Kitabı oku: «Das Meer», sayfa 2
4 | MANUEL TUR |
Diese Huldigung des Blutes Christi, der Passion, Satans, dieses hastige Reden, als ob ich mich angesteckt hätte, dieser Zustand, wie eine lebende Leiche auszusehen, begann damals, es war in einem August.
Dies sind die Worte, die ich an Gott richte:
Herrgott, angefangen hat es im August. Der Himmel war wolkenverhangen. Der Wind wirbelte den Staub durch die Straßen. Es sah aus, als braute sich ein Sommersturm zusammen. Vater, der vom Dorf zurückkam, ging ins Haus und schloss wütend die Fenster. Die Fensterscheiben zitterten – und wir auch –, das ist die Wahrheit, denn Vater war sehr aufbrausend, er schrie Mutter ständig an, bis sie zu weinen begann. Danach ging er in die Taverne. Als es bei seiner Rückkehr im Haus mucksmäuschenstill war, fragte er, ob irgendwas vorgefallen sei. Mein Vater war ein bisschen so, wie Sommerstürme sind. Er ging in die Küche. Er sagte:
„Maria.“
„Ja?“
„Packe die wichtigste Wäsche. Nur den kleinen Koffer. Falls ihr fliehen müsst. Du und die Jungen. In die Stadt.“
„Was ist passiert?“
„Es ist Krieg. Sie bereiten sich vor, an Land zu gehen. Hier. Bei unserem Dorf. Fünf Dampfer sind es. Sie liegen vor der Küste. Man sieht sie. Vom Turm des Rathauses. Die Fliegerstaffel, die einen Beobachtungsposten auf dem Turm hat, gab gerade die Warnung raus. Im Dorf gibt es fast keine Munition.“
Vater, Mutter und ich standen in der Küche, ohne zu reden. Als warteten wir. Mein Vater nestelte an der Schirmmütze, die er vor sich hielt. Wir schauten ihn an und sahen, dass er Angst hatte.
Ich ging an das Fenster zur Straße, der Himmel war dunkel und die Straße grau wie das Meer bei Eintritt der Nacht. Männer in Hemdärmeln standen grüppchenweise in den Hauseingängen und tuschelten, die Hände in den Taschen. Ahnungslos wie immer hörten ihnen die Frauen zu, ungekämmt, entrückt und mit offenen Dekolletés, die ihre raue Unterwäsche erkennen ließen. Meine Hand ruhte auf dem Fenstergriff, noch unentschlossen, denn für mich glich die Straße dem Krieg, einer Kampfzone, wo mich – Peng! – eine Kugel zu Boden gehen lassen konnte, Arme und Beine auf grausige Weise von mir gestreckt. Ich trat hinaus auf die Straße. Vorsichtig. Wie ein Soldat. Als würde ich aus einem Schützengraben herauskriechen, für eine Mission auf Leben und Tod. Weit ging ich nicht. Bis zum Haus von Pau Inglada, einem Jungen meines Alters, der der Anführer unseres Camps war, das wir in einer Höhle außerhalb des Dorfes aufgeschlagen hatten.
Pau Inglada saß allein im Hof und hielt sich die Hände vors Gesicht. Er schluchzte leise, wie Menschen, die sich zum Weinen in eine Ecke zurückziehen. Ich sagte nichts, denn ich wusste nicht recht, was man sagt, wenn sich ein Junge, der im Camp der Anführer ist, in einer Ecke versteckt, um zu weinen. Ich streichelte ihn, am Hals. Wortlos. Als ob ich wüsste, weshalb er weinte. Für Jungen im Alter von neun Jahren gibt es nur Tränen und den Tod, unverfälscht und sachlich, wie ein Messer oder ein Baum. Neunjährige Jungen wissen nichts von weitreichenden, tiefen und rastlosen Gedanken.
Pau Inglada schaute zu mir hinauf. Erstmals begriff ich, dass ein weinender Junge einem Mann gleicht.
„Mein Vater ist fortgegangen, gestern Abend bei Sonnenuntergang. Er ist noch nicht zurück, ich beobachtete, wie … ich sah … ich sah, dass er sich die Pistole in die Hose steckte, die Astra in die Hosentasche steckte.“
Als Pau Inglada «die Astra» sagte, schaute er mich an, denn er hatte sie seinem Vater einmal entwendet und mit zum Camp gebracht und auf die Brust von Julià Ballester gerichtet, damit dieser ihm ein Artillerieabzeichen aushändige, das er in seiner Tasche hatte, denn Pau Inglada war der Anführer und besaß keine Orden und musste den Verschluss einer Gaseosa-Limonade tragen, den er an sein Hemd geklipst hatte.
Schon den ganzen Tag patrouillierte die Guardia Civil auf der Straße: Wagen wurden angehalten, Nummernschilder notiert. Ein seltenes Schauspiel für Pau Inglada und mich war das. Mir kam es so vor, ungelogen, als blockierten Don Silvestre, Don Casimiro, Don Matías und Don Pascual, die allesamt Freunde meines Vaters waren, die Straße, in der ich wohnte.
Die Männer auf den Schiffen landeten nicht an, nicht am Küstenstreifen vor meinem Dorf.
Gegen Abend, als Mutter das Holz, das Wasser und das Gemüse schon ins Haus getragen und Vater das Pferd getränkt hatte, überbrachten sie die Nachricht. Man hatte den Vater von Pau Inglada gefunden, tot, auf einem Haufen, mit zwei Kugeln im Genick und einer im Rücken. Die Nachricht wurde von zwei Freunden von Pau Ingladas Vater überbracht. Er hieß Mateu und war ein sanfter, ein heiterer Mensch, bis er starb. Als die Nacht am tiefsten war, brachten sie den Leichnam auf einer Bahre und von einer Decke verhüllt durch eine Hintertür ins Haus. Die Schweigsamkeit der Träger jagte mir genauso viel Angst ein wie der schwere Kopf, der unter dem Tuch hin und her wackelte. Pau Ingladas Mutter hatte ihr Taschentuch zu einem Ball geknüllt und biss hinein.
Die Träger stellten die Bahre auf dem Boden ab, enthüllten den Leichnam und schleuderten die Decke in die Ecke. Pau Ingladas Vater trug alte, blaugestreifte Hosen und ein kakifarbenes Hemd. Er war blass und seine Zähne waren zu erkennen. Die Träger knieten nieder und entkleideten den Leichnam. Pau Ingladas Vater war wenig behaart. Als sie ihm die Hosen auszogen, diese zunächst aufknöpften und am Fußende zogen, lernte ich die Macht des Todes kennen, denn ich sah, wie Pau Ingladas Vater sich nicht mit der Hand die Scham verhüllte, als man ihm die Hosen runterzog.
Die blutgetränkte Kleidung wurde in einen Verschlag am anderen Ende des Hofes abgelegt. Mein Vater, der bleich im Gesicht wie der Kalk an den Wänden gewesen war, trug sie später weiter.
Man schickte Pau Inglada und mich zusammen ins Bett, er weinte die ganze Nacht. Als wir morgens aufstanden, schien er mir schmaler, wie alle Jungen, nachdem sie verstanden haben, wie Kinder auf die Welt kommen.
Nach diesen Ereignissen hockten wir an den Sommerabenden in der Küche oder im Pferch, eingesperrt wie Verurteilte, als ob wir etwas auf unser Gewissen geladen hätten. Da uns niemand hat morden oder rauben sehen oder den guten Ruf anderer in den Schmutz ziehen, erhebe der sein Wort, der zu sagen wüsste, wessen wir uns zu schämen hätten.
Vater wollte nicht, dass wir hinausgehen und mit den Männern und Frauen unserer Straße gemeinsam die Frische der Nacht genießen. Wir standen mit allen gut. Die Frauen kamen zu uns, mittags wie spät abends, um sich einen Strauß Petersilie, ein Blatt Sellerie, eine Handvoll Salz zu borgen; die Männer kamen ständig, um meinen Vater nach Feuersteinen zu fragen, der ihnen antwortete – womit er recht hatte –, dass sie, wenn sie nur ein Fünkchen Verstand besäßen, soviel wie eine Erbse, zum Tabakhändler gingen, bei dem man zehn Feuersteine für zwei Pesten erhielt. Wie die Schweine schwitzten wir, verurteilt, die ganze Nacht im Pferch zu hocken, um bloß die Leute nicht zu sehen, die mit gefesselten Händen vor dem Bauch die Straße hinuntergetrieben wurden, wie sündige Priester. Man brachte sie vor das Dorf. Auf einen Weg zwischen zwei Feldern, der von hohen Mauern gesäumt war und wo überall diese großen stacheligen Pflanzen standen, die große gelbe, runde Blüten haben, die man Teufelsbälle nennt. In dieser Gasse zwang man die Männer, Rizinusöl zu trinken. Einen Liter oder anderthalb. Danach band man ihnen die Hosenbeine am unteren Ende zu und trieb sie mit patriotischen Liedern durch den Ort; sie aber hatten die Stimme verloren und weinten wie Weiber und konnten nicht laufen, weil sie in ihre Hosen gemacht hatten.
Nachdem ich diese Grausamkeit sah, diese Erniedrigung, bekam ich meine Krankheit.
Es passierte in einer Oktobernacht. Pau Inglada und ich hatten Wind davon bekommen, dass Männer vor der Mauer des Friedhofs erschossen werden sollten. Ein hagerer, junger Typ, der mit Strohdächern und Sandsäcken und mit Beuteln, die mit Johannisbrot und Grünzeug gefüllt waren, Unterstände gegen Bombenangriffe errichtete, hatte das erzählt. Die Nächte verbrachte meine Mutter im Haus von Pau Inglada, um der Witwe beizustehen, die verrückt zu werden drohte und irreredete. Mein Vater, der der Miliz angehörte, patrouillierte mit einer Mauser, die ihm der Sergeant der Guardia Civil gegeben hatte, an der Küste, und ich müsste ganz falsch liegen, wenn mein Vater wirklich gewusst hätte, was er mit einer Mauser anzustellen hätte, falls zwei Meter entfernt von ihm einer hinterm Busch hervorgesprungen wäre. Mein Vater war ein durch und durch unbeschriebenes Blatt und stand allen nur im Weg. Pau Inglada und ich schliefen zusammengekauert, es gefiel uns, dass man uns wie Erwachsene allein schlafen ließ. Er rauchte im Bett. Ich mochte Tabak nicht, aber ich rauchte, damit er nicht sagte, ich hätte nichts in der Hose.
In jener Nacht schlichen wir uns aus dem Haus. Wir sprangen über die Mauer auf die Straße. Als wir an der Scheune vorbeikamen, bemerkten wir das unruhige Pferd. Die Straße lag einsam da. Der Asphalt glänzte unter dem Licht der Sterne. Die Luft war still, die Bäume bewegungslos. Einzig der Duft der roten Erde, jener besondere Duft vertrockneten, staubigen Grases, das neben den Mauern verdorrt war, stieg empor. Wortlos durchquerten wir den Ort. Die Straßen waren menschenleer. Als wir den Ausgang des Dorfes und das Wegekreuz erreichten, das von Oleandern und krüppligen, staubbedeckten Kiefern überwuchert war, schauten wir uns lächelnd und ängstlich zugleich an, denn nun begann der Weg hinauf zum Friedhof, vor dem wir uns fürchteten.
Wir verließen die Straße, stapften direkt über die lehmigen Felder und verletzten uns an den harten Stoppeln. Der Duft der eng beieinanderstehenden Oleaster überlud uns mit Furcht, einer heimlichen Feigheit und Wortlosigkeit. Es war mühselig, über die rote und von der Sonne aufgebrochene Erde voranzukommen, wir wanderten hinter den Mauern, an den Brombeeren vorbei und über austreibenden, übelriechenden Spargel. Dieser seltsame Gestank der Felder war uns neu.
Der Friedhof lag neben der Straße und war etwa fünfzig Schritte von unserem Pfad entfernt. Die Strecke bis zur Friedhofsmauer war steinig und übersät von Affodill und Gestrüpp. Wir blieben auf der anderen Seite des Weges … und liefen durch einen kleinen Hain aus Steineichen mit dicken, alten Waldmeistersträuchern. Ein gutes Versteck. Wir krochen in einen der Sträucher. Er war dreimal höher als wir. Durch die Äste hindurch sahen wir die mondbeschienene Mauer und die schwarzen Zypressen, die sie etwa einen halben Meter überragten. Ebenfalls zu erkennen war der kleine Glockenturm der weiß gekalkten Kapelle.
„Pau.“
„Ja?“
„Wo bist du?“
„Hier.“
„Ich sehe dich nicht.“
„Die Nacht ist dunkel.“
„Sehr dunkel.“
„Es muss spät sein.“
„Ja.“
„Hast du Tabak dabei?“
„Ich habe vergessen, ihn einzustecken.“
„Du bist ein, eine Hure.“
Das Warten zog sich hin, wir verhielten uns still. Es wurde kein einziges Wort gewechselt. Bloß manchmal legten wir uns die Hand auf die Schulter. Nach einer Weile hörten wir den Motor eines Lastwagens. Als hätte man uns einen Stromschlag verabreicht, hielten wir uns die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien. Pau Ingladas Hand streifte meinen Hals, ich weiß nicht, an was er beim Geräusch des Motors gedacht hatte, aber er gab mir einen schnellen Kuss auf die Stirn. Weil er sich nicht allein fühlte. Seine Hand war kalt und zitterte.
„Jetzt werden sie meinen Vater ein zweites Mal umbringen.“
Der Lastwagen hielt neben der Straße. Dass der Motor verstummte, war furchteinflößend. Die Stille war zum Zerreißen; wie ein gespanntes Seil. Das ganze Feld. Die Wagentür – Bam! – flog zu. Schritte, ihr Rascheln im Gras, Schuhe, die gegen Steine stießen. Im nächsten Moment gefror uns das Blut in den Adern. In einer Reihe liefen die Männer zur Mauer, heulend wie Esel, wie jaulende, rufende Esel. Zwei Uniformierte mit Gewehren über den Schultern hielten Laternen in der Hand, die für mäßiges Licht sorgten. Der Lastwagen gegenüber der Mauer schaltete die Scheinwerfer ein und tauchte die Mauer in grelles Licht. Man konnte die grünen Passionsblumen erkennen, die über die Mauer hingen. Die Uniformierten stellten die Laternen auf den Boden; sie nahmen den Männern die Fesseln ab. Die Männer streckten ihnen mit gebeugten Knien die Arme entgegen, als fielen sie zu Boden; sie plärrten, riefen durcheinander die Namen von Frauen und Männern. Jene männlichen Namen riefen sie anders, jaulender, wie Namen kleiner Jungen. Mit dem Kolben ihrer Gewehre stießen die Uniformierten sie näher auf die Wand zu. Dicht an dicht und mit dem Gesicht zur Wand stellten sich die Männer in einer Reihe auf und heulten wie Esel. Die Milizionäre feuerten mit ihren Maschinengewehren aus zwei Metern Entfernung. Die Erschossenen fielen auf den Rücken und blieben wie Puppen daliegen, mit ausgestreckten Armen. Dann waren kraftlose, stöhnende Laute zu hören. Ein Mann ging auf sie zu – Peng! Peng! Peng! –, woraufhin sich eine Totenstille über die Landschaft legte. Die Scheinwerfer des Lastwagens gingen aus und die Wand verschwand in der nachtschwarzen Dunkelheit, nur ein fahler Mondschein lag auf den Felsen. Ein Vogel sang in den Eichen. Und die duftenden Pinien bewegten sich, leicht hörbar und grün unter den Sternen.
„Manuel …“
Pau Inglada streckte mir die Hand entgegen, als wäre er mir gerade, mitten in der Nacht und nach langer Zeit erneut begegnet. Wir kehrten zum Dorf zurück, bedrückt vom Wissen, dass jener, der die Männer mit Schüssen niedergestreckt hatte, Julià Ballesters Vater war, Julià, den Pau Inglada mit der Astra seines Vaters bedroht hatte, damit dieser ihm das Artillerieabzeichen gab.
Dann, Herrgott, kam der Nachmittag des nächsten Tags – ein feiner, helllichter Nachmittag. Ein Nachmittag im Oktober. Nach der Schule brachte jeder seinen Ranzen nach Hause, um eiligst zur Höhle zu laufen, wo wir unser Camp hatten. Pau Inglada hatte die Astra seines Vaters dabei. Er hielt einen Luftballon mit einer Werbeaufschrift in der Hand, den seine Mutter in einem Textilgeschäft bekommen hatte, sowie ein Paket mit Sulfat und eine Literflasche, die mit Wasser gefüllt war. Auf halbem Wege drückte mir Pau Inglada alles in die Hand, was er trug, und rannte zurück. Als er etwa hundert Meter gerannt war, drehte er sich um und reckte die Hand in die Luft:
„Das Artillerieabzeichen. Ich hab’s vergessen.“
„Ah!“
Ich ging so langsam wie möglich, damit er mich einholen konnte. Er kam zurück, gehetzt, außer Atem. Die Hand auf seiner Brust sagte er:
„Puh! Ich kann nicht mehr. Ich hatte es vergessen.“
Und er deutete auf die abgewetzte Plakette voller Grünspan, das Artillerieabzeichen, das er sich links an die Brust geheftet hatte.
Die Höhle bestand aus einem großen, tiefen Gewölbe, das geräumiger als ein Haus war. In der Decke gab es eine Öffnung, durch die wie durch ein Bullauge Licht eindrang. Der Zugang zur Höhle war niedrig und nicht gerade weit, sodass der Einstieg nicht leicht war. Wir kletterten hinab und stützten uns an den schwarzen, riesigen und feuchten Felsen. In einer Ecke wuchs ein junger, grüner Feigenbaum mit großen Blättern. Wasser floss lautlos an den Felsen herab und da es – plopp, plopp, plopp – an einem Felsvorsprung tropfte, spürte man die etwas kühlere Luft im Innern der Höhle.
Auf dem Boden sitzend befüllten wir die Flasche mit dem Sulfat und schüttelten sie, zuerst ich, dann Pau Inglada. Bis das Sulfat aufgelöst war. Ich befestigte den Luftballon an einem Stein, der ein Loch hatte. Der Luftballon stieg auf, senkrecht wie eine große Blume.
Wir warteten auf Julià Ballester. Jeden Nachmittag, wenn er die Kühe zur öffentlichen Tränke brachte, kam er hierher. Julià Ballester, der gerade einmal zehn Jahre alt war, lief ihnen mit einem grünen Ast in der Hand, den er von einem Oleaster abgebrochen hatte, voraus. Die anderen Jungen lachten ihn aus, denn er rief: «Hierher, Clapada, oooouu, Pintora, eeeeh!» Und weil er die langen Hosen seines Bruders auftrug. Wenn er die Tiere zur Tränke führte, grüßte er die Passanten mit wedelnder Hand.
Als wir seine Schritte hörten, er duckte sich, um in die Höhle zu gelangen, wussten wir anhand des Lichtes, das durch die Öffnung fiel, dass bis zum Sonnenuntergang nicht mehr viel Zeit war.
„Ku-ku!“
Julià Ballester stieg die Felsen Stufe für Stufe hinab – seine dunkle Figur zeichnete sich gegen das helle Licht des Zugangs ab. Er stützte sich mit beiden Händen, links und rechts, auf die großen Felsbrocken. Mit ausgestreckten Armen kam er dann näher und suchte uns, nach uns ausschauend und rufend.
„Manuel?“
„Hui.“
„Pau?“
Das Wasser – plopp, plopp, plopp – tröpfelte im Sekundentakt von den Wänden auf die Felsen.
„Pau.“
Der junge und grüne Feigenbaum im Innern der Höhle war wie der Ursprung der frischen Luft.
„Wenn du nicht antworten willst, antworte nicht, Pau.“
Das Licht, das durch das Bullauge in die Höhle fiel, verbarg uns im Trugbild der Felsen und des saftigen Grüns, das von den feuchten Felsen herabhing.
Julià Ballester legte die Hand auf Pau Ingladas Schulter.
„Was ist mit dir?“
„Nimm deine Hand von mir, du Stück Scheiße!“
Es dauerte nur eine halbe Sekunde, kürzer als ein Flackern der Laterne, und Julià Ballester stürzte sich auf Pau Ingladas Hals. Pau Inglada hob einen Fuß und trat Julià Ballester mit dem Absatz seines Stiefels hart in die Leiste. Julià Ballester fiel auf den Rücken. Flink wie eine Katze warf sich Pau Inglada auf ihn, presste ein Knie gegen seinen Magen und würgte mit beiden Händen seinen Hals.
„Wo war dein Vater gestern Nacht?“
„Ich weiß es nicht. Was geht es dich an, wo mein Vater war? Mein Vater ist nicht wie deiner, den sie umbrachten, weil …“
Pau Inglada würgte mit aller Kraft und stemmte das Knie in Julià Ballesters Magen; er klammerte die Finger fest um seinen Hals und näherte sich seinem Gesicht.
„Ich werde dich umbringen. Hier in der Höhle.“
Julià Ballester war von kleiner Statur, aber mutig und weinte nicht. Sein Kopf war klein und er war flink wie eine Ratte. Mit zusammengebissenen Zähnen widerstand er der Umklammerung Pau Ingladas, wehrte sich mit Händen und Füßen und drehte seinen Kopf energisch von einer Seite zur anderen. Julià Ballesters Kopf war blauviolett angelaufen. Es sah aus, als wollten seine Augen herausschießen und an der Wand gegenüber zerplatzen. Als Pau Inglada nur kurz den Druck seines Knies und seiner Finger nachgab, wandte sich Julià Ballester flink wie eine Katze aus der Umklammerung und krallte seine Finger in Pau Ingladas Wangen. Julià Ballester spuckte einen Mundvoll Blut. Mit übermenschlicher Anstrengung befreite er sich und wälzte sich zur Seite. Das gab Pau Inglada die Gelegenheit, in seine Jacke zu greifen und die Pistole hervorzuziehen, um sie auf Julià Ballesters Brust zu drücken.
„Wie einen Hund! Wie einen Hund werde ich dich töten!“
Pau Ingladas Gesicht, Hände und Hemd waren blutverschmiert. Er sprach mit einer verzerrten Stimme, als hätte er einen Stein im Mund.
„Wie einen Hund.“
„Du tötest doch nur mit Worten. Dein Schwanz ist so winzig wie eine Dattel. Du bist wie die Hühner, rennst vor jedem Lärm, dem kleinsten Ping, davon.“
„Du trinkst jetzt das hier …“
Mit dem Kopf deutete er auf die Flasche mit dem Sulfat.
„Tollwütig wie ein Köter wirst du platzen. Weil dein Vater, gestern, fünf Männer abgeschlachtet hat. An der Mauer vom Friedhof. Mein Vater wird vom Himmel herunter deine Mutter umbringen. Schimmlig gelb wird er sie werden lassen. Er wird ihr das Gesicht abziehen, wie die Schlachter, die mit dem Messer die Knochen abschaben. Euer ganzes Haus wird verrotten, weil deine Mutter nicht mehr da sein wird. Und dein Vater wird verlassen sterben, in einer Ecke liegend, wie die Katzen, die liegengelassen auf den Feldern verenden.“
Pau Inglada griff nach der Flasche. Er legte die Astra auf den Boden. Langsam.
„Trink das. Alles. Ohne abzusetzen.“
Er drückte Julià Ballester den Flaschenhals an den Mund, sodass dieser mit zusammengebissenen Zähnen ein wenig schluckte. Dann geschah etwas Unerwartetes: Julià Ballester, der den Ausdruck eines Besiegten im Gesicht hatte, stieß mit dem Kopf in Pau Ingladas Bauch und griff nach seinem Kiefer. Mit aller Brutalität stieß er nach oben, als wollte er ihm den Kiefer brechen. Dann krallte er die Finger in Pau Ingladas Brust, in seine linke Brustwarze. Man hörte das Fleisch reißen, als zöge man mit einer Zange daran. Pau Inglada brüllte wie ein Schlachtvieh. Während er wie am Spieß schrie, sah ich, wie er verzweifelt versuchte, in seine Hosentasche zu greifen.
„Pau, neeein!“
Pau Inglada rammte Julià Ballester das Messer in den Hals, bis zum Griff.
In der Höhle spürte man einen kühlen Luftzug. Das Wasser – plopp, plopp, plopp – tröpfelte im Sekundentakt von den Wänden.
Ich rannte fort, zum Ausgang der Höhle. Die Sonne war längst untergegangen. Bevor ich in die kühle Abendluft hinaustrat, drehte ich mich um. Pau Inglada hatte die Hand auf die Haare des toten Julià Ballester gelegt und küsste seine Stirn. Kurz. Als schäme er sich. Die Landschaft war beinahe dunkel.
Ich rannte ins Dorf, ohne Halt zu machen. Nahe dem Tor, als ich die ersten Häuser erkannte, in denen schon das Licht eingeschaltet war, brach ich in Tränen aus.
Man trug Julià Ballester in sein Haus. Er war in ein Tuch gewickelt und lag auf dem Karren seines Vaters. Das ganze Dorf stand vor der Tür, leise redend und wartend, dass die Männer den Toten bringen. Die zwei in der Nacht zu den Feldern ausgeschickten Männer von der Guardia Civil fanden Pau Inglada nicht. Ganze Brigaden suchten ihn acht Tage lang und, obwohl sie jeden Meter und jeden Busch absuchten, fanden sie ihn nicht. Bis in die Nacht hinein waren Leute und Hunde auf den Feldern. Nach einer Woche entdeckten sie neben dem Brunnen von Jeroni Crous Fußspuren von Pau Inglada. Gleich neben seinen kleinen Fußabdrücken im Staub waren Spuren von Perlhühnern und Wachteln, die zum Trinken an die Schale unter der Pumpe kamen, zu sehen.
Die lange Leiter des Elektrizitätswerks wurde in den Brunnen hinabgelassen. Ein Mann aus Pau Ingladas Straße brachte ihn nach oben. Er trug ihn unter dem Arm.
Man legte den Leichnam auf einen Sack, den man auf die Erde geworfen hatte, die Sonne brannte. Man wartete auf den Staatsanwalt, die Guardia Civil, zwei weitere Polizisten aus dem Ort – alles für ihn, der noch ein Kind war … Eine Aasfliege kreiste um seine Augen. Sie zerstörte die bleierne Stille der Menschen, die sich beim Brunnen versammelt hatten und ihre Mützen in den Händen rotieren ließen. Der Pritschenwagen des Bestatters kam heran, ohne jeglichen Flor, staubbedeckt, wie er in der städtischen Garage gestanden hatte. Man steckte den Leichnam in einen langen Nitrat-Sack. Der Kopf schaute am oberen Ende heraus. Ein weiterer Sack, aus Leinen, wurde vom Kopf zu den Füßen darübergestülpt. Das Bündel wurde mit einem dünnen Strick vertäut und auf die Pritsche gelegt. Langsam nässte das Sackleinen durch. Es sah aus, als sei Pau Inglada noch nicht endgültig tot. Mit Äxten hauten einige Männer frische Äste aus den Büschen und warfen sie auf den Wagen, um den Sack zu verbergen. Es war mitten am Tag. Die Straße flimmerte unter der Sonne. Mit maximaler Geschwindigkeit raste das Auto durch den Ort, während tief in den Häusern die Löffel laut in die Teller stießen und die Leute des Dorfes sich gegenseitig anstarrten und aßen …
So, lieber Herrgott, begann mein Leben. Dies war mein erstes Land, dies waren meine ersten Wurzeln, dies wurde meine erste Bewusstheit. Erspart mir, Herr, Euer niederschmetterndes Urteil. Erinnert Euch, dass ich ein Kind des Krieges bin. Das eines Tages …