Kitabı oku: «Die Perfekte Nachbarin», sayfa 2
KAPITEL DREI
Garland Moses hatte ein schlechtes Gewissen.
Er fuhr sehr schnell, um so rasch wie möglich am Tatort zu sein. Als er entlang des Manhattan Beach Boulevards nach Westen fuhr, in Richtung des Ozeans, erreichte er gerade rechtzeitig die Kuppe eines Hügels, um sehen zu können, wie die letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne den kleinen Strandort und den Pazifik in ein rosa-orangefarbenes Licht tauchten.
Dieser Anblick löste den angespannten Knoten in seiner Brust. Die meisten Leute kannten ihn als den hartgesottenen Profiler mit langjähriger Erfahrung, der selten Gefühle zeigte, schon gar nicht so etwas wie Ehrfurcht. Aber wie er da so allein in seinem Auto saß, erlaubte er es sich, den Anblick der schemenhaften Surfer, die sich vor der purpurnen Sonne abzeichneten, mit ein paar Segelbooten im Hintergrund, in sich aufzusaugen. Doch während er sich an diesem Postkartenmotiv erfreute, schlich sich langsam das schlechte Gewissen ein, das ihn schalt und ihm sagte, er sei nicht wegen der schönen Aussicht hier. Er machte hier seinen Job.
Als er jedoch das letzte Stück der Sackgasse entlangfuhr, die an einem Pier endete, blickte er neidisch auf die Menschen, die in ihrer sommerlichen, legeren Kleidung umher spazierten. Auch wenn es beinahe 20 Uhr war, trug er immer noch seine inoffizielle Arbeitskleidung – ein abgenutztes, graues Sakko und ein schlichtes, grauweißes Hemd. Normalerweise gehörte dazu auch ein Pullunder, aber an einem so heißen Tag wie diesem war das selbst für ihn zu viel. Allerdings trug er wie immer seine dunkelblaue Hose, deren Farbe langsam verblich, und seine schäbigen, abgewetzten Halbschuhe. Sein ganzes Outfit war eine Art Kostüm, dazu gedacht, dass Verdächtige und Zeugen ihre übliche Scheu oder Vorsicht vergaßen und dem ältlichen, scheinbar leicht verwirrten Herrn offenherziger antworteten, wenn er ihnen persönliche Fragen stellte.
Er bog rechts auf den Ocean Drive, nur einen Block vom Strand entfernt. Eigentlich war es mehr ein Gässchen als eine Straße, und er musste vorsichtig an nachlässig geparkten Autos vorbei manövrieren, um zu der Adresse zu gelangen, die man ihm gegeben hatte. Als er sie erreichte, parkte er im eingeschränkten Halteverbot, legte sein LAPD-Schild auf das Armaturenbrett und stieg aus.
Sofort umhüllte ihn die kühle Luft, gewürzt mit dem salzigen Geschmack des Ozeans, was eine willkommene Abwechslung zu den Dünsten der Innenstadt war, die eher eine Mischung aus Abgasen und Asphalt waren. Er ging schnellen Schrittes voran, bis er den Weg erreichte, den die Leute hier den Strip nannten. Einen halben Block weiter nördlich sah er das polizeiliche Absperrband und zahlreiche Beamte, die den Fußgängern den Zugang verwehrten.
Während er in deren Richtung weiterging, drängte seine Spürnase die Bewunderung für die malerische Szenerie langsam in den Hintergrund. Zwar nahm er weiterhin die Volleyballer wahr, die nach Feierabend auf dem Sand spielten, und auch die Mütter, die, ihre Kinderwägen vor sich herschiebend, an ihm vorbei joggten. Aber er betrachtete auch die Häuser in der Nähe des Tatorts sehr genau.
Alle hatten sie Eingangstüren, die nur wenige Meter von den Spaziergängern entfernt waren. Nur ganz wenige verfügten über einen Vorgarten, und so gut wie keine hatten Zäune. In dieser Gegend war es scheinbar wichtiger, ungehindert zum Strand zu gelangen, anstatt in ausgeklügelte Sicherheitsmaßnahmen zu investieren.
In dieser Umgebung fühlte er sich ein wenig fremd. Auch wenn er im Zentrum von Los Angeles lebte, so musste er gestehen, dass er selten zum Strand fuhr, sondern seine Zeit meistens in der Nähe der Innenstadt verbrachte, nicht weit von seiner Arbeit.
In jenem Teil der Stadt hatten alle Wohnungseigentümer oder Mieter gewisse Sicherheitsvorkehrungen getroffen – seien es ein Zaun, Gitterstäbe am Fenster, ein Alarmsystem oder alles zusammen. Seine gute Freundin und Kollegin Jessie Hunt verfügte über alle diese Dinge, außerdem über Kameras, Wachmänner, eine überwachte Parkgarage und mehr Schlösser als Lichtschalter. Dafür hatte sie allerdings auch gute Gründe. Dieses Laissez-faire-Verhalten des Strandorts war etwas völlig Ungewöhnliches für ihn. Damit musste er allerdings zurechtkommen. Man hatte ihm keine Wahl gelassen.
In der Regel suchte sich Garland Moses seine Fälle aus. Schließlich war er jahrzehntelang ein brillanter FBI-Profiler und Experte für Verhaltensforschung gewesen. In jungen Jahren bereits verwitwet und kinderlos, hatte er sich voll und ganz seiner Arbeit gewidmet. Als er schließlich nach Südkalifornien gezogen war, um sich zur Ruhe zu setzen, hatte er sich überreden lassen, als Berater für das LAPD zu arbeiten. Allerdings nur unter der Bedingung, dass er sich seine Fälle aussuchen konnte.
Allerdings nicht diesen hier. Der Captain der Central Station, Roy Decker, hatte ihn angefleht, eine Ausnahme zu machen. Der Ehemann des Opfers, ein wohlhabender Manager bei einem Öl- und Gaskonzern namens Garth Barton, hatte der Polizei in den letzten drei Jahren über 400 000 Dollar zukommen lassen. Das Paar lebte zwar mittlerweile in Manhattan Beach, das seine eigene Polizeistation hatte, aber Barton arbeitete im Stadtzentrum, und so war ihm der Ruf des legendären Profilers Garland Moses wohlbekannt.
„Barton besteht darauf, dass du an dem Fall beteiligt bist“, hatte Decker ihm am Telefon gesagt. „Er hat angedeutet, dass er seine Zahlungen einstellt, falls du nicht annimmst. Ich bitte dich um diesen einen Gefallen, Garland.“
Da es sich um den ersten Gefallen handelte, um den der Captain ihn je gebeten hatte, war er geneigt zuzustimmen. Sobald er Ja gesagt hatte, redete Decker so schnell, dass Garland vermutete, er habe Angst, dass er es sich anders überlegen würde.
„Ich verspreche dir, dass sich das MBPD deinen Vorgaben und denen deines Teams fügen wird“, hatte der Captain ihm versichert. „Um ehrlich zu sein, scheinen sie ganz froh darüber zu sein. Offenbar hat Barton den Ruf, ein ziemliches Arschloch zu sein, und so sind sie mehr als bereit dazu, seinen Fall an jemand anderen weiterzuleiten. Besonders jetzt, da er emotional völlig überdreht zu sein scheint.“
Als sich Garland dem abgeriegelten Bereich auf dem Strip näherte, blendete er die politischen Aspekte aus und konzentrierte sich wieder auf das stattgefundene Verbrechen. Er wusste nur wenig. Nur, dass Priscilla Barton tot im Nachbarhaus gefunden worden war, und dass man dahinter Fremdeinwirkung vermutete. Er erreichte den Tatort und sah sich um, ob Ryan Hernandez, der Kriminalbeamte der Sondereinheit der Mordkommission, um dessen Mithilfe er in diesem Fall gebeten hatte, bereits da war.
Da er ihn nirgendwo sah, ging er auf den nächsten MBPD Beamten zu und nannte ihm sein Anliegen.
„Garland Moses, LAPD, forensischer Profiling-Berater. Wer hat hier das Sagen?“
Der Beamte, auf dessen Namensschild Timms stand und der aussah, als sei er keinen Tag älter als 22, schluckte hart.
„Sergeant Breem hat das Kommando inne, bis der Detective eintrifft“, erwiderte er mit vor Nervosität bebender Stimme. „Er ist gerade drinnen.“
„Darf ich zu ihm gehen?“, fragte Garland.
„Ja, Sir. Er ist im Foyer. Dort befindet sich die Leiche.“
„Danke“, erwiderte Garland. Er machte sich in die Richtung auf, dann blieb er stehen und drehte sich um. „Kannten Sie die Bartons, Officer Timms?“
„Nicht wirklich“, antwortete Timms. „Ich hatte nie persönlich mit ihnen zu tun, kannte aber deren Ruf.“
„Wie das?“
„Mr. Barton hat sich bei uns oft wegen der Nachbarn beschwert, Lärmbelästigung und solches Zeug.“
„Und Mrs. Barton?“, bohrte Garland weiter und machte sich wie wild Notizen auf seinem winzigen Schreibblock.
„Ich will nicht schlecht über die Tote sprechen“, sagte Timms zögerlich.
„Sie reden nicht schlecht über sie. Sie teilen mir einfach Informationen mit. Und mit deren Hilfe werden wir den Mörder fassen.“
Timms nickte und schien überzeugt.
„Okay“, sagte er, und seine Stimme wurde zu einem Flüstern. „Man erzählt sich, dass sie gerne Promis nachstellte; harmlos, aber etwas nervig. Manchmal haben sich berühmte Leute, die hier leben, beschwert, dass sie ihnen folgen würde, sogar versucht haben soll, sich bei ihnen einzuschleimen, mit ihnen einen zu trinken. Allerdings nichts Schlimmes. Sie ist also nicht in irgendwelche Häuser eingebrochen und hat im Bett auf den Besitzer gewartet.“
„Können wir da sicher sein?“ fragte Garland misstrauisch. „Das hier ist nicht ihr Haus, richtig?“
Timms Gesicht färbte sich rot.
„So hatte ich das noch gar nicht gesehen“, sagte er und war sichtlich beschämt.
„Was meinen Sie mit ‚so‘?“, fragte ihn jemand von hinten.
Garland drehte sich um und sah Detective Ryan Hernandez, der ihn breit angrinste.
„Vergessen Sie’s“, sagte er. „Wie geht es Ihnen, Detective?“
„Wenn man bedenkt, dass man mich aus meinem gemütlichen Zuhause und der Gesellschaft meiner Lieben entrissen hat, dann relativ gut. Und Ihnen?“
„Mir gefällt es, mal in einer anderen Gegend zu sein“, gestand Garland. „Eigentlich will ich gar nicht nach drinnen gehen.“
„Und doch …“, hob Ryan widerstrebend an.
„… müssen wir“, beendete Garland den Satz und bedeutete ihm mit der Hand, dass er vorgehen solle.
Als Hernandez vor ihm durch die Eingangstür ging, bewunderte Garland seinen jüngeren Kollegen. Selbst er hatte mit Anfang 30 nicht so selbstsicher gewirkt wie Ryan Hernandez. Gut, er hatte auch nicht so gut ausgesehen wie Hernandez.
Er hatte Jessie ab und zu damit aufgezogen, dass sie – mit ihren amazonengleichen Modelmaßen, ihren grünen Augen, ihren braunen, gewellten Haaren und ihrem wohlproportionierten Gesicht – und ihr Lebensgefährte – mit seinem schwarzen Haar, seinen braunen Augen und wohldefinierten Brustmuskeln – davon ausgehen könnten, dass ihre künftigen Kinder ihren rechtmäßigen Platz auf dem Olymp einnehmen würden. Fast immer war sie dabei rot geworden. Bei Ryan wollte er das lieber nicht wagen.
Sie betraten das Haus, in dem Sergeant Breem, ein schlanker, sonnengebräunter Typ in seinen Vierzigern, von dem Garland vermutete, dass er ein Surfer war, mit zwei uniformierten Beamten und der Spurensicherung auf ihn wartete. Ein Gerichtsmediziner machte Fotos von der Leiche. Vom Ehemann war nirgends eine Spur zu sehen.
Garland sah sich im Foyer um und machte sich, während er alles in sich aufnahm, Notizen auf seinem Block. Erst als er sich ein genaues Bild von dem Raum gemacht hatte, sah er auf das Opfer hinunter. Priscilla lag auf dem Rücken und hatte etwas, das wie ein Strumpf aussah, um ihren Hals gewickelt.
In ihren weit aufgerissenen Augen waren ganz offenbar die Blutgefäße geplatzt, was mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Erwürgen hindeutete. Sie trug einen roten Sport-BH, Yogahosen und einen Flip-Flop. Der andere lag einsam weiter hinten im Flur. Die Leichenstarre war noch nicht eingetreten, noch war sie nicht aufgequollen, und ihre Haut hatte sich nur leicht verfärbt. All das ließ darauf schließen, dass ihr Tod erst kürzlich eingetreten war, wahrscheinlich erst vor wenigen Stunden.
„Sergeant Breem“, sagte Hernandez und streckte diesem zur Begrüßung die Hand aus. „Ich bin Detective Ryan Hernandez vom LAPD. Das hier ist unser Profiler, Garland Moses. Vielen Dank, dass wir mit Ihnen an dem Fall arbeiten dürfen.“
„Wollen Sie mich verarschen?“, sagte Breem leicht belustigt. „Wir sind froh, dass wir uns hier etwas zurücklehnen dürfen. Ich will nicht unhöflich sein, aber Barton ist kein angenehmer Typ. Seit er und seine bessere Hälfte hierhergezogen sind, hat er uns das Leben schwer gemacht. Wir unterstützen Sie in jeglicher Hinsicht, aber wenn es darum geht, mit dem Typen zu reden, ziehen wir uns diskret zurück.“
„Wo ist Mr. Barton?“, fragte Hernandez.
„In seinem Haus, direkt nebenan. Wenn Sie genau hinhören, werden Sie wahrscheinlich mitbekommen, wie er gerade meinen Mitarbeiter anbrüllt.“
„Dann warten wir noch ein wenig, bis wir mit ihm plaudern“, erwiderte Hernandez und wandte sich dem Gerichtsmediziner zu, einem jungenhaften Typen namens Pugh. „Was wissen Sie bereits?“
„Die Körpertemperatur zeigt an, dass sie vor weniger als drei Stunden gestorben ist. Ligaturspuren und subkonjunktivale Blutungen deuten stark auf eine Strangulation hin. Es gibt einige Blutergüsse an den Armen und auf der Brust, die auf eine mögliche Auseinandersetzung vor dem Tod hindeuten. Bisher gibt es keine Anzeichen für einen sexuellen Übergriff.“
„Sonst noch was?“, fragte Hernandez.
Sergeant Breem übernahm. „In der Küche haben wir eine Weinflasche mit einem Zettel gefunden. Sieht aus wie ein Begrüßungsgeschenk von ihr. Die Notiz lässt darauf schließen, dass das Opfer dachte, sie habe einen neuen Nachbarn. Aber das Paar, dem das Haus gehört, ist nicht ausgezogen. Sie sind im Urlaub und vermieten es auch an niemanden.“
„Wie eigenartig“, sagte Hernandez.
Breem nickte zustimmend.
„Wir denken, dass jemand vielleicht gerade dabei war, das Haus auszurauben, als sie reinkam. Oder jemand hat sie beobachtet, wie sie reingegangen ist, und ist ihr gefolgt.“
Hernandez sah hinüber zu Garland, der sich zu dieser Vermutung jedoch nicht äußerte. Stattdessen beugte er sich hinunter zur Leiche und betrachtete den Strumpf, der immer noch lose um Bartons Hals gewickelt war.
Das war ein seltsames Mordgerät. Garland hatte schon viele Strangulierungen gesehen, viele davon waren mit Drähten, Verlängerungskabeln oder sogar den bloßen Händen verübt worden. Aber er konnte sich nicht erinnern, dass jemand mal mit einem Strumpf zu Tode gewürgt worden war.
Er sieht teuer aus.
Er sah auf und wollte fragen, ob jemand die Marke kannte. Als er aber merkte, dass ausschließlich Männer im Foyer standen, machte er sich innerlich eine Notiz, dass er das später selbst recherchieren würde.
„Kann den jemand bitte eintüten?“, fragte er.
Ein Tatorttechniker trat zu ihm, um genau das zu tun, nahm den Strumpf mit einer Zange auf und warf ihn in einen Beweisbeutel.
„Vermutlich werden wir davon keine Fingerabdrücke nehmen können“, murmelte Breem. „Die sind hier überall weggewischt worden. An vielen Stellen im Haus gibt es überhaupt keine, noch nicht einmal von den Hausbesitzern. Wer auch immer das getan hat, hat sehr penibel darauf geachtet alles abzuwischen. Vermutlich hat er die ganze Zeit über Handschuhe getragen.“
„Können wir vielleicht Haut- oder Haarfasern von dem Strumpf kriegen?“, fragte Garland den Techniker.
„Vermutlich. Allerdings sehe ich auch Materialspuren darauf, die darauf schließen lassen, dass der Angreifer Handschuhe getragen haben könnte. Wir geben Ihnen Bescheid.“
Garland ließ Hernandez und das MBPD sich auf die Details des Tatorts konzentrieren, während er durchs Haus stromerte und versuchte, ein Gefühl dafür zu bekommen, was hier passiert sein könnte. Nirgendwo gab es ein Zeichen für eine Auseinandersetzung, was ihn vermuten ließ, dass Breems Theorie – dass man ihr entweder gefolgt war oder dass sie jemanden überrascht hatte – durchaus berechtigt war. Er wusste, dass sie es zumindest bis in die Küche geschafft hatte, bevor es passiert war. Aber wo im Haus sie sich sonst noch aufgehalten hatte, blieb ein Rätsel.
„Garland!“, hörte er Hernandez rufen.
Er ging zurück ins Foyer, wo ihn alle erwartungsvoll anstarrten.
„Ja?“
„Garth Barton will mit Ihnen reden“, sagte Hernandez. „Er besteht darauf und steht kurz vor einem Wutanfall.“
„Dann mal los“, seufzte Garland. „Ich will den VIP nicht warten lassen. Wo war er eigentlich, als das hier passiert ist?“
„Er behauptete, dass er auf dem Weg nach Hause war und dabei die ganze Zeit über ein Telefon-Meeting hatte“, sagte Breem zu ihm. „Er sagt, dass er täglich 70 bis 80 Minuten pendelt. Wir lassen das gerade überprüfen. Aber wenn er die Wahrheit sagt, dann hat er für den Zeitraum des Todes ein Alibi.“
„Das wäre schade, wenn das stimmt“, murmelte Garland leise.
„Warum?“, fragte Breem.
„Weil wir, wenn es nicht der Ehemann war, einen wirklich schwierigen Fall vor uns haben: stark frequentierte Gegend, kaum Sicherheitsvorkehrungen und wenige Sachbeweise.“ Dann fügte er mit einem zynischen Unterton, den er sich nicht verkneifen konnte, hinzu: „Ich beneide die Leute nicht, die diesen Fall hier lösen müssen.“
KAPITEL VIER
Kyle Voss wachte am nächsten Morgen auf und sprang behände aus dem Bett.
Sofort ließ er sich zu Boden fallen und machte 100 Liegestützen. Dann plankte er drei Minuten lang, gefolgt von 50 Liegestützsprüngen. Fünfzehn Minuten nach dem Aufstehen war er völlig verschwitzt, aber glücklich. Er ging ins Bad und zog sich aus.
Im Spiegel bewunderte er seinen Körper. Zwei Jahre im Gefängnis hatten zwar seine berufliche Karriere zum Stillstand gebracht, aber für seinen Körper waren sie ein Geschenk gewesen. Er war härter und fitter als er es seit seiner Zeit als Footballspieler in der High-School je gewesen war. Mit seinen knapp 1,90 Metern und soliden 98 Kilogramm war er der Meinung, dass man ihn durchaus für einen Spieler der National Football League halten könnte. Seine blonden Haare waren immer noch raspelkurz, eine Erinnerung an seinen Igelhaarschnitt vom Gefängnis. Seine blauen Augen waren klar.
Er stieg unter die Dusche, die er eiskalt aufgedreht hatte. Sorgsam wusch er jeden Zentimeter seiner Haut, darauf achtend, sich nicht zu beeilen und nicht zu zittern. Als er fertig war, trocknete er sich ab und zog seinen Lieblingsanzug an. Heute war ein wichtiger Tag, und er wollte gut aussehen.
Seit er aus dem Gefängnis entlassen worden war, hatte er sich bedeckt gehalten und die Grundlage für seine bevorstehenden Pläne gelegt, ohne allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber all das würde sich heute ändern. Heute würde er sich neu erfinden – und das vor den Augen der Öffentlichkeit. Das war ein bedeutender Schritt in seinem gesamten Plan, und alles musste reibungslos laufen. In seinem Magen spürte er ein leichtes Ziehen, und kurz darauf wurde ihm klar, dass das wohl die Nervosität sein musste.
Sein Tag war streng getaktet. Obwohl der Richter sein Verfahren eingestellt hatte, musste sich Kyle dennoch zweimal die Woche mit einem Bewährungshelfer treffen. Das machte ihm nichts aus. Bei diesen Treffen zu brillieren würde sich hundertfach bezahlt machen, wenn man irgendwann seinen Charakter anzweifeln würde.
Nach diesem Termin hatte er ein Meeting mit seiner kürzlich ins Leben gerufenen Stiftung WCP. Diese verteilte Gelder an Wohltätigkeitsorganisationen, die Häftlingen rechtlichen Beistand ermöglichten, wenn sie gegen falsche Anschuldigungen vorgehen wollten. Mit WCP konnte Kyle außerdem seine Buchhaltung etwas frisieren, was ihm schließlich dabei helfen würde, ein paar Freunden, die er hinter Gittern kennengelernt hatte, unter die Arme zu greifen.
Danach hatte er ein Interview mit einem lokalen Nachrichtensender, um über die Stiftung zu sprechen. Er hatte sich mit einer Medienexpertin getroffen, die ihm beigebracht hatte, wie er das Gespräch ausschließlich auf die Stiftung lenken konnte, ohne sich in unangenehme Fragen über die Gründe seiner Verurteilung verwickeln zu lassen – dieser ganze Kram mit Jessie. Das Interview war seine erste Testfahrt in diesen schwieriges Gewässern.
Anschließend würde er sich einem ganz anderen Thema widmen müssen. Er hatte einen Termin bei einer Vermögensverwaltung mit Sitz in Ranch Cucamonga, nicht weit von seinem Reihenhaus in Claremont entfernt. Er war in den kleinen College-Ort, etwa 50 Kilometer vom Zentrum von Los Angeles entfernt, gezogen, damit ihm niemand vorwerfen konnte, dass er sich seiner Ex-Frau unerlaubt näherte. Und wenn das Bewerbungsgespräch gut verlaufen sollte (seine Freunde in Monterrey hatten ihm versichert, dass es das würde), dann hätte er einen Legitimationsnachweis, der für das, was er für die nächsten Wochen und Monate geplant hatte, unabdingbar war.
Er brauchte die Glaubhaftigkeit und das Ansehen, das eine Position in einer hoch angesehenen Firma mit sich brachte. Außerdem brauchte er, auch wenn er es nicht gerne zugab, das Geld. Vor dieser ganzen Sache mit dem Mord hatte er einen schönen Batzen Geld verdient. Aber die Scheidung von Jessie und seine Anwälte hatten ein tiefes Loch in seine Konten gerissen. Zwar hatte er noch Zugang zu Finanzmitteln, die er während seiner Ehe geschickt verborgen gehalten hatte. Aber diese reichten nicht aus, um seine Stiftung am Laufen zu halten, seinen gewünschten Lebensstil zu finanzieren und die völlige Zerstörung der Welt seiner Ex-Frau in die Tat umzusetzen. Er brauchte dafür schlicht und ergreifend mehr Geld.
Gerade wollte er sein Frühstück beenden, da klingelte es an der Tür. Auf seinem Handy ließ er sich das Bild der Sicherheitskamera anzeigen und sah, dass es sich um seinen Bewährungshelfer handelte, was ihn nicht allzu sehr überraschte. Man hatte ihn vorgewarnt, dass solche unangekündigten Besuche nicht ungewöhnlich waren, und dass er sich dafür wappnen musste.
„Hi, Mr. Salazar“, sagte er, als er die Tür öffnete. „Ich dachte, wir treffen uns um neun in Ihrem Büro. Sie konnten es nicht erwarten, hm?“
„Sie sind sich hoffentlich bewusst, dass unangekündigte Besuche gestattet sind, Mr. Voss?“, fragte Salazar kurz angebunden.
„Natürlich“, erwiderte Kyle, als habe er ihn erwartet. „Ich dachte mir schon, dass Sie, nachdem ich so oft bei Ihnen war, endlich auch mal hier vorbeischauen. Ich bin gerade fertig mit dem Frühstück. Kann ich Ihnen was anbieten? Kaffee? Mein Rührei mit Käse ist der Hit.“
„Nein danke. Das hier wird nicht lange dauern. Ich wollte nur mal sehen, was Sie für diese Woche geplant haben, um sicherzugehen, dass Sie sich an die Vorgaben des Gerichts halten.“
„Na klar doch“, entgegnete Kyle munter, drehte sich um und ging zurück ins Haus. „Mein Terminkalender ist in der Küche.“
Salazar folgte ihm bedächtig. Kyle tat weiterhin so, als seien sie alte Freunde, die sich nach langer Zeit wiedersahen, schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein und stellte sie vor ihn auf den Tisch. Salazar nahm einen Schluck, trotz seiner vorherigen Ablehnung.
Kyle erläuterte ihm seinen Terminkalender, über den er nur wenige Augenblicke zuvor nachgedacht hatte, natürlich ohne ein paar gewisse Details. Innerhalb weniger Minuten konnte er sehen, dass Salazar zufriedengestellt war. Allerdings machte er weiter und schwadronierte über jeden Termin, den er diese Woche hatte. Sein Ziel war es, so entgegenkommend wie möglich zu wirken, so dass Salazar ihn nicht mehr so bald wieder zu Hause besuchen würde.
Es funktionierte. Weniger als zehn Minuten später machte sich der Bewährungshelfer wieder auf den Weg, mit einem To-Go-Becher Kaffee und einem Plastikbehälter mit Käse-Rührei in Händen, zu dem er dann doch nicht hatte Nein sagen können.
„Wir sehen uns am Freitag“, erinnerte er Kyle. „Punkt neun in meinem Büro.“
„Ich freu mich drauf.“
Fünf Minuten später verließ auch er das Haus. Er stieg sein Auto und winkte den FBI-Agenten, die an der gegenüberliegenden Straßenseite im Wagen saßen, zu. Dort saß, seit er eingezogen war, ununterbrochen jemand vom FBI. Innerlich ging er nochmal seinen Terminkalender durch. Er wusste, dass er zwischen all den Meetings und Interviews kaum Zeit haben würde, die bildhafte und physische Zerstörung von Jessie Hunt zu organisieren. Aber er war sich sicher, dass er es hinkriegen würde. Schließlich hatte er bereits hinter Gittern die Strippen gezogen, um ihre Karriere beinahe den Bach runtergehen zu lassen.
Dank der überragenden Hilfe des Monzon-Drogenkartells in Monterrey hatte er bereits alle möglichen Schandtaten für Jessie umsetzen lassen. Es hatte klein begonnen, indem die Kartell-Soldaten ihre Autoreifen aufgeschlitzt hatten. Dann war es damit weitergegangen, dass sie Drogen versteckt und anonym beim Sozialamt angerufen hatten, mit Andeutungen dazu, dass sie ihre Schwester misshandeln würde. Das Beste war gewesen, sich in ihre Social Media-Konten zu hacken und rassistische Parolen zu posten. Das hatte immer noch erhebliche Nachwehen, so dass seine Ex-Frau für viele in LA zur Persona non grata geworden war, auch wenn man sie genau genommen entlastet hatte.
Das Kartell sorgte dafür, dass es vor der Polizeistation, in der sie arbeitete, nach wie vor Proteste gab. Bald sollte ihr Auto mit Graffiti beschmiert werden. Und dann würden die richtig guten Sachen losgehen.
Zuerst war da die Auslöschung derjenigen, die ihr am nächsten standen. Und dann, wenn sie emotional am verletzlichsten war, würde er sie holen kommen und das tun, wovon er seit Jahren geträumt hatte. Zunächst hatte er vorgehabt, sie aufzuschlitzen und zuzusehen, wie sich ihr Gesicht vor Entsetzen zu einer Fratze verzerrte, während er ihr die Organe herausschnitt und sie vor ihren Augen verbrannte. Aber mittlerweile war ihm etwas viel Schrecklicheres in den Sinn gekommen. Er würde es dieser Schlampe heimzahlen, dass es sich gewaschen hatte.