Kitabı oku: «Auf Gottes Wegen», sayfa 3

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Der Tag war nicht ganz klar gewesen; eine Unruhe war in der Luft, die Wolken jagten in anderer Richtung als der leichte Südwind. Es war mild und taute wieder. Die Wege waren jämmerlich, voll Schneeschlamm und Schmutz, besonders hier, in der Nähe der Stadt, war alles zu einem Brei zusammengetrampelt und -getreten.

Der Junge war noch nicht zehn Minuten unterwegs, als seine etwas dünnen Stiefel auch schon von Wasser vollgesogen waren. Na, das machte nichts! Schlimmer war es mit der letzten Brezel; denn satt war er nicht, nicht im entferntesten! Aber auch das machte nichts. Er würde Ole schon bald einholen; er war schneller zu Fuß, war beweglicher, und er legte ganz gehörig los. Wenn er ihn nur erst eingeholt hatte – in Ordnung bringen würde er die Sache schon, daran zweifelte er keinen Augenblick. Ole war verträglich, und er, Edvard, würde bei den Jungens für ihn eintreten; das zum mindesten war er ihm schuldig. Und ihm selber machte es überdies Spaß; er würde schon noch ein paar von den andern auf seine Seite bringen, und dann sollte es eine Schlacht setzen!

Doch als er eine ganze Viertelmeile gegangen war, ohne in diesem Matsch auch nur eine Spur von Oles Stiefeln, geschweige denn von ihm selber zu entdecken, als er sich gar eine halbe Meile vorwärts geschleppt hatte, durch die scheußlichste Unwegsamkeit, mit patschnassen Füßen, abwechselnd schweißtriefend und eiskalt, dann wieder halbtrocken und wieder schweißtriefend – dazu drohte Regen und Sturm, und die Landschaft war schauerlich einsam mit ihren langen öden Bergrücken und den dazwischenliegenden Wäldern – da sank sein Mut bedeutend.

Und dann – sonderbar! Nach der ersten Viertelmeile begegnete er keiner Menschenseele mehr. Spuren sah er genug auf dem Wege, von Pferden und Menschen und Hunden; alle liefen sie in derselben Richtung wie er, und die meisten waren frisch. Aber keine Menschenseele war zu erblicken, nicht einmal in den Gehöften; keinen Hund hörte er bellen, keinen Schornstein sah er rauchen; wie ausgestorben war alles. Eine leere Bucht nach der andern; vorspringende Bergrücken, durch Geröll oder Erdrutsche gebildet, trennten sie; immer wieder eine Bucht, und an jeder Bucht ein Gehöft oder mehrere, und ein Fluß oder ein Bach; aber nirgends ein Mensch. Ach, wie oft war der Junge schon einen kahlen Hang hinangeklettert und oben weitergewandert, bis er die nächste Senkung überschauen konnte, ohne Ole auf der Landstraße zu erblicken, ohne überhaupt eine Menschenseele zu erblicken! Er merkte wohl, er würde, ausgehungert und müde, bis hinaus nach Store-Tuft traben müssen. Das war fast eine Meile. Dann blieb er zu lange aus, der Vater würde es erfahren, es setzte dann doch Hausarrest und Verhör und Schelte und Schläge, vielleicht kam's auch gar noch vor den Rektor, und die ganze Geschichte ging noch einmal von vorn los … Er war dem Weinen nahe. Dieser verdammte Anders Hegge mit seinen lüsternen Fischaugen und seinem fetten Lächeln bei allem, was ihm behagte! Und die lauernde Freundlichkeit, das kitzliche Lachen, das Geklatsche – o pfui! So ein Scheusal! Und dafür mußte er hier mit schmerzenden Füßen, müde und verzweifelt, durch den Schmutz stapfen! Das also hatte seine entsetzliche Angst gestern abend bedeutet! Das war's gewesen!

Ach was, zum Teufel mit dem Geflenne und der Kopfhängerei! Einmal mußt du ja hinkommen, und Schläge hast du schon mehr als einmal gekriegt! Trallalla! Und er fing an, ein lustiges spanisches Lied zu singen, sang Vers für Vers – kam außer Atem – mußte langsam gehen, und erschrak doch, als er seine eigene Stimme nicht mehr hörte. Also ein neues Lied – und wieder einmal hinauf – den ganzen langen Steinhang.

Auch da kein Mensch, bloß Wagenspuren und Fußspuren von Erwachsenen und Kindern und Pferden und Hunden aus den Gehöften drunten. Alle vorwärts laufend. Was war denn los? Eine Feuersbrunst? Auktion? Dazu hätten sie nicht das Fuhrwerk mitgenommen. Vielleicht irgendwo ein Bergsturz? Oder ein großes Schiffsunglück gestern? Ach, ihm konnte das eigentlich gleich sein! Gerade, als er über den nächsten Bergrücken klettern wollte, der eine lange Nase in den Fjord hinausstreckte, sah er zum erstenmal Oles Spuren; da war er am Wegrand entlang gegangen; er kannte die eisenbeschlagenen Absätze, ebenso die Holzflecken unter jedem Fuß. Die Spuren waren ganz frisch; jetzt konnte Ole nicht mehr weit sein! Das gab ihm neue Kraft. Er lief wacker drauflos.

Ein hoher Tannenwald umfing ihn; alles war still. Als er beim Steigen mit Singen aufhören mußte, wurde ihm ganz unheimlich zumute. Je höher er kam, desto dichter wurde der Wald; der Schnee lag fester, Steine und Heidekrautbüschel guckten neugierig daraus hervor wie Tiere. Und dann raschelte es hier und knisterte es dort, und irgendwo schrie es; ein großer aufgescheuchter Vogel flog mit entsetzlichem Flügelschlag auf; der Junge suchte schweißtriefend nach Oles Fußtapfen, um sie nicht zu verlieren; die Angst von gestern war plötzlich wieder über ihm. Wenn er's doch über sich brachte, recht draufloszurennen! Wenn der Wald doch ein Ende nehmen wollte! Während der unverantwortlich langen Stille nach dem Auffliegen des Vogels hatte er schließlich das Gefühl: wenn jetzt bloß noch das winzigste Bißchen dazu komme, so würde er verrückt! Und der Hohlweg, durch den er mußte! Schon ganz von weitem starrte er hinein, zwischen die hohen, schwarzen Wände; als ob sie über ihm zusammenklappen wollten – sahen sie aus; von oben hingen ein paar unheimliche Bäume darüber und spähten lauernd hernieder. Als er endlich drin war, kam er sich wie die allerwinzigste kleine Ameise im Walde vor: wenn sie bloß stillständen, bis er vorüber war – wenn bloß keiner sich auf einmal von oben herunterbeugte und ihn beim Kragen packte, oder dicht vor ihm oder dicht hinter ihm sich fallen ließ – oder ihn anwehte … Er ging mit starren Augen – wie ein Nachtwandler; die Kiefernwurzeln zogen sich krumm und verwittert über den lehmigen Pfad hin … und alle lebten sie … Aber nein … Er tat, als merke er nichts …

Ganz fern, hoch oben in der Luft, flog ein Vogel nach der Stadt, aus der er kam … Ach! Wer auf seinem Rücken säße! So deutlich sah er die Stadt, die Schiffe im Hafen, hörte die frohen Weisen, das helle Ankerrasseln … das Dröhnen an den Brücken … den herzensfrohen Lärm und Spektakel … die Kommandorufe … Nanu … da hörte er ja wirklich Kommandorufe … Und eine Schiffspfeife … und noch eine … eine ganz derbe … Und Stimmen! … Jawohl … Stimmen … und dazu Pferdegewieher! Und Hundegekläff! Und wieder Stimmen und Stimmen! Er war aus dem Hohlweg heraus, – ganz kurz war der gewesen! – und zwischen den Bäumen hindurch schimmerte die See … und Schiffe … Was war denn das? War er denn wieder in der Stadt? War er im Ring herumgelaufen? Er war doch immer am Strand entlang gegangen! Er fing an zu rennen, in Sätzen – — Freilich, jetzt kannte er sich wieder aus! Ja, wahrhaftig, er war immer nur geradaus gelaufen! Und da öffnete sich der Wald … und die Bucht … die hatte er doch schon einmal gesehen? Und auch die Inseln erkannte er wieder … Er war auf dem richtigen Weg … nun war's nicht mehr weit bis Store-Tuft! … Aber was taten denn diese Boote da? Was bedeutete dies gleichmäßige, ununterbrochene Gelärm? Ein Fischzug! Hurra! Ein Fischzug! Mitten in einen Fischzug war er hineingeraten! Hurra! Hurra! Vorbei aller Hunger, alle Müdigkeit, alle Furcht! In langen Sprüngen setzte der Junge den Hügel hinunter.

Eins der Netze war eben an Land gezogen, eins stand ausgespannt im Wasser, eins wurde eben eingeholt. Von allen Seiten strömte es herbei. Aber es war Samstagabend, es hieß warten, bis zum Sonntagabend, um die unzähligen gefangenen Fische auszunehmen. Auf den ersten Blick hatte er das begriffen.

Der ganze Strand war voll Menschen, bis hinauf zur Straße, zu beiden Seiten, Leute überall, immer mehr Leute. Wagen und Schlitten durcheinander standen da, mit und ohne Fässer und Tonnen, Pferde vor- oder ausgespannt – Hunde zu Haufen; überall junges Volk, und Lachen und Lärm … Und draußen, in der Bucht, Boote um die Netze … die Netze, die eingeholt werden mußten, und ein Geschrei und ein Spektakel, und hoch in den Lüften ein Vogelschwarm, naseweise, kreischend, flügelflatternd – bis weit hinaus.

Der Himmel ward dunkler, der Dampferqualm machte die Luft noch düsterer und drohender, die nackten Inseln paßten zu dem heraufziehenden Unwetter: sie sahen aus, als seien sie eben erst emporgestiegen; die bewaldete Klippe weit draußen ragte geheimnisvoll, einsam im Regenschauer empor; die Dampfer rauchten und kreischten und fauchten und pfiffen um die Wette um sie her; die reinen Konkurrenten.

Die Männer stampften in Flößerstiefeln umher, Ölmäntel über ihrem gewöhnlichen Anzug; andere trugen – mehr nach Bauernart – Frieswams und Pelzmütze. Die Weiber, dicke Tücher über der gewohnten Kleidung oder in Männerröcke eingemummt, arbeiteten mit den Männern um die Wette beim Ausnehmen der Fische; der gewohnte stille Verkehrston war wie ausgewechselt.

Schon fielen vereinzelte schwere Regentropfen, die dichter und dichter wurden. Fast alle Gesichter, in die Edvard sah, waren durch und durch naß. Er wurde ordentlich begafft: ein schmächtiges Stadtjüngelchen, – in solch einem Treiben – leicht gekleidet – mit triefendem Gesicht – außer Atem, die dünne Pelzmütze platt an den Kopf angeklebt!

Aber wen sah er da vor sich? War das nicht Ingebret Syvertsen, der lange, schwarze Kerl, der mit Vater Kallem Geschäfte machte? Dort stand er nun und feilschte – lang und hager – in Öltuch gewickelt von Kopf bis zu Füßen. Der war tüchtig mit dabei gewesen! Wie Silberschimmer lag noch der Gischt über ihm! "Grüß Gott, Ingebret!" rief der Knabe froh. Der lange Kerl mit dem nassen Gesicht unter dem Südwester, einen großen herabhängenden Tropfen an der Nase, mit seinem dünnen schwarzen Bart und den drei Zahnlücken im Oberkiefer, erkannte ihn auch sofort und lachte; dann rief er: "Dein Vater ist auch unterwegs, Jung'! Zu Pferde!" – Irgend jemand sprach in diesem Augenblick Ingebret an; er drehte sich um, wurde ärgerlich und verwickelte sich in viele Worte; und als er sich wieder dem Jungen zuwandte, sah er ihn schon weit draußen, hinter dem ganzen Fischertreiben, auf der Straße.

Edvard war in hellem Schreck davongelaufen … und erst jetzt, auf der Straße, fiel's ihm ein – er lief ja dem Vater geradenwegs in die Arme. Ob er überhaupt Store-Tuft noch erreichen konnte, bevor er den Vater traf?

Aber – was sollte er tun? Gesehen hatten sie ihn, alle diese Menschen; und sie hatten ihn derart angestarrt, – sie würden's schon herauskriegen, wer er war! Und wenn der Vater vorüberkam, würde er's auch erfahren! Wozu also noch lange durchbrennen! Haue jetzt gleich – oder Haue später – das kam auf eins heraus. Fast wollte er wieder anfangen zu singen. Denn ärger als es war, konnte es doch nicht werden. Und wirklich – er setzte auch ein, und zwar die Marseillaise auf Französisch – die paßte just für einen, den Schläge erwarteten …! Hurra! Aber er war noch nicht mit dem ersten Vers zu Ende, als ihm auch schon das Herz in die Hosen sank. Die Stimme versagte, und auch der Takt, und alles hatte auf einmal eine ganz andere Farbe. Ach, und wie sauer ihm das Gehen wurde! Es regnete jetzt tüchtig. Der Gesang wurde zu abgerissenen Strophen, bis er ganz aufhörte. Die Gedanken des Knaben hatten sich verfangen in etwas, das er kürzlich in der Zeitung gelesen hatte: die Überschwemmung einer großen Kohlengrube in England. Die Menschen waren davongestürzt, so schnell sie nur konnten, und die Pferde hinter den Menschen her; dort unten wußten sie sich nicht selber zu helfen. Die armen Tiere! Ein Junge hatte sich retten können, und der erzählte, wie ein Pferd hinter ihm hergekeucht war; der Junge war hinaufgeklettert, das Pferd konnte nicht mit … Edvard sah das Tier ganz deutlich vor sich, den Kopf, die schönen glänzenden Augen, er hörte das Schnauben und Wiehern, und jedesmal machte es ihn ganz krank. In solchem Entsetzen sterben – das war etwas! Und all das sollte am jüngsten Tag wieder auferstehen! Was da wohl alles aus den Eingeweiden der Gruben und Eingeweiden der Erde hervorkommen würde! Weshalb sollten die Tiere nicht auch mit dabei sein? Sicher traten sie auch vor und wieherten und klagten die Menschen an! Du großer Gott, mußten das Anklagen werden! Und so viele – wenn man bedachte – von der Erschaffung der Welt an! Und wo waren sie alle zu finden? Auf der Erde und unter der Erde und – und die Wesen, die im Meer lagen, auf dem Grunde der See? Und die Geschöpfe, die wieder unter ihnen lagen? Denn an vielen Stellen war ja Land gewesen, wo jetzt See war. Ach ja!

Wie hungrig er war! Und nun fror ihn; er konnte nicht länger schnell gehen, und er war durch und durch naß.

Viel Ursache, sich nach dem Ziel seiner Wanderung zu sehnen, hatte er ja auch gerade nicht. Er kannte die neue Reitpeitsche nur zu gut; die alte hatte er selber aus der Welt spediert; aber hätte er gewußt, daß die neue noch schlimmer ausfallen würde – er hätte die alte vermutlich noch ein paar Jahre länger leben lassen. Au! Jetzt kribbelte es ihn auch noch unter den Nägeln, und seine Finger wurden steif. Und die Füße! An die durfte er gar nicht erst denken; dann würden sie nämlich noch schlimmer; horch, wie es in den Stiefeln klatschte! Er machte sich den Spaß, die Füße kreuzweise voreinander zu setzen; er wechselte von rechts nach links und von links nach rechts; aber es machte ihn nur müde. Immer zäher und zäher ging's, immer mühseliger wurde es; jetzt kam wieder eine Steigung. Himmel, war das nicht die letzte? Lag nicht Store-Tuft in der nächsten Senkung? Dicht am Fuß der Anhöhe? Natürlich, das war die Tuft-Niederung! Vielleicht kam er doch noch vor dem Vater hin? Und wenn es auch nur ein Aufschub war – es war doch immerhin etwas! Donnerwetter! Es war schon der Mühe wert, sich zu beeilen! In den Jungen kam neues Leben. Frisch drauflos!

Übrigens – der Vater war nicht bloß streng! Er war auch gut. Besonders, wenn Josefine zu Edvard hielt und ein gutes Wort für ihn einlegte. Und das würde sie schon, wenn Ole wiederkam; dann hielt sie sicher zu ihm. Sie würden versuchen, auch den Apotheker zu gewinnen. Er war furchtbar nett, der Apotheker, und es war auf alle Fälle gut, Hilfstruppen zu haben, so viel wie möglich. Herrgott, gab es denn nicht noch mehr …?

Da tauchte der rote Pferdekopf über der Hügellinie auf! Die großen Strohschuhe, die der Vater im Winter als Steigbügel benützte, standen zu beiden Seiten des Fuchsen ab wie die Tatzen eines Raubtieres. Der Junge wurde zu Stein und stand still.

"Rauen", der Fuchs, glotzte aus dem schweren, spanischen Sattelzeug heraus Edvard an; er traute seinen eigenen klugen Augen nicht. Dem Vater erging es augenscheinlich ebenso; denn sein runder Kopf in der grauen Wollmütze streckte sich weiter und weiter über den Pferdehals vor, bis er sich mit beiden Händen auf den Sattelknopf stützen mußte. Dieser pudelnasse Bursche mit dem Pelzklex auf dem Kopf – der dort, blaß und erschrocken, wie ein Gespenst mitten auf der Straße stand – war das der Junge, der um diese Zeit zu Hause sitzen und seine Aufgaben machen sollte, bevor er sich überhaupt rühren durfte? Am Samstag nachmittag? In solchem Wetter, bei solchem Schmutz, und so leicht gekleidet – hier draußen auf dem Weg nach Store-Tuft? Und das ohne Erlaubnis? "Hölle und Teufel, was treibst Du hier?"

Das Pferd blieb stehen; der warme Atem füllte die Luft rings um den Jungen und hüllte ihn in Nebel und einen unangenehmen Schweißgeruch. Edvard vermochte sich nicht zu rühren, wagte nicht zu antworten. Er starrte bloß durch den Nebel blöd und dumm zum Vater auf; zuletzt wußte er gar nichts mehr von sich.

Unverzüglich stieg der Vater ab, und gleich darauf stand er, die Zügel um den linken Arm, die Peitsche in der rechten Hand, vor ihm. "Was gibts, he? Woher kommst Du? Hölle und Teufel, wirst Du wohl antworten!"

Edvard glitt mechanisch weiter und weiter zurück; der Vater ihm nach; und ebenso mechanisch hob der Junge den rechten Arm, um das Gesicht zu schützen; den linken hielt er abwehrend vor sich ausgestreckt. "Wo willst Du hin?" – "Zu Ole Tuft." – "Was willst Du da? He? Ist Ole Tuft zu Hause?" – "Ja." – "Was willst Du bei ihm?" – "Ich will – ich will – —" – "He?" – "– ihn um Verzeihung bitten." – "Um Verzeihung? Nanu? Na? He?" – Und die Peitsche fuhr in die Höhe. Der Junge beeilte sich: "Er will nicht mehr in die Schule kommen." – "So? Eklig gegen ihn gewesen? He? Und Du an der Spitze? He?" – "Ja." – "Also Deine Schuld, was? He?" Er kreischte. – "Ich hab' 'rausgekriegt —" Der Junge stockte. – "Was?" – "– — daß er … daß er …" Er fing an zu weinen. "– He?" – "… daß er Kranke pflegt." – "Und hast's weitergesagt, he? Gepetzt? He?" Edvard getraute sich nicht zu antworten, und nun begann die Peitsche eklig zu werden. Beide Arme des Jungen gingen im Takt mit der Peitsche auf und nieder, unsicher, wohin sie zielte. Er wich immer weiter zurück. "Stillgestanden!", schnarrte es. Statt dessen sprang der Junge mit einem Satz bis unmittelbar an den Rand des Straßengrabens. Zornig hob der Vater die Peitsche; das Pferd hinter ihm erhielt, ohne daß er es wußte, einen tüchtigen Hieb und zerrte so heftig, daß der Vater fast umgerissen wurde. Edvard vermochte beim besten Willen der überwältigenden Komik dieser erlösenden Unterbrechung nicht zu widerstehen; er fing schallend zu lachen an, erschrak aber gleich, als er es selber hörte, so unsinnig, daß er über den Graben wegsprang und in den Wald hineinrannte. Sobald er dem Vater den Rücken gedreht hatte, konnte er sich nicht mehr halten, er mußte wieder lachen, und wußte das durch nichts Besseres zu verdecken als durch ein lautes Geheul.

Die Verachtung des Vaters für den Jungen war grenzenlos. Er selber wurde dadurch ganz kaltblütig, brachte das Pferd zum Stehen und schwang sich in den Sattel. "Komm!" sagte er ruhig und wies mit der Peitsche nach Store-Tuft. Weitere Abrechnung folgt, wenn wir dort sind! dachte der Junge.

Er gehorchte selbstverständlich und kam eiligst – bis auf einen gemessenen Abstand vom Pferd. – Und diesen Abstand hielt er auch unverändert ein. Das Pferd schritt schnell aus, so daß es nicht ganz leicht war.

Und nun jagte der graue Mann auf dem roten Pferd den Sohn erbarmungslos vor sich her durch den Schneeschlamm, trotzdem die Füße des Jungen wundgelaufen waren – man sah es an der Art, wie er sie setzte; trotzdem er erfrorene Hände hatte – er steckte sie ab und zu in den Mund; trotzdem er bis auf die Haut durchnäßt sein mußte – die Pelzmütze klebte am Kopf wie ein Waschlappen! Der graue Mann selber saß trocken, in warmen, wasserdichten Kleidern, da, in der Hand die Peitsche, mitten im Gesicht den großen Riecher, daneben zwei funkelnde Augen. Niemand, der den Aufzug gesehen, hätte ahnen können, daß dieser gestrenge Herr keinen höheren Wunsch hegte, als den Jungen, den er da so wütend vor sich hertrieb, lieben zu können.

Aber um einen Menschen lieben zu können – dazu gehört, daß er so ist, wie wir wolle – nicht wahr? Und wenn nun das der Junge nicht wollte? Und wenn Kallem an Mißgeschick nicht gewöhnt war? Das erste ernstliche Mißgeschick, das ihn betroffen hatte, war der Tod seiner Frau gewesen, und ganz kurze Zeit darauf kam das mit dem Jungen. Bis dahin hatten sie alle im Ausland gelebt, Kallem in Frieden mit seiner Frau, seinem Geschäft und seinem Sport und seinen stillen Büchern – er war nämlich ein eifriger Leser; nichts hatte ihn je gestört oder geplagt. Das Geschäft besorgte der Bruder seiner Frau; es ging ausgezeichnet; das Haus besorgte seine Frau, ebenfalls ausgezeichnet. Alles ging ohne Störung oder Sorge, genau so, wie es gehen sollte – bis zum Tode der Frau.

Aber dann!

Weder er noch andere konnten anfänglich die unerwartete Veränderung begreifen, die mit ihm vorging. Manche meinten, der Verlust seiner Frau habe ihn verrückt gemacht; er selber meinte, das spanische Klima sei zu warm für ihn; er müsse fort, er müsse nach Hause. Der spanische Geschäftsführer stimmte sofort bei; es war nämlich eine ganz ausgezeichnete Spekulation, das Hauptgeschäft nach Norwegen zu verlegen und in Spanien eine Filiale zu unterhalten. So brachen sie denn auf – vor nunmehr etwa einem Jahr.

Aber der Junge, der schon in Spanien schuld war, daß der Vater das erstemal sich vergaß – übrigens auch ein zweites, und unglücklicherweise ein drittes, viertes, fünftes, sechstes Mal – immer war's der Junge!– brachte ihn leider auch in Norwegen aus dem Gleichgewicht. Im warmen wie im kalten Klima – der Junge war immer gleich eklig!

Bald kamen auch aus der Schule Klagen über ihn; dann aus der Apotheke, wo sie bei Kallems altem Freund zur Miete wohnten; dann von den Leuten, von den Nachbarn, von den Landungsbrücken. Vielleicht mußten auch andere Eltern Klagen anhören über ihre Jungens; vielleicht waren die Leute in dieser Gegend überhaupt schnell mit Klagen bei der Hand; davon wußte Kallem nichts; er war eine Einsiedlernatur. Soviel aber wußte er: sein Sohn war der begabteste Junge in der Schule; das versicherte ihn ein Lehrer nach dem andern; er wußte ferner, daß es dem Sohn auch im übrigen an nichts fehle, weder an Gemüt noch an Willen; nur – er war so gleichgültig und selbstzufrieden, mochte sich immer nur amüsieren, mochte in alles, was ihn nichts anging, seine Nase stecken, war gleichzeitig dreist und doch feig, ein schändlicher Spottvogel und grenzenlos unartig. Einen Engel im Himmel konnte es um die Geduld bringen; und nun gar Kallem, der überhaupt keine Geduld hatte.

Dieser schmächtige, geschmeidige Krabat, der da mit feigen Seitenblicken auf das Pferd und die Peitsche vor ihm herhinkte, hatte den Unfrieden in seines Vaters Leben gebracht. Nicht allein, daß er ihn im tiefsten Innern unsicher gemacht hatte, nein, er hatte ihn bisweilen seine Ohnmacht fühlen lassen – bis zur Hilflosigkeit; in solchen Augenblicken hätte er den Jungen am liebsten in Stücke geschlagen.

Dann wieder konnte er ihn vornehmen, konnte drohen, flehen. Noch in dieser letzten Sturmnacht hatte er ihn ins Gebet genommen, hatte mit den eindringlichsten Worten die schmähliche Angst des Knaben zu bannen versucht, hatte ihn ermahnt, ihm durch Erzählungen aus der Naturgeschichte erklärt, wie alle Prophezeiungen vom Untergang der Welt nur Erfindungen seien, Lügen… Der Junge antwortete: "Hm" und "Ja" – und glaubte kein Wort von allem, was der Vater sagte! Sobald das Unwetter losbrach, war er wie verrückt gewesen – und auf und davon in der jammervollsten Todesangst! Und heute trifft er ihn hier, auf offener Landstraße, eine Meile vor der Stadt, in Regen und Wind und Schmutz – selbstverständlich ohne Erlaubnis! Erst verunglimpft er den bravsten Jungen der ganzen Schule, einen kleinen Kerl, über den Kallem sich manch liebes Mal gefreut und den er oft mit ein paar Groschen bei seiner kleinen Mission unterstützt hatte, wenn Josefine ihm davon erzählte; – und obendrein…

"Sieh mal an! Hölle und Teufel! Ob er nicht zu allem hin noch lacht!" dachte er, während er dabei tat, als sehe er es nicht. Und worüber eigentlich? Na ja, über das Pferd da hinter ihm, mit "Hölle und Teufel" auf dem Rücken – und die Peitsche – und die gleichmäßigen schweren Tritte im Schneeschmutz: schwapp-schwapp – — schwapp-schwapp – — schwapp-schwapp! Und das alles wuchs nach und nach ins Maßlose, wuchs an, bis es zu einem ungeheuren, formlosen, verzerrten Etwas wurde … Der Junge versuchte hastig, an etwas anderes zu denken, – er stürzte sich kopfüber in die englische Steinkohlengrube, die sich mit Wasser füllte – er suchte das Pferd, das hinter dem Jungen herkeuchte. Aber er kam nicht bis zur Grube hinunter; nichts als die helle Landstraße und "schwapp-schwapp – schwapp-schwapp" – und Hölle und Teufel, und die Peitsche, und er selber an der Spitze, auf anderthalb Beinen – hi-hi-hi!

"He?" schrie es hinter ihm.

Der Laut rieselte dem Jungen den Rücken hinunter wie ein spitzes Stück Eis. Unfern sah man jetzt Store-Tuft.

Dicht am Fuß der Böschung lag es, die sie eben hinab mußten. Es bestand aus ziemlich vielen Gebäuden, deren Mehrzahl im Viereck den Hof umgab. Auf der andern Seite lärmte der Fluß, mit Mühle und Sägwerk. Die Inseln draußen und die Landspitzen zu beiden Seiten schlossen die Bucht so völlig ab, daß das Meer ganz still lag, wie ein Teich mit vereisten Rändern. Am Strand lag eine Reihe von Bootsschuppen. Um sämtliche Gebäude Obstgärten, zum Teil recht ansehnliche.

Aus dem Wohnhaus von Store-Tuft stieg Rauch auf – endlich! Dort kochte die Mutter das Mittagmahl für Ole. Und Hunger und Kummer und Entbehren wurden übermächtig in dem Knaben, und vor lauter Sehnsucht nach einer warmen Stube und trockenen Kleidern und Heimweh nach seiner Mutter und der Heimat in Spanien hätte er fast wieder zu weinen angefangen. Aber dann dachte er daran, wie der Vater wieder sagen würde: "Hölle und Teufel! Jetzt flennt er!" Und da bezwang er sich.

Ängstlich blickte er nach dem Hof.

Das Wohnhaus lag mit der Langseite nach dem Garten zu – ein rot angestrichener, zweistöckiger Holzbau mit weißen Fensterrahmen. Dahin steuerten sie, der Knabe immer voran, der Vater hinterdrein.

An der Giebelseite vorbei gelangten sie in den Hof; gegenüber lagen die Ställe für das Vieh – Schafstall, Kuhstall, Pferdestall – alles unter einem Dach. Die Gebäude waren ganz neu und lagen rechtwinklig zur Scheune; gegenüber der Holzschuppen und die anderen Wirtschaftsgebäude. Auf dem Hof standen Ziegen und knabberten Tannennadeln, umschwärmt von Spatzen in unglaublichen Mengen; die Versammlung fand unmittelbar vor der Kornscheuer statt.

Jetzt erblickten die Ziegen die Ankömmlinge. Sie hoben die Köpfe und streckten die Hälse, alle auf einmal, Augen gespannt, Ohren gespitzt, starr, den letzten Bissen unbeweglich im Maul, neugierig bis aufs äußerste. Bloß der Bock kaute weiter, während er den beiden schwerfällig und gleichmütig entgegensah. Der Spatzenschwarm schwirrte geräuschvoll davon.

Zwischen der Giebelseite des Hauptgebäudes und dem Stall hielt der Vater und stieg ab. Der Junge war schon drin und begaffte das Scheunendach, das beschädigt war und eben ausgebessert wurde; Arbeiter waren jedoch nicht zu sehen. Wahrscheinlich waren sie kurz vorher mit auf den Fischzug gegangen; die Leiter stand noch auf ihrem Gestell gegen die Scheune gelehnt. "Halt!" rief der Vater. Und der Junge blieb stehen und wandte sich um. Der Vater war dabei, "Rauen" an einem Schleifstein festzubinden, der an der Giebelwand des Hauptgebäudes lehnte. Der Junge sah zu. "Merkwürdig, wie ruhig er jetzt ist!" dachte der Vater. Er trat vor und deutete mit der Peitsche nach der großen Steinschwelle vor dem Hauseingang; dahin sollte der Junge vorangehen. Das tat er denn auch. Erst kam er an einem Gitterschlitten vorbei; zwei Kätzchen spielten zwischen den Sprossen, eins innen, das andere außen. Die Fenster, an denen sie vorbeikamen, gingen so tief herunter, daß sie durch die ganze Schlafstube, die auf der andern Seite ebenfalls Fenster hatte, und dann ebenso in die Wohnstube sehen konnten. Da saß Ole, in einem weißen Hemd, das ihm bis auf die Füße reichte, am Herd mit hochgezogenen Beinen; neben ihm stand, über ein paar Töpfe gebeugt, die Mutter. Mehr zu sehen hatte Edvard nicht Zeit. Er stieg über die Schwelle und hinein in den Flur, aus dem ihm ein herber Fischgeruch, alter und frischer, und ein Geruch von etwas, was er nicht kannte, entgegenströmte. Wieder deutete der Vater voran – nach rechts; auch links war eine Tür, eine feingemalte mit einer Messingklinke; da sollte er nicht hinein. Na, dachte der Junge, soviel hätt' ich auch gewußt, daß wir irgendwohinein wollen, wo Menschen sind, und nicht in die kalte Gaststube! Er legte seine steifen Finger auf die Klinke und drückte.

Der Herd war in der Ecke links, dicht an der Tür. Und große Augen machten sie, die zwei, die da saßen! Oles Krauskopf guckte nur eben aus Vaters blauweißem Leinenhemd heraus. Die Mutter war ziemlich hochgewachsen und hatte feine Züge. Sie trug eine schwarze Haube. Das blonde, mit Wasser glattgekämmte Haar schmiegte sich um die Wangen, wodurch ihr Gesicht lang erschien. Sie richtete sich von ihren Töpfen auf und wandte sich den Eintretenden zu, die sie alle beide kannte. Ihr Gesicht war ernst, doch freundlich; ein bißchen ängstlich schien sie, oder unsicher; die Augen wollten anfangs auf keinem der beiden so richtig ruhen. Oles Stiefel standen am Herd; seine Kleider samt Hemd und Strümpfen hingen an einer Stange, die zwischen den Dachbalken befestigt war, zum Trocknen; auf dem andern Gestänge lag Holz und allerlei sonst. Ringsumher Hausgerät und Geschirr, wie immer am Werktag.

Die Stube war nicht gemalt, sondern vertäfelt; unter den Fenstern zu beiden Seiten liefen rotgestrichene Bänke entlang; in der Ecke links, auf der andern Seite des Fensters, stand ein Tisch mit einem Bücherregal darüber; am Tischende, gleich neben der Kammertür, hing die Schlaguhr; sie ging so gleichmäßig und unbekümmert, als sei der Unfriede niemals über diese Schwelle gekommen. Draußen sah Edvard die Kätzchen im Schlitten; das eine mit der Pfote von innen durchs Gitter heraus-, das andere von außen hineingreifend. Und unmittelbar vor sich Oles Gesicht. Ole lächelte; denn auch ihm war bang zumute. Aber die Töpfe!

Die Töpfe, die waren doch das Allerbeste, dachte der verhungerte und durchfrorene Edvard. In dem einen kleinen waren Kartoffeln; die waren schon fertig. Aber zwei hingen noch überm Feuer. Ob Fisch war in dem einen? Und im andern – —?

Die Mutter war verlegen; sie wußte nicht, was anfangen. Da standen sie, unbeweglich, der barsche Mann und der Junge. Gerade als sie die beiden zum Sitzen auffordern oder irgend sonst etwas sagen wollte, da ergriff der Vater das Wort. Sie werde ja wohl wissen, was geschehen sei – he? Der Bengel komme und wolle um Verzeihung bitten und sich seine Strafe holen. Das sei notwendig; denn er sei ein böser Junge, bei dem nichts nütze, als Strafe; im Guten sei bei ihm nichts auszurichten.

"Ach – aber – so schlimm ist es doch nicht!" sagte die Mutter mild. Ihr war ganz angst, und Ole wurde so bläulich bleich wie sein Hemd. – "Doch! Er soll seine Haue haben! Aber erst bittest Du um Verzeihung! Und zwar auf der Stelle – das rat' ich Dir!" – Ole fing zu weinen an. Edvard nicht. Ole konnte nicht mehr sitzen bleiben. Er stand auf und sah die Mutter an. "Da – —" sagte er. Weiter brachte er nichts heraus. Aber man sah, was er meinte: sie sollte sich ins Mittel legen.

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