Kitabı oku: «Auf Gottes Wegen», sayfa 6

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Zweites Paar vor!

Im März des folgenden Jahres, just als Edvard Kallem vor seinem zweiten medizinischen Examen stand, kamen plötzlich Dinge, die ihn auf ganz andere Art in Anspruch nahmen.

Und das müssen wir jetzt berichten.

In der Zeit, als seine zusammenhangslosen naturgeschichtlichen Studien mehr und mehr sich um die Physiologie kristallisierten, war unter allen Physiologen der tüchtigste ein junger Student der exakten Wissenschaften, Tomas Rendalen. Er war etwas älter als Edvard Kallem, und weil es an und für sich merkwürdig war, daß ein Nicht-Mediziner in diesem Fach Hervorragendes leistete, fiel er allen auf, und somit auch Edvard Kallem, ohne daß dieser sich darum näher an ihn angeschlossen hätte. Rendalen gehörte auch keineswegs zu denen, die für den ersten besten zu haben sind.

Erst später, eigentlich erst jetzt, nach Neujahr, als sie mit demselben Dampfer aus den Weihnachtsferien nach Kristiania zurückfuhren, kam es zu einer Art Annäherung. Aber das erstemal, als Kallem Tomas Rendalen in seiner Wohnung aufsuchte, blieb er auch gleich die Nacht über. Und ein paar Abende darauf, als Rendalen ihn besuchte, wanderten sie zwischen ihren beiden Wohnungen, die übrigens ganz nah beieinanderlagen, auf und ab, bis morgens gegen drei oder vier. Ein so genialer Mensch war Edvard Kallem seiner Lebtag noch nicht unter die Finger gekommen; und Rendalen seinerseits kam eines Morgens, noch ehe Kallem nach der Klinik gegangen war, dahergestürzt, bloß um zu erklären, von all seinen Freunden und Bekannten sei Kallem ihm der liebste.

Rendalen war eine ursprünglichere, kraftvollere Natur als Kallem; er war eine Mischung von Zahm und Wild, von Leidenschaft, Schwermut, Musik, voll hoher Mitteilungsfähigkeit, aber mit verschlossenen Kammern, die sich selten oder nie öffneten. Eine grenzenlose Energie – und dabei manchmal so von aller Kraft verlassen, daß er überhaupt nicht mehr weiter konnte; die ganze Maschinerie in Unordnung, als wenn ein Rad gesprungen wäre. In der ganzen Charakterlandschaft nicht eine gerade Linie – lauter Unebenheiten, und doch über allem das Licht eines großen Geistes. So unberechenbar die Schwankungen waren, so unangenehm die Enttäuschungen – die ganze Persönlichkeit war in ihrer Unmittelbarkeit, ihrer Geradheit so gewinnend, daß man ihn lieben mußte.

Sein ganzes Denken ging auf Schulwesen und Erziehung, und darin wiederum auf den einen Kern: jedes Kind über das "gefährliche Alter" wegzubringen, das auf so ganz ungleiche Art sich äußere. Manche gingen daran zugrunde; manche trügen Wunden davon, die erst spät heilten; die mit gesundem Geblüt, unter besseren Verhältnissen Aufgewachsenen, könnten heil ausgehen; aber jedenfalls seien sie in der Minderzahl. Alle Erziehung, aller Unterricht müsse sich auf das eine Ziel konzentrieren: einen sittlichen Menschen zu schaffen. Das war sein A und O.

Unermüdlich war er im Vortrag seines Unterrichtplans, seiner Behandlungsweise; im Beschreiben der Schuleinrichtung und des Zusammenarbeitens mit der Familie. Seine Mutter war Vorsteherin einer weithin bekannten Mädchenschule an der Westküste, und die wollte er übernehmen, um seine Pläne ins Werk zu setzen. Sein großes Ziel war die Simultanschule – Knaben und Mädchen zusammen. Aber erst hieß es, den Unterricht in allen Hauptfächern reformieren, und zwar so, daß die Fächer leichter gemacht wurden, und nicht bloß zugänglich für die Begabtesten. Und das wollte er an der Mädchenschule ausprobieren.

Er besaß eine nicht unbedeutende Sammlung von Schulmaterial aus Amerika und vielen europäischen Ländern, einen Schatz, den er unablässig vermehrte. Auch eine ganze Bibliothek von Schulliteratur nannte er sein eigen. Er wohnte mit einem Kandidaten der Theologie, Vangen, zusammen, der zu Weihnachten fertig geworden war und sich jetzt auf das praktische Examen vorbereitete. Alle drei Zimmer, die sie gemeinsam bewohnten, waren angefüllt mit Rendalens Sammlungen und Bibliothek.

Sein Äußeres war auffallend. Rotes, ins Blonde hinüberspielendes Haar, das starr in die Höhe stand, Sommersprossen, blinzelnde graue Augen unter weißen, kurzhaarigen Brauen, die kaum zu sehen waren, die Nase breit und leise aufwärts strebend, der Mund zusammengekniffen; kurze, sommersprossige Hände, jeder Finger voll Energie; nicht groß, aber vorzüglich gebaut; sein Gang, auf auswärts gerichteten Füßen, war leicht, als gehe er auf Tasten. Er war der erste Turner, wohin er auch kam, und bei jeder Gelegenheit hing er an den Turnseilen. Auch Edvard, der immer gern geturnt hatte, wurde durch ihn zu dreifachem Eifer angespornt; denn Rendalen besaß, wie kein zweiter, die Fähigkeit, andere für das, was er selbst liebte, zu gewinnen. Seine Hauptleidenschaft in dieser Zeit war, auf den Händen zu gehen; und gerade das konnte Kallem zum Entzücken; dies setzte vielleicht der Achtung, die Rendalen vor ihm hatte, die Krone auf.

Sie hatten viele Berührungspunkte. Beide waren Spezialisten, beide bedeutend in dem, was sie sich als Ziel gesteckt hatten; modern in ihrem Denken, voll reformatorischen Mutes, beide zum äußersten auf ihre Person bedacht; beide kleideten sich mit Geschmack, – Rendalen legte sogar übertriebenen Wert darauf. Beide hatten jenes lebhaft-wechselnde Spiel der Gedanken, das schon errät, wenn erst die Hälfte gesagt ist. Beide ergänzten sich gegenseitig in ihrem Wissen. Rendalen war musikalisch, war ein Meister auf dem Klavier und sang recht gut. Kallem sang noch besser, und Rendalen feuerte ihn immer mehr an.

So herzlich sich auch Rendalen im einzelnen und dem einzelnen hingab – er hielt sich gleichzeitig immer in einer gewissen Distanz, über die niemand hinwegkam. Er liebte seinen Pflegebruder Vangen; aber gerade an Vangen sah man recht eigentlich, daß immer eine bestimmte Scheidewand da war. Auch darin begegnete Kallem Rendalens Bedürfnis; er hatte ebenfalls diese Unnahbarkeit, bei aller Hingabe.

Daneben gab es aber auch genug Ungleichheiten, die das Verhältnis einerseits frisch erhielten, andrerseits erschwerten. Die Schwierigkeiten kamen fast alle auf Rendalens Konto; Kallem war geschmeidiger und fügsamer. Wenn Rendalen gerade einmal Lust hatte, so spielte er stundenlang Klavier, spielte, als ob überhaupt niemand im Zimmer sei; man konnte ebensogut gleich gehen. Überhaupt war er es, der bei jedem Zusammensein den Ton angab. Er war launisch und hatte lange Schwermutsperioden, wo nur selten jemand ein Wort aus ihm herausbrachte. Eine ungeheure Arbeitskraft, wenn er mit etwas beschäftigt war, das seine Seele gefangen nahm, und dann gab er allen den Laufpaß. War er aber in der mitteilsamen Laune und so recht "in Stimmung", so war die ganze Luft um ihn herum mit Elektrizität geladen.

Das medizinische Studium war für Kallem jeden Tag eine neue Entdeckung, und bei ihren gemeinsamen physiologischen Studien trugen sie einander getreulich alles zu – jeder von seiner Seite. Im Januar und Februar waren sie fast jeden Abend zusammen, wenn nicht sonst, so doch sicher von sechs bis sieben in der Turnhalle. Meist aßen sie hinterher zusammen, am liebsten bei Rendalen, der ein Klavier hatte.

Anfang März kam Rendalens Mutter auf Besuch. Sie wohnte bei den Wirtsleuten des Sohnes, die vor kurzem erst nach der Stadt gezogen waren: ein blinder Mann aus Nordland, der noch dazu auf einer Seite gelähmt war, und eine außerordentlich musikalische Frau, ganz jung, fast noch ein Kind – die seltsamste Ehe, die man sich denken konnte. Rendalen sprach oft von ihnen. Solange die Mutter des Kameraden in der Stadt war, hielt Kallem sich fern. Jedesmal, wenn sie vom Turnen kamen, merkte er, daß Rendalen seine Begleitung nicht wünsche. Aber auch, als die Mutter nach acht Tagen abgereist war, blieb es dabei; entweder turnte Rendalen länger als Kallem, oder er ging nach den ersten paar Übungen gleich wieder weg; er wünschte offenbar nicht, daß Kallem ihn begleiten solle. Wahrscheinlich hat er wieder seinen Schwermutsrappel! dachte Edvard.

Aber eines Vormittags, als Kallem etwas früher als gewöhnlich nach Hause gekommen war – in der Regel war er den ganzen Vormittag fort – hörte er draußen läuten. Das Mädchen öffnete, und Rendalens Schritt erklang im Vorzimmer. Er trat hastig ein, – finster, wortkarg. Er habe ein Anliegen: ob Kallem nicht die Wohnung mit ihm tauschen wolle.

Kallem kannte ihn zu genau und war zu gutmütig, um sich irgendwelche Verwunderung anmerken zu lassen; er fragte auch gar nicht nach dem Grund, sondern sagte bloß, seine beiden kleinen Zimmer würden wohl schwerlich für Rendalens Sammlungen und sein Klavier ausreichen. Und Vangen? Oder wolle er nicht länger mit Vangen zusammenwohnen? Doch, freilich! Aber neben Kallems zwei Stuben sei ein großer Saal, auf den er, Rendalen, es schon längst abgesehen habe; die Wirtin würde ihn gern vermieten. Und ihm passe er gerade. Allein schon Klavier zu spielen in diesem Saal! – "Hast Du bereits mit der Wirtin darüber gesprochen?" – "Nein; das will ich jetzt." Und damit war er hinaus. Dann kamen beide, er und die Wirtin, wieder herein. Und wenige Minuten später war alles abgemacht. Schon am Nachmittag wurde der Umzug bewerkstelligt. Als der wackere Vangen auf seinen langen Beinen vom Mittagessen nach Hause kam, saß Kallem im ersten Zimmer rechts neben der Korridortür in Schlafrock und Pantoffeln und erzählte ihm, Rendalen wohne jetzt in der Sehestedsstraße, in Kallems früherer Wohnung; sie hätten getauscht. Beide lachten.

"Und dabei gefiel es ihm hier so gut!" sagte Vangen. Das war aber auch das einzige, was er sagte.

Kallem dachte natürlich über die Ursache dieses hastigen Umzugs nach und hatte auch die Absicht, sich jedesmal einen ausführlichen Schwatz mit dem Mädchen zu leisten, wenn es kam, um nach dem Ofen zu sehen oder ihm Frühstück und Abendbrot zu bringen, das er im Hause einnahm. Sie sah aus, als wisse sie etwas. Marie hatte ein eigentümliches Lächeln, ungefähr als wenn sie sagen wollte: "O – ich durchschau' Euch alle miteinander – auch Dich, Du Schlauberger!" Gleich als sie ihm zum erstenmal die Tür aufmachte, hatte sie dieses Lächeln. Ihre Augen waren bis über die Hälfte verhüllt von den Lidern, die in einer hängenden Falte darüber lagen. Die Nase war platt und aufgestülpt und zog beim Lachen den Mund wie an zwei straffen Bändern in die Höhe, daß die Oberlippe vorstand und eine Reihe Zähne zeigte, die sich um den Platz zu streiten schienen; sie blitzten mit dem Lächeln um die Wette. Alles, was sie sagte, hatte einen Unterton von Schelmerei und Spottlust; unter den Lidern schoß es hervor, in den Mundwinkeln spielte es. Dabei eine weiche Stimme. Im übrigen ein kerniges Mädel, gut gebaut, klug wie der Teufel und trotz ihrer lachlustigen Kritik zurückhaltend und vorsichtig in Worten und Benehmen. Aber das Lachen lag immer auf der Lauer. Als er sagte: "Mein Name ist Edvard Kallem – ich werde in Herrn Rendalens Zimmern wohnen!" antwortete sie lächelnd: "Oh!" – als kenne sie alle seine Geheimnisse von Kindesbeinen an. Erwähnte er Rendalen irgendwie, so sah sie aus, als wisse sie einen ganzen Haufen lustiger Geschichten von ihm; aber trotzdem – zum besten gab sie nichts.

Das Haus, in dem er jetzt wohnte, war ein Eckgebäude, schräg gegenüber der Universität. Die Haustür ging auf die Straße, an der auch Kallems Zimmer gelegen waren. Sie lagen im zweiten Stock, auf demselben Korridor wie die Wohnung der Wirtsleute, d. h. das eine Zimmer – das andere, sein Schlafzimmer, lag außerhalb mit eigenem Eingang. Rendalen hatte noch ein drittes Zimmer gehabt, das Eckzimmer weiter drinnen. An der Korridortür befestigte Kallem seine Visitenkarte, unter einem großen Schild, auf dem "Sören Kule" stand; das war der Name des Wirts. Tags darauf, an einem Sonntag, machte er seinen Antrittsbesuch.

Der blinde, gelähmte Mann saß in einem großen Rollstuhl. Er war noch jung, der Unglückliche, kaum über dreißig, von übermäßig dicker Gestalt, mit schweren Gesichtszügen und schwerer Zunge. Schon sein: "Herein!" auf Kallems Klopfen klang schwerfällig. Kallem nannte seinen Namen. Der andere saß da, ohne sich zu rühren und antwortete langsam: "So, so! – Ich bin nämlich blind. – Und kann mich auch nur wenig bewegen." Er sagte es mit nordländischem Tonfall. Die einzelnen Silben kamen wie das plumpe Trotten von Londoner Bierbrauerpferden heraus. Die Gesichtszüge waren, trotz ihrer Fülle, scharf geschnitten und klar; es war augenscheinlich Rasse in dem Mann. Kallem war Mediziner genug, um auf der Stelle zu erkennen, was die Ursache seiner Blindheit und Gelähmtheit war. Verschiedene Stahlstiche, Holzschnitte und Photographien von Spanien an den Wänden brachten ihn auf den Gedanken, daß er vielleicht von dort das Geschenk mitgebracht hatte, mit dem das galante Völkchen da unten so freigebig ist.

"Bitte, nehmen Sie Platz!" ertönte es endlich wieder. In die bewegliche Seite des Körpers schien eine Art Leben zu kommen, während er den Kopf nach einer Tür links wandte. "Ragni!" Niemand antwortete; niemand kam. Die Stille färbte sich grau vor seiner Stimme, seinem gleichgültigen Wesen, seiner schwerfälligen Ruhe. Kallem sah sich um. Wahrhaftig – da lagen Kinderspielsachen! War es ihm nicht, als habe er Kinderstimmen gehört? Hier waren Kinder? "Ragni!" dröhnte es noch einmal, langsam. Dann – leiser: "Sie wird in der Küche sein und das Essen richten!" Wieder dieselbe graue Stille. Schellengeläut von der Straße her zerriß sie einen Augenblick; dann zog sie sich um so lastender wieder zusammen. Die Möbel waren – für eine kleine norwegische Stube im Winter – zu schwer und zu dunkel; auch waren sie zerschlissen und verblichen. Die Kupferstiche und Photographien hingen in großen Rahmen, die nicht dicht schlossen, so daß Staub und teilweise Feuchtigkeit das Papier verdorben hatten. Nur das Kinderspielzeug und der Flügel hoben sich von dem andern ab; der Flügel schien ganz neu zu sein und stammte von der besten Pariser Firma – augenscheinlich ein Konzertflügel. "Die gnädige Frau spielt so gut – habe ich gehört?" – "Ja." – Kallem wußte, daß sie sich von Kind auf für die Musik ausgebildet hatte, und – um etwas zu sagen – griff er dies Thema auf. "Sie hat auf dem Konservatorium in Berlin studiert, nicht wahr?" – "Ja!" – Im Zimmer rechts, das an das Eckzimmer stieß, wurden Stühle gerückt. Kallem griff dies Thema auf. – "Ich bekomme im Eckzimmer einen Nachbarn, wie ich höre?" – "Ja." – "Ein Verwandter von Ihnen?" – "Ja, eine Tante." – Wieder wandte Sören Kule den Kopf nach links und rief gleichgültig: "Ragni!" Niemand antwortete, niemand kam. "Mir war, als hörte ich draußen jemand gehen", sagte er, wie um sich zu entschuldigen, daß er gerufen hatte. Kallem stand auf und verabschiedete sich.

Einige Tage später gab er Rendalen eine humoristische Schilderung dieses Besuchs. Rendalen lachte. Er selber sei nur selten dort gewesen; aber er habe viel gehört von "Sören Kule". Er versicherte, seinetwegen möge den Kerl der Teufel holen – er habe nicht die geringste Lust, über ihn zu sprechen. Und er setzte sich ans Klavier und spielte.

Wieder einige Tage später – wem begegnete Kallem draußen im Korridor? Wem anders, als seinem zukünftigen Schwager, Herrn Ole Tuft – Kandidaten der Theologie und zurzeit in Kristiania, um sein Schlußexamen zu machen. Große Wiedersehensszene! Der eine hatte keine Ahnung von Kallems Umzug, der andere keine, daß Ole Tuft im Hause verkehre. Kallem lud ihn ein, mit ihm auf sein Zimmer zu kommen und erfuhr nun, daß Ole heute zum erstenmal hier war. Er verkehrte bei der Tante der Wirtsleute, die gestern hier eingezogen war. Edvard Kallem wußte jetzt gleich, zu welcher Art Menschen sie gehöre, und ließ das Thema augenblicklich fallen. Er fragte, ob Ole den Sören Kule kenne. Nein, nur durch die Tante. Die ganze Familie stamme aus Nordland. Wer eigentlich dieser Sören Kule sei? Ein wohlhabender Fischhändler, der blind und lahm geworden sei; er habe sein Geschäft verkaufen müssen und dies Haus in Kristiania erstanden; davon und von seinen Zinsen lebe er. Sie hätten Verwandte in der Stadt und seien erst im Oktober hergekommen. – Ob Ole Tuft wisse, was die Ursache seiner Blindheit und Gelähmtheit sei? – Nein. – Kallem erklärte, wie darüber eigentlich kein Zweifel sein könne. Ole Tuft war ganz entsetzt! "Wie darf er's dann wagen, zu heiraten! Und dazu zweimal!" – "Er ist zum zweitenmal verheiratet?" – "Ja! Seit etwa einem halben Jahr – oder auch vielleicht einem Jahr. – Mit der Schwester seiner verstorbenen Frau." – "So stammen die Kinder aus seiner ersten Ehe?" – "Ja. Sie selber ist ja noch ein Kind. Denk doch – achtzehn Jahre! Und bald ein Jahr verheiratet!" – "War er schon so, wie er sich zum zweitenmal verheiratete?" – "Nein, das glaub' ich doch nicht. Kränklich, ja – aber nicht so. Die wenigsten werden es ja begreifen können." – "Hast Du sie gesehen?" – "Nein. Aber sie soll ein 'feines' kleines Geschöpf sein, sagt die Tante, und musikalisch. Sie hat schon öffentlich gespielt." – "In Nordland wahrscheinlich?" – "Sie sollen ungeheuer kritisch sein da oben." – Er kam wieder auf die Ehe zurück. "Vielleicht haben die Eltern sie zustande gebracht – der Kinder wegen." – "Also Pfarrersleute?" – hätte Kallem fast gesagt; aber er besann sich beizeiten. "Wählerisch ist sie jedenfalls nicht – bei Gott!" – sagte er statt dessen. Sie sprachen dann noch ein bißchen über gleichgültige Dinge. Die Schwester wurde nicht erwähnt. Eine Weile später ging Ole zur Tante hinein, die er hatte besuchen wollen. Kallem war diesen Vormittag zufällig daheim und hörte die Frau des Hauses spielen. Erst Tonleitern, nichts als Tonleitern; dann aber ein Stück, so meisterhaft vorgetragen, daß er einen Spalt seiner Tür öffnete, um besser zu hören. Sie spielte vor allem so gesangvoll! Wie in aller Welt konnte ein Weib, so jung, von diesem Kunstverstand und dieser Lyrik, solch einen verfaulten Fleischklumpen heiraten? Es war ein Rätsel. Er ging damit zu Rendalen; aber Rendalen wußte gar nichts. Immerhin war er just bei guter Laune und äußerte sich voller Begeisterung über ihr Spiel; wenig Kühnheit war darin, aber ein Gesang, ein erotischer Farbenreiz, die ihresgleichen suchten. Er spielte ein russisches Stück – wie sie – oder doch – wie er hinzufügte – so ungefähr; er spielte es ausgezeichnet. Kallem wollte wissen, wie sie aussehe. "Dumm sieht sie aus!" schrie Rendalen. "Einfach dumm! Die Stirn könnte ihre Rettung sein; aber da zerrt sie die Haare darüber. Auch die Augen könnten sie retten. Aber mein Lebtag hab' ich noch kein Wesen gesehen, das so blödsinnig schüchtern gewesen wäre mit seinen Augen!" – "Hat sie denn Augen?" – "Herrgott! Und was für vieltönige! Die meisten singen glatt unisono – wenn's hoch kommt zweistimmig! Aber manche – ganz wenige – singen strahlende Akkorde! Wenn sie beim Spiel aufblickt, dann fühlst Du's. Aber für gewöhnlich kleben sie an den Tischbeinen oder bohren Löcher in die Ecken – oder zünden das Feuer im Ofen an. Manchmal fahren sie ein Stück an der Wand hinauf, wie eine Ratte, die keinen Ausweg findet." Er war ganz belustigt über seine eigenen Bilder und setzte sich an's Klavier, um einen raschen Tanz zu spielen. – "Ist das nun nicht des Teufels, daß solch ein musikalisches Geschöpf – ach was! Bloß nicht sentimental werden, Alter!" Er wollte in's Theater, und Kallem mußte mit.

Acht Tage waren vergangen, und noch hatte Kallem sie nicht gesehen, wie sehr er sich auch bemühte hatte. Dann machte er einen Familienball mit, – der Sohn des Hauses war sein Studienfreund – und bei einer Kotillontour kam der Freund mit zwei Damen und fragte, was er wählen wolle – "Nußkern" – oder "Heckenröschen"? Besonders geistvoll war es ja nicht; aber Edvard wählte die "Heckenrose". Die Heckenrose hatte eine Musikerstirn und reizende, gewölbte Augenbrauen; im übrigen war sie schweigsam und unbedeutend. Ziemlich groß, abfallende Schultern, schöne Arme, nicht voll, aber wohlgeformt; gerade eigentlich wie der ganze Mensch. Sie tanzte gut; aber es hatte den Anschein, als möchte sie so rasch wie möglich von ihm loskommen; und wie er sie an ihren Platz zurückführte, hatte sie ihn kaum angesehen. Er war höchst erstaunt, als sie ihn bei der nächsten Tour holte. Vielleicht kannte sie nicht viele Menschen, und ihre Bekannten waren gerade nicht frei. Sie sah sich scheu um, kam dann mit kleinen, zaghaften Schritten auf ihn zu und verbeugte sich, ohne jedoch aufzublicken. Es schien fast, als fürchte sie sich, und darum wollte er ganz besonders freundlich zu ihr sein und setzte sich neben sie. Aber als sie auf alles, was er auch sagen mochte, nur mit "Ja" oder "Nein" oder "Vielleicht" antwortete, wurde das einem so gefeierten Kavalier doch zu viel; er stand auf und verließ sie. Kurz darauf hatte er wieder die Wahl zwischen dem "Nußkern", den er vorhin verschmäht hatte, und einem "Bonbon", und jetzt nahm er den "Nußkern". Die gefiel ihm besser; ein rundliches, bewegliches Ding, das eine Mischung von nordländischem und Bergener Dialekt sprach. Sie erzählte ihm, ihr Vater stamme aus Bergen und sei jetzt Pastor in Nordland. Sie sei hier bei ihrer Schwester zu Besuch und mache viele Bälle mit; sie hätten so viele Verwandte in der Stadt. Alles das singend – echt nordländisch. Leider müsse sie bald wieder nach Hause; sie bangten sich so nach ihr daheim, und die alten Leute möchten nicht gern allein sein. Kallem war natürlich der galante Mann und tat, als interessiere ihn das alles sehr; sie waren bald dicke Freunde. Sie plapperte wie ein Mühlrad; sie sei hierhergekommen, um ihrer Schwester beim Umzug zu helfen. Die Schwester sei so unpraktisch – ganz im Gegensatz zu ihr; sie könne überhaupt nichts als Klavierspielen. Von kindauf habe sie gespielt, und sie sei zwei Jahre in Berlin gewesen. Jetzt begann Kallem die Ohren zu spitzen. Und wirklich – die Schwester war seine Tänzerin von vorhin, die er so langweilig gefunden hatte – seine Hauswirtin, Frau Ragni Kule. Der "Nußkern" war übrigens gar nicht ihre Schwester; sie waren Stiefschwestern. Und der "Nußkern" war auch nicht, wie er glaubte, die ältere; im Gegenteil – die Schwester war bald neunzehn und sie knapp siebzehn.

Sofort engagierte er Frau Kule und sagte ihr ganz erstaunt, sie sei ja seine Wirtin? Ob sie das wisse? Ob sie ihn darum vorhin geholt habe? Sie sah aus, als fühle sie sich auf einer Sünde ertappt und wußte nichts zu ihrer Entschuldigung vorzubringen. "Aber warum haben Sie mir denn das nicht gesagt?" fragte er eifrig und eindringlich. Über diese neue Sünde – daß sie es verschwiegen hatte – wurde sie noch viel zerknirschter; sie wußte keine Silbe zu erwidern. Da sagte er – übermütig und ungeduldig: "Das Sprechen fällt Ihnen wohl schwer, gnädige Frau?" Sie wurde sehr blaß. In ihr Gesicht trat zu dem Schrecken etwas herzzerreißend Unglückliches. Seine ganze Ungezogenheit kam natürlich daher, daß er von vornherein wegwerfend von einem Geschöpf dachte, das sich dazu hergegeben hatte, solch einen Klumpen verdorbenen Fleisches zu heiraten. Aber ihre blasse Hilflosigkeit erweckte so unmittelbar sein Mitgefühl, daß er rasch hinzufügte: "Ich weiß ja, Sie verfügen über eine Sprache, die Ihnen leichter fällt, als den meisten andern." Und nun ging er ganz natürlich auf ihre Musik über, führte sie zu einem Platz, erzählte, er habe sie spielen hören, und erwähnte Rendalens kompetentes Urteil. Dann lenkte er die Unterhaltung auf allerhand berühmte Virtuosen, die er selber gehört hatte und fesselte sie auf diese Art; denn auch sie hatte viele von ihnen gehört. Nach und nach faßte sie soviel Zutrauen, daß sie nach Rendalen zu fragen wagte; sie habe ihn nicht wiedergesehen, seitdem er ausgezogen sei. – Es gehe ihm recht gut. – Und nun schilderte er Rendalens Eigenheiten so, daß sie lachen mußte. Sie sah nicht dumm aus, wenn sie lachte; ganz und gar nicht. Einen Augenblick konnte dann auch das "Vielstrahlige" in ihre Augen kommen. "Weshalb ist Herr Rendalen ausgezogen?" fragte sie. Es klang ebenfalls ein bißchen singend nordländisch; aber weniger als bei der Schwester. Die Stimme war in all dem Lärm ziemlich schwach, aber sehr süß. Er antwortete mit einer Gegenfrage. Nein; sie wisse nichts; und dabei sah sie ihn an. Waren das Augen! "Ob es wegen des Zimmers war?" – "Des Zimmers?" fragte er zurück. – "Ja – daß er vielleicht gehört hat, die Tante möchte es gern – die Tante meines Mannes!" berichtigte sie und war schon wieder ganz verlegen. – Ob sie ihm denn gekündigt hätten? – Keineswegs! – "Na, dann konnte er sich doch auch nicht gekränkt fühlen!" – Nein, das meinte sie auch. Aber Rendalen sei nicht einmal gekommen, um sich zu verabschieden. Die Verlegenheit verließ sie nie ganz; sie stand ihr gut, wie ein Schleier bisweilen kleiden kann. "Waren Sie oft mit seiner Mutter zusammen?" – "Ja!" sagte sie und lächelte. – "Weshalb lächeln Sie?" – "Ach – es ist vielleicht nicht ganz recht – aber sie war wie ein Mann." – Kaum hatte sie das gesagt, so wurde sie verlegen und wollte es zurücknehmen; sie habe bloß gemeint, Frau Rendalen sei so tüchtig. Kallem hielt sie aber dabei fest und trieb Ulk damit; sie mußte wieder lachen, und wie gesagt, wenn sie lachte, war sie süß. "Aber Sie können ja sprechen?" Sie sah ihn verstohlen an; machte er sich lustig über sie? Dann erinnerte er sich, daß Rendalen ihr gesagt hatte, sie solle die Stirn frei tragen; und heute abend trug sie die Stirn frei. Schau', schau'!

Wie schön sie tatsächlich war! Daß er das nicht gleich gesehen hatte! Daß andere es nicht sahen und davon sprachen! Das Gesicht freilich kindlich, unentwickelt, und die schlanke Figur ein bißchen schmächtig. Ihre Stirn war entzückend; die Brauen waren fein gebogen, aber hell und nicht stark. Die Augen bekam man auch jetzt nur schwer zu sehen; aber er wußte nun, daß sie in ihrer graublauen Scheuheit treuherzig und daß sie reich waren. Weich und unbestimmt waren Wange, Kinn und Mund; – der Mund stand ein bißchen offen; er war klein, und wirkte dadurch ganz besonders "süß". Die Nase war unbedeutend, und auch etwas schief. Das Haar nicht stark, jedoch mit einem rötlichen Schimmer über dem Blond. Aber die Hautfarbe! Vom reinsten zartesten Weiß. – Man konnte den Blick nicht mehr davon wenden, wenn man es einmal entdeckt hatte! Man sah es freilich nicht gleich, wenn die Farbe des Kleides sie nicht hob und die Beleuchtung schlecht war. Sie trug keinen Schmuck, nicht einmal ein Armband. Die Handgelenke ließen eine lange, schmale Hand ahnen, die er gern gesehen hätte. "Sie lieben also die Musik über alles?" – "Ja," erwiderte sie; "es ist ja das einzige, was ich kann!" Sie blickte vor sich nieder. Er überlegte, ob er eigentlich nichts fragen könne, was sie nicht als Schande empfinden konnte. Aber vor allem mußte er sich selber in acht nehmen; war er nicht auf dem besten Weg, sich zu verlieben? Leider müsse er jetzt weiter, um mit andern zu tanzen und sich zu unterhalten. Sobald er sie verlassen hatte, war ihm, als finde er sie nicht wieder; aus der Entfernung wurde sie gewissermaßen unsichtbar. Sobald es der Anstand erlaubte, war er wieder bei ihr. Sie hatte augenscheinlich nichts dagegen. Diesmal war sie ein bißchen zutraulicher, ja, sie sah ihn sogar ein paarmal an und lächelte ihm gerade in die Augen. Ei, ei! Das war mehr, als Rendalen erreicht hatte! Seine Verliebtheit hatte begonnen durch ihre Verlegenheit und wuchs durch ihre Zutraulichkeit. Er fragte, ob er die Damen nach Hause begleiten dürfe. Er habe doch ein größeres Anrecht darauf als andere, weil sie seine Wirtin sei. Das wurde sofort angenommen; sie überlegte gar nicht. Allerdings, sagte sie, ihr Neffe, der vorhin Kallem zwischen "Nußkern" und "Heckenrose" hatte wählen lassen, würde sie begleiten; aber sie könnten ja beide mitkommen. – "Natürlich!" sagte er munter; heimlich dachte er: "der Neffe" kann dann den "Nußkern" nehmen!

Eine feuchte Nacht mit leisem Schneefall. Die Schneesterne sanken vereinzelt und bedächtig, als wähle jeder sich seinen Platz und habe jeder sein Geschäft. Kein Windhauch mischte sich darein. Die beiden Damen erschienen, wohl eingemummt, mit Finnen-Schuhen1 an den Füßen. Drinnen waren Musik und Tanz noch in vollem Gang; im Vorsaal und auf der Treppe klang helles, junges Lachen und von draußen das Schellengeläut der zum Abholen bestellten Schlitten. Der "Neffe" konnte so früh nicht fort, da er Wirt war; aber er schaffte einen Stellvertreter herbei, der auch sofort seine Dame unter den Arm nahm und in großen Sätzen mit ihr den Hügel hinabjagte. Als jedoch Kallem es mit der seinen ebenso machen wollte, wurde sie ängstlich, klammerte sich fest an ihn, während sie mitrennen mußte, rannte atemlos und bat, er möge das doch lassen. Sie benahm sich, als wenn sie nicht gut sähe. Er blieb stehen und fragte, ob das der Fall sei. Nein, aber sie habe eine Todesangst, sie könne fallen. "Sie sind wohl überhaupt sehr ängstlicher Natur, wie?" – "Ja, das bin ich", sagte sie treuherzig. Süß war sie ja; aber im Grunde doch eine rechte Zimperliese. Sie gingen nun ein Stück weit, ohne zu sprechen; die beiden andern waren nicht zu sehen. Bah, dachte er, es ist nicht der Mühe wert, sich darüber zu ärgern; sie wird eben nicht anders können. "Es ist noch nicht einmal ein Uhr", sagte er. – "Nein, aber das jüngere von den Kindern ist nicht wohl; das Mädchen wacht bei ihm, und die muß morgen wieder früh heraus." Der nordländische Singsang ihrer Stimme versetzte ihn ans Meer. "Ich vermisse jetzt im Winter das offene Meer so", sagte er. "Hier ist nichts als Eis. Es wird wohl allen Westländern so gehen!" Sie antwortete, in Berlin habe sie oft, besonders beim Spielen, das Meer geradezu gehört. "Aber ist es nicht wunderbar, daß das Meer einen immer frisch macht, wenn man in seiner Nähe ist, und schwermütig, wenn man daran denkt?" – — Ein paar Schlitten kamen rasch von oben herunter; die beiden mußten ausweichen, und sie zog ihn mit sich bis an den äußersten Rand des Wegs, während es vorübersauste, drei Schlitten hintereinander, in rasendem Tempo.

Sie gingen weiter und lauschten dem Schellengeläut, bis es sich verlor; wieder trat die Stille ein, deren die Schneeflocken bedurften, um sich bemerkbar zu machen.

"Man sollte eigentlich nicht reden, wenn Schnee fällt", sagte sie.

1.Halbhohe, gefütterte Schuhe aus weichem Renntierleder.
Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
09 nisan 2019
Hacim:
380 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain
İndirme biçimi:
Metin
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