beurteilungen, als einseitige Einschätzungen von Lehrenden. Fragen sind darin wichtiger als Mitteilungen, Wahrnehmung von Stärken wirksamer als Korrekturen von Defiziten.

Bent Freiwald, Bildungsjournalist[10]

Kritik der Notengebung

«In freier Wildbahn springen Delphine sehr häufig und aus eigenem Antrieb. Im Delphinarium springen sie signifikant seltener, machen ihre Sprungkaskaden nur mehr dann, wenn ihnen ein Fisch hingehalten wird.»[11] In diesem Zitat beschreibt Anton Strittmatter den Delphinarium-Effekt, mit dem er sich auf Reinhard Sprenger bezieht. Dieser hatte gezeigt, wie klassische Effekte, die dem Motivieren dienen, kontraproduktiv wirken: Wer belohnt, lobt, besticht, bedroht oder bestraft, kann kurzfristig Effekte erzeugen, die so aussehen, als wären sie wirksam – langfristig untergraben und zerstören sie jedoch Motivation. Hält man den Delphinen einen Fisch hin, dann sieht es so aus, als würde man sie zum Springen bringen. Tatsächlich springen sie aber weniger, wenn sie so belohnt oder bestochen werden.

Der Delphinarium-Effekt gilt auch für Noten. Kinder lernen vor-schulisch ohne Noten, sind motiviert, weil sie beim Lernen Fortschritte machen, sich selber als kompetent und autonom erleben. Werden sie mit Noten bewertet (und so gleichzeitig belohnt, gelobt, bestraft und bedroht), dann fokussieren sie ihre Aktivitäten auf dieses Anreizsystem. Sie lernen weniger, weniger motiviert und mit weniger Freude.

Diese psychologische Dimension ist eine Seite der Kritik an Noten: Sie wirken nicht so, wie sie lernpsychologisch wirken sollten. Die andere Seite der Kritik ist die Ungenauigkeit von Noten. Durch viele Studien ist das seit Langem erwiesen. Gleichzeitig sollen Noten aber sehr viele anspruchsvolle Funktionen übernehmen: Information, Selektion, Allokation, Motivation, Legitimation, Evaluation, Steuerung von Bildungspolitik – um nur einige zu nennen. Das Fazit von Ingenkamp stammt schon von 1971 und ist vernichtend: «Ein Instrument von derart geringer Objektivität und Zuverlässigkeit ist absolut ungeeignet, so anspruchsvolle Funktionen zu übernehmen.»[12]

Die Studien, die Ingenkamp zitiert und in seinem Band abdruckt, belegen eindrücklich, was seit 50 Jahren Stand der Wissenschaft ist. In einer Nebenbemerkung betont der Autor, Lehrkräfte würden trotz dieser Studien und einem Verständnis für die Problematik weiterhin darauf bestehen, dass ihren Urteilen eine hohe Objektivität zukomme. Diese Wahrnehmungsverzerrung verbindet diese beiden Seiten der Notenkritik: Sie werden aus systemischen Gründen verdrängt. Weil Lehrende Noten setzen müssen und im System wesentliche Funktionen an Noten gebunden sind, müssen Beteiligte ausblenden, wie problematisch die Notensetzung an sich ist. Felix Winter schreibt dazu, in der wissenschaftlichen Literatur gebe es «kaum Argumente» für die Praxis der Ziffernbenotung: «Diese gut belegte Tatsache wird allerdings von allen Beteiligten (Lehrer, Schüler, Eltern) in der Regel nicht so gesehen.» Der Grund dafür liegt für ihn darin, dass «Noten sehr einfach gemacht werden können und nur schwer extern zu überprüfen sind».[13] Für Lehrende wäre jedes andere System mit mehr Aufwand verbunden – und für Eltern und Lernende ist nicht direkt erkennbar, wie ungenau und unfair Noten sind. «Schematische und pauschale Leistungsziele und entsprechend pauschale Leistungsbeurteilungen müssen durch differenzierte und begründete, strukturierte Lernziele, lernzielorientierte Tests und entsprechende Beurteilungskriterien ersetzt werden. In zunehmenden Maße sollten auch Schüler und Schülerinnen an diesem Begründungs- und Differenzierungsprozess beteiligt werden […], so dass eine in ihren Kriterien uneinsichtige Fremdbeurteilung schrittweise durch Selbst- und Mitbeurteilung seitens der Schüler ersetzt werden kann.»[14] Was Wolfgang Klafki in einem Vortrag 1973 als Gedankengang entwickelt hat, hat sich als Problem kaum verändert: Beurteilungen sind pauschal und zu wenig differenziert.

Die folgenden Abschnitte klären und verdeutlichen diese Kritik, indem sie in differenzierte Aspekte unterteilt wird.

Das Problem der unterschiedlichen Bezugsnormen

Für die Beurteilung einer schulischen Leistung werden üblicherweise drei Bezugsnormen angenommen:

1 die Sachnorm oder kriteriale Norm, die sich an den sachlichen Anforderungen orientiert,

2 die Sozialnorm, die eine Leistung in Bezug zu einer Vergleichsgruppe setzt,

3 die Individualnorm, bei der gemessen wird, wie sich eine Leistung im Verhältnis zu einem früheren Leistungsstand einer lernenden Person ausnimmt.

Die beiden ersten Bezugsnormen dominieren die schulische Praxis. Über die Anwendung der Individualnorm können in schulischen Kollegien heftige Konflikte entbrennen, etwa dann, wenn sich die neue Sportlehrerin nicht mehr an den Wertetabellen für Leichtathletik orientieren möchte, die seit Jahren in Gebrauch sind, sondern die individuelle Verbesserung von Weiten oder Zeiten innerhalb eines Übungszeitraumes zur Grundlage ihrer Benotung macht. Das deutsche Bundesland Brandenburg hat als eines der wenigen die Individualnorm im Schulgesetz verankert: «Die Leistungsbewertung bezieht sich auf die im Unterricht vermittelten Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten [Sachnorm]. Dabei werden der Leistungsstand der Lerngruppe [Sozialnorm] und die Lernentwicklung der Schülerin oder des Schülers [Individualnorm] berücksichtigt.»[15] Die konkrete Realisation der drei unterschiedlichen Bezugsnormen, ihre Gewichtung oder ihre situationsabhängige Anwendung bleibt den beurteilenden Pädagogen überlassen. Und so kann es – um beim Beispiel der Leichtathletik zu bleiben – dazu kommen, dass die gleiche Leistung sehr unterschiedlich bewertet wird, je nachdem, welche Bezugsnorm angewendet wird: Möchte die Lehrkraft eine Normalverteilung der Noten erzeugen und vergleicht sie die Einzelleistung mit denen innerhalb der Lerngruppe? Orientiert sich die Lehrkraft an den vorgegebenen Werten jenseits der Lerngruppe («Sachnorm») oder vergleicht die Lehrkraft die abschließend erbrachte Leistung mit der zu Beginn der Unterrichtseinheit gemessenen Ausgangsleistung und leitet aus dem Maß der Verbesserung die Note ab? Externe Faktoren der Steuerung, wie etwa vorgegebene Notenbänder, erschweren es zusätzlich, einheitliche Bezugsnormen zu etablieren – weil Sach- oder Individualnormen es möglich machen, dass alle Lernenden gute oder sehr gute Bewertungen erhalten würden. Die Schwierigkeiten, die sich hierbei ergeben, werden dadurch verstärkt, dass ein Bewusstsein für und die Transparenz über die Anwendung der drei Bezugsnormen oft nicht gegeben sind. So mischen sich die unterschiedlichen Funktionen der Notengebung (Information, Selektion, Rückmeldung). Die Forschung betont die nachgewiesenen positiven Auswirkungen der angewendeten Individualnorm auf die Leistungsmotivation der Lernenden, konstatiert aber ebenso die nachgewiesene massive Unterrepräsentation der Individualnorm in der schulischen Praxis.[16]

Die Herkunft des Bewertungssystems aus der Testtheorie

Das herrschende Bewertungssystem hat einen Ursprung in Edward Thorndikes[17] Forschungen zum Lernen durch Versuch und Irrtum. Sie beeinflussten maßgeblich den Behaviorismus. Burrhus F. Skinner entwickelte unter dieser Prägung sein Konzept der Operanten Konditionierung. Ein zweiter Ursprung liegt in der Testtheorie, die den mathematischen Anspruch hat, statistische Zusammenhänge zwischen bestimmten Merkmalen und empirischen Testwerten herzustellen. Angestrebt werden Gütekriterien zur Ermittlung der Qualität der Aussagen.[18] In der Verknüpfung von Behaviorismus und Testtheorie entstand der Nährboden für eine Bewertungskultur, die sich nahtlos mit Noten verbinden ließ. Die konkrete Bezifferung unterscheidet sich international: die Buchstaben A–F im angelsächsischen Raum, 6–1 in der Schweiz, 1–6 in Deutschland. Die heutigen Systeme erscheinen durch ihren beständig wiederholten Gebrauch naturgegeben – in Wahrheit sind sie historisch gewachsen. Das in Deutschland heute gebräuchliche System gibt es seit 1938, als die Note 6 («ungenügend») eingeführt wurde.[19] Wenn man die historische Entwicklung vor Augen hat, erscheint es denkbar, Notensysteme auch wieder zu ändern, einzugrenzen oder (teilweise) abzuschaffen. Nötig erscheint das allein deshalb, weil sich aus den genannten historischen Entwicklungslinien der Anspruch ableitet, in absolutem Sinn aussagekräftig zu individuellen Schülerleistungen zu sein. Das ignoriert die Kontextgebundenheit des soziologischen Leistungsbegriffes: «Es gibt keine individuelle Leistung im quasiphysikalischen Sinne, also unabhängig von menschlichen Sinnstiftungen und sozialen Kontexten.»[20] Ein Bewertungssystem, das in Tradition der lerntheoretischen Ansätze von Thorndike und Skinner das Lernen als Aneignung von bestimmten Verhaltensweisen oder Kenntnissen auffasst, kann diesen Erfolg scheinbar messen und in Noten übersetzen, ignoriert aber dabei, wie stark diese Leistung in eine Lernumgebung und in Beziehungen eingebunden ist. Ein Bewertungssystem hingegen, das darauf eingeht und Lernen auch als Entfaltung mit einer gewissen Offenheit auffasst, ist sich der Schwierigkeiten der Messbarkeit bewusst und vermeidet die Übersetzung in Notenskalen.

Wenn man den Google Assistant nach den erfolgreichsten Menschen der Welt fragt, erhält man eine Auflistung der reichsten Menschen der Welt. Erfolg wird mit Reichtum gleichgesetzt, weil Reichtum messbar ist. Auch bei Sportlern ist der Erfolg leicht messbar. Wie sähe aber eine Liste der erfolgreichsten Philosophinnen aus? Gesellschaftlicher Erfolg kann sehr unterschiedlich beurteilt werden und jeder von uns würde vermutlich eine eigene Definition dafür formulieren können, was einen erfolgreichen Menschen ausmacht. Die Gefahr besteht, dass das, was messbar ist, zur Richtschnur für Definitionen und Werte wird.[21] Der Erfolg von Bildung bemisst sich aber nach einem klugen Gedanken von Yasmin Weiß nicht nach Noten, sondern nach der Fähigkeit, Probleme der Zukunft lösen zu können. Da wir die Zukunft nicht kennen, ist erfolgreiche Bildung ein Versprechen in die Zukunft, das aus heutiger Perspektive alles dafür tun muss, zukünftig erfolgreiche Individuen heranzubilden. Und das sind keine «Sachbearbeiter von Arbeitsblättern» (Uta Hauck-Thum), sondern eigenverantwortliche Persönlichkeiten, die sich in der digitalen Gesellschaft im Sinne der 4K (vgl. Kapitel «Prüfungen in einer Kultur der Digitalität», ab S. 73) kompetent bewegen.

Die überbordende Orientierung am Testen, Messen und Bewerten («metric fixation»[22]) führt dazu, dass Lehrerinnen und Lehrer sich ihrer autonomen Möglichkeiten beraubt fühlen, gemeinsam mit den Lernenden die besten Lernmöglichkeiten zu kreieren.[23] Der Glaube an die Beobachtbarkeit und Messbarkeit von Leistung verstellt den Blick auf das, was den Lernenden nützen kann: «Not everything that can be measured can be improved – at least, not by measurement.»[24]

In den USA sind Lerntests auch ein Instrument zur Steuerung. Die Finanzierung von Schulen ist an die Ergebnisse bei Prüfungen geknüpft. Die Idee dahinter: Die Leistung von Lehrenden kann durch diese Anreize gesteigert werden, weil sie sich direkt auf ihr Gehalt auswirken. Dabei zeigen aber Untersuchungen[25], dass diese Maßnahmen nicht wirken. Das erstaunt nicht: Fast alle metrischen Anreize in Arbeitsumgebungen sind Fehlanreize: Sie führen dazu, dass Angestellte Vorgaben kurzfristig und lokal möglichst gut erfüllen, dabei aber oft langfristig und global Schaden verursachen. Zudem verschlechtern solche Steuerungsmechanismen das Arbeitsklima massiv.[26]

Die Idee, Lehrende über standardisierte Prüfungen zu steuern und zu motivieren, also die Leistung von Lehrkräften an die von Schülerinnen und Schülern zu koppeln, betrifft auch viele Schulen im deutschsprachigen Raum. Diese Testpraxis ist nicht nur unwirksam in Richtung des Lernens, sondern kontraproduktiv, denn sie beeinflusst den Geist der Schulpraxis in die Richtung, das Messbare zu fokussieren und Erfolg an vermeintlich messbaren Fortschritt zu binden. Das Instrument dieser Verknüpfung sind die Noten.

Gute Noten sind auch erreichbar, ohne die Sache besonders gut verstanden zu haben, sofern man nur die Testmechanismen besonders gut verstanden hat. Entkleidet man die Leistungsformate der Lernenden vom Notenmantel, so können ganz andere Produkte entstehen, die nicht ins Test-Maßband passen, die Leistung aber viel besser abbilden.

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