Kitabı oku: «Eine Spur Von Schwäche », sayfa 2

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KAPITEL ZWEI

Als sie beim Haus der Caldwells ankamen, hatte Keri plötzlich ein schlechtes Gefühl im Bauch.

Immer wenn sie die Eltern eines möglichen Entführungsopfers traf, wurde sie an den Moment erinnert, in dem ihre eigene kleine Tochter von einem böswilligen Fremden mit einer tief ins Gesicht gezogener Baseballkappe über die Wiese davongetragen wurde.

Sie spürte die Panik in ihrer Kehle, wie sie dem Mann auf dem Parkplatz hinterherrannte und sah wieder, wie er Evie in seinen weißen Van warf wie eine alte Puppe. Sie spürte den Schrecken, als sie mit ansehen musste, wie dieser Mann den Teenager erstach, der ihn aufhalten wollte.

Sie spürte förmlich, wie die Kieselsteinchen ihre nackten Füße aufschnitten, als sie verzweifelt versuchte, den Van einzuholen, der bereits aus dem Parkplatz auf die schmale Straße bog. Sie durchlebte noch einmal die Hilflosigkeit, als sie bemerkte, dass sie es nicht schaffen würde, dass der Van keine Nummernschilder hatte, dass sie ihn der Polizei kaum beschreiben konnte.

Ray wusste, wie schwer diese Momente für sie waren. Er saß stumm auf dem Fahrersitz und ließ ihr einen Augenblick Zeit, um mit ihren Emotionen klar zu kommen und sich auf das bevorstehende Gespräch vorzubereiten.

„Alles okay?“, fragte er, als ihr Körper sich schließlich entspannte.

„Fast“, sagte sie und klappte den Spiegel in der Sonnenblende herunter, um sicherzugehen, dass man ihr nichts ansehen konnte.

Ihr Spiegelbild sah um einiges gesunder aus, als noch vor ein paar Monaten. Von den schwarzen Augenringen und den roten Adern in ihren Augen war nichts mehr zu sehen. Ihre Haut war nicht mehr so fleckig und ihr blonder Pferdeschwanz war nicht mehr so fettig und zerzaust.

Keri ging auf ihren sechsunddreißigsten Geburtstag zu, aber sie sah so gut aus, wie schon lange nicht mehr – seit Evie ihr vor fünf Jahren genommen wurde. Vielleicht lag es daran, dass der Sammler wieder Kontakt zu ihr aufgenommen hatte. Vielleicht lag es aber auch an den Gefühlen, die sie für Ray hatte. Wahrscheinlich hatte auch ihr Umzug dazu beigetragen, dass es ihr wieder besser ging. Endlich hatte sie ihr heruntergekommenes Hausboot gegen festen Boden unter den Füßen eingetauscht. Es könnte aber auch daran liegen, dass sich ihr Whiskeykonsum in den vergangenen Wochen stark reduziert hatte.

Woran es auch liegen mochte, sie hatte bemerkt, wie die Männer ihr wieder hinterhersahen. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte sie das Gefühl, das Chaos in ihrem Leben wieder unter Kontrolle zu haben.

Sie klappte die Sonnenblende wieder nach oben und wandte sich an Ray.

„Bin bereit“, sagte sie.

Als sie zur Haustür gingen, sah Keri sich die Nachbarschaft an. Sie waren am nördlichsten Ende von Westchester, unweit vom 405 Freeway und nur wenige Meilen südlich vom Howard Hughes Center, einem großen Einzelhandels- und Bürokomplex, der die Skyline dieses Stadtteils dominierte.

Westchester hatte den Ruf einer ruhigen Arbeiterschicht. Die meisten Häuser waren bescheidene, einstöckige Einfamilienhäuser. Doch selbst diese Beschaulichen Unterkünfte waren in den vergangenen fünf Jahren so rasant im Preis gestiegen, dass sich die Gemeinschaft jetzt aus einer Mischung von Alteingesessenen, die ihr ganzes Leben hier verbracht hatten, und jungen Arbeiterfamilien, die neu hinzugezogen waren, zusammensetzte.

Noch bevor Keri und Ray die Haustür erreichten, wurde diese bereits geöffnet und ein sichtbar beunruhigtes Pärchen erschien vor ihnen. Keri war überrascht über ihr Alter. Die Frau war eine zierliche Lateinamerikanerin mit einem strengen Kurzhaarschnitt, die bestimmt Mitte fünfzig war. Sie trug einen ausgetragenen Hosenanzug und gepflegte, aber alte schwarze Schuhe.

Der Mann war etwa einen Kopf größer als sie. Er war blass und sein blond-graues Haar wurde bereits dünner. Eine Lesebrille hing an einem Band um seinen Hals. Er war mindestens so alt wie seine Partnerin, wahrscheinlich ging er sogar schon auf die sechzig zu. Er trug eine Jogginghose und ein einfaches Hemd. Seine braunen Halbschuhe waren abgewetzt und seine Schnürsenkel nur halbherzig gebunden.

„Sind Sie die Detectives?“ fragte die Frau und streckte ihnen die Hand hin, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Jawohl, Ma’am“, antwortete Keri. „Ich bin Detective Keri Locke von der Einheit für Vermisste Personen des LAPD und das ist mein Partner, Detective Raymond Sands.“

„Es freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Ray.

Die Frau winkte sie herein.

„Vielen Dank, dass Sie so schnell kommen konnten. Ich bin Mariela Caldwell. Das hier ist mein Mann, Edward.“

Edward nickte nur zustimmend. Keri spürte ihre Unsicherheit und beschloss, direkt zum Punkt zu kommen.

„Warum setzten wir uns nicht, damit Sie uns erklären können, warum Sie sich solche Sorgen machen.“

„Natürlich“, sagte Mariela und führte die beiden Polizisten durch einen schmalen Gang, in dem unzählige Fotos von einem dunkelhaarigen Mädchen hingen, das herzlich in die Kamera lächelte. Es mussten mindestens zwanzig Fotos sein, die sie von frühestem Kindesalter bis heute zeigten. Sie kamen zu einer kleinen, gemütlichen Sitzecke. „Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee, oder einen Snack vielleicht?“

„Vielen Dank, Ma’am. Das ist nicht nötig“, antwortete Ray, während er versuchte sich auf die winzige Sitzbank zu zwängen. „Lassen Sie uns direkt beginnen. Wir brauchen möglichst viele Informationen. Soweit wir wissen, hat Sarah sich erst seit ein paar Stunden nicht mehr gemeldet. Warum sind Sie so besorgt?“

„Es sind fast fünf Stunden“, brummte Edward, der sich jetzt zum ersten Mal zu Wort meldete. Er setzte sich Ray gegenüber. „Sie hat ihre Mutter heute Mittag angerufen und gesagt, dass sie eine Freundin treffen will, die sie lange nicht mehr gesehen hat. Jetzt ist es fast fünf Uhr. Sie weiß genau, dass sie sich alle paar Stunden melden soll, wenn sie länger weg bleibt. Normalerweise würde sie wenigstens eine SMS schicken, damit wir wissen, wo sie ist.“

„Hält sie sich denn immer daran?“, fragte Ray so neutral, dass nur Keri die unterschwellige Skepsis heraushören konnte. Beide Caldwells schwiegen einen Augenblick. Keri befürchtete schon, dass diese Frage sie beleidigt hatte, als Mariela schließlich antwortete.

„Detective Sands, ich verstehe, dass das für Sie vielleicht schwer zu glauben ist, aber ja. Sie hält sich immer daran. Ed und ich waren nicht mehr ganz jung, als wir Sarah bekommen haben. Nach vielen vergeblichen Versuchen wurden wir schließlich mit diesem Geschenk des Himmels belohnt. Sie ist unser einziges Kind und ich muss zugeben, dass wir beide besonders – wie sagt man – fürsorglich sind.“

„Typische Helikopter-Eltern“, fügte Ed hinzu und lächelte liebevoll.

Auch Keri lächelte. Sie konnte die beiden gut verstehen.

Dann redete Mariela weiter: „Jedenfalls weiß Sarah, dass sie unser Ein und Alles ist und so unglaublich es auch klingen mag, sie ist es gerne. Sie backt mit mir an den Wochenenden, sie besteht jedes Jahr darauf, Ed zum Familientag auf der Arbeit zu begleiten, sie ist vor ein paar Monaten sogar freiwillig mit mir auf ein Konzert von Motley Crue gegangen. Sie ist ebenso vernarrt in uns, wie wir in sie. Gerade weil sie weiß, wie wichtig sie uns ist, hält sie uns immer auf dem Laufenden. Wir haben eine Abmachung, dass sie uns immer eine SMS schreibt, wo sie ist. Dass sie sich alle zwei Stunden bei uns meldet, haben wir nie von ihr verlangt. Das war ihre eigene Regel.“

Keri beobachtete die beiden genau. Marielas Hand lag in der von Ed. Er streichelte sanft ihren Handrücken, während sie sprach. Erst als sie alles gesagt hatte, ergriff er das Wort.

„Selbst wenn sie es heute wirklich zum ersten Mal vergessen hätte sich zu melden, wäre sie niemals so lange ohne Empfang. Wir sind mitten in einer Großstadt. Wir haben sie hundertmal angerufen und Nachrichten geschrieben. In meiner letzten habe ich ihr mitgeteilt, dass ich mich an die Polizei wende. Hätte sie auch nur eine unserer Nachrichten bekommen, dann hätte sie sich gemeldet. Außerdem habe ich Ihrem Lieutenant bereits gesagt, dass ihr GPS deaktiviert ist. Das ist noch nie vorgekommen.“

Es war dieses beunruhigende Detail, das wie eine Drohung alles andere überschattete. Keri wollte schnell zur nächsten Frage kommen, bevor sich Panik breitmachte.

„Mr. und Mrs. Caldwell, darf ich fragen, warum Sarah heute nicht in der Schule war? Es ist Freitag.“

Die Eltern sahen sie erstaunt an. Selbst Ray machte ein überraschtes Gesicht.

„Gestern war Thanksgiving. Heute ist schulfrei“, klärte Mariela sie auf.

Keris Brust zog sich zusammen. Nur Eltern waren sich solcher Details bewusst. Sie zählte nicht mehr dazu.

Evie wäre jetzt dreizehn Jahre alt. Unter normalen Umständen hätte sie sich für heute etwas überlegen müssen, um sich nicht von der Arbeit frei nehmen zu müssen. Aber normale Umstände gab es in ihrem Leben schon lange nicht mehr.

Die Rituale um Schulferien und Familienurlaub waren in den vergangenen Jahren so weit verblasst, dass sie sich kaum mehr daran erinnerte.

Jetzt wollte sie etwas zu ihrer Verteidigung sagen, aber alles, was sie herausbekam, war ein unkontrolliertes Husten. Als ihr die erste Träne in die Augen stieg, senkte sie den Kopf, damit die anderen es nicht mitbekamen. Ray schaltete sich ein.

„Sarah hatte also den ganzen Tag frei, aber Sie nicht?“, fragte er.

„Nein“, antwortete Ed. „Ich besitze einen kleinen Malerladen im Westchester-Dreieck. Ich kann mir nicht erlauben, den Laden öfter als nötig zu schließen – Thanksgiving, Weihnachten, Neujahr – das sind so ziemlich die einzigen freien Tage, die ich mir nehmen kann.“

„Ich arbeite als Anwaltsgehilfin bei einer großen Kanzlei in El Segundo. Ich wollte mir heute frei nehmen, aber wir müssen uns auf einen wichtigen Fall vorbereiten, bei dem alle Mitwirkenden gebraucht werden.“

Keri räusperte sich. Sie hatte sich soweit zusammengerissen, dass sie sich an der Unterhaltung wieder beteiligen konnte.

„Wer ist diese Freundin, mit der Sarah sich treffen wollte?“, fragte sie.

„Sie heißt Lanie Joseph“, antwortete Mariela. „Sie war Sarahs beste Freundin, als sie noch gemeinsam zur Grundschule gingen. Doch dann sind wir umgezogen und seitdem haben sie kaum mehr Kontakt. Ehrlich gesagt wäre mir lieber gewesen, wenn es dabei geblieben wäre.“

„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Keri.

Mariela zögerte einen Augenblick und Ed antwortete für sie.

„Wir haben in Culver City Süd gewohnt. Es ist zwar nicht weit von hier, aber die Gegend ist doch völlig anders. Die Menschen dort haben es nicht leicht und das merkt man bereits den Kindern an. Lanie hat eine Art an sich, die uns nicht immer gefallen hat. Schon als sie jung war, ging es uns so, aber jetzt ist es noch schlimmer geworden. Ich möchte niemanden verurteilen, aber wir haben den Eindruck, dass sie einen gefährlichen Weg eingeschlagen hat.“

„Wir haben lange gespart“, mischte sich Mariela wieder ein. Sie wollte offenbar nicht länger negativ über andere Menschen reden. „Als Sarah in die Mittelstufe kam, sind wir dann hierher gezogen. Wir haben dieses Haus gekauft, kurz bevor die Preise explodiert sind. Das Haus ist klein, aber wir sind froh, dass wir es haben. Es war nicht einfach, aber wir hätten alles dafür getan, dass Sarah in einer besseren Gegend aufwächst.“

„Die beiden hatten also nicht mehr viel Kontakt“, schloss Ray. „Wieso gerade jetzt?“

„Sie haben sich noch ein paarmal pro Jahr getroffen“, erklärte Ed. „Sarah hat uns erzählt, dass Lanie ihr gestern geschrieben hatte, dass sie sie heute unbedingt treffen wollte. Sie sagte aber nicht, warum.“

Mariela sah traurig aus. „Sarah ist so ein liebes, hilfsbereites Mädchen, sie kommt ohne zu zögern jeder Bitte nach. Gestern Nacht sagte sie zu mir ‚Was für eine Freundin wäre ich, wenn ich nicht für sie da wäre, wenn sie mich braucht?‘“

Marielas Stimme versagte.

Keri sah, wie Ed ihre Hand in stiller Unterstützung drückte und beneidete sie dafür. Selbst in dieser ungewissen Situation waren sie eine liebevolle Einheit, beendeten die Sätze des anderen und spendeten sich moralischen Beistand. Es wirkte fast, als würde ihre Liebe ihnen die Kraft geben, all das durchzustehen. Keri erinnerte sich an eine Zeit, in der sie geglaubt hatte, das gleiche zu haben.

„Hat Sarah erwähnt, wo sie sich treffen wollten?“, fragte sie.

„Nein, bis heute Mittag hatten sie noch nichts ausgemacht. Ich bin aber sicher, dass sie sich irgendwo in der Nähe getroffen haben – vielleicht im Howard Huges Center oder in der Fox Hills Mall. Sarah hat noch keinen Führerschein, sie würde einen Ort auswählen, den sie leicht mit dem Bus erreichen konnte.“

„Können Sie uns vielleicht ein paar Fotos von ihr geben?“, fragte Keri Mariela, die sofort aufstand.

„Ist Sarah in den sozialen Netzwerken aktiv?“, fragte Ray.

„Sie ist auf Facebook, Instagram und Twitter. Sonst weiß ich nichts. Warum?“, fragte Ed.

„Manchmal findet man wichtige Hinweise in den Profilen der Kids. Haben Sie denn Zugriff auf ihre Accounts?“

„Nein“, sagte Mariela und zog ein Foto nach dem anderen aus den Bilderrahmen. „Wir hatten nie einen Grund, danach zu fragen. Sie zeigt uns aber ständig ihre Einträge und Posts. Ich hatte nie das Gefühl, dass sie irgendetwas vor uns verheimlicht. Auf Facebook sind wir sogar befreundet. Können Sie sich nicht den Zugang verschaffen?“

„Doch, das können wir“, sagte Keri. „Aber das dauert, wenn wir die Passworte nicht haben. Zuerst brauchen wir eine gerichtliche Verfügung. Nach der aktuellen Lage haben wir keine ausreichende Begründung dafür.“

„Nicht einmal, wenn ihr GPS ausgeschaltet ist?“, fragte Ed.

„Das hilft unserem Gesuch“, sagte Keri, „aber momentan ist das bestenfalls nebensächlich. Sie haben uns ausführlich dargelegt, warum diese Situation außergewöhnlich ist, aber auf dem Papier wird das nicht reichen um einen Richter zu überzeugen. Lassen Sie sich nicht entmutigen, wir stehen noch ganz am Anfang. Unser nächster Schritt ist es, die Ermittlungen einzuleiten. Ich möchte bei Lanie und ihrer Familie beginnen. Haben Sie ihre Adresse?“

„Ja“, sagte Mariela und übergab Keri eine Handvoll Fotos, bevor sie ihr Handy nach dem entsprechenden Kontakt durchsuchte. „Leider bin ich nicht sicher, ob das eine Hilfe ist. Lanies Vater ist nicht mehr bei seiner Familie und ihre Mutter ist… nun… eher unbeteiligt. Trotzdem, hier ist die Adresse.“

Keri schrieb sich auf, was sie wissen musste und dann begaben sich alle wieder zur Haustür. Sie verabschiedeten sich mit einem förmlichen Handschlag, was Keri seltsam vorkam, nachdem sie sich gerade über solch vertrauliche Themen unterhalten hatten.

Sie und Ray waren schon fast bei ihrem Wagen, als Edward Caldwell ihnen eine letzte Frage hinterherrief.

„Entschuldigen Sie, aber Sie sagten, dass das erst der Anfang ist. Das klingt nach einem langen Prozess. Ich habe einmal gehört, dass die ersten 24 Stunden nach dem Verschwinden einer Person die wichtigsten sind. Ist das wahr?“

Keri und Ray tauschten einen stummen Blick aus, bevor sie sich an Caldwell wandten. Sie wussten nicht genau, was sie antworten sollten. Ray übernahm es schließlich.

„Das ist wahr, Sir, aber noch gibt es keinen Beweis, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignet hat. Es ist gut, dass Sie sich sofort gemeldet haben. Ich weiß, dass es für Sie schwer ist, aber versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen. Ich verspreche, dass wir uns bald melden werden.“

Damit stiegen sie in ihren Wagen. Als Keri ganz sicher war, dass man sie nicht mehr hören konnte, murmelte sie: „Gut gelogen.“

„Ich habe nicht gelogen. Alles, was ich gesagt habe, ist wahr. Sie könnte noch immer jeden Augenblick nach Hause kommen.“

„Das stimmt, aber mein Instinkt sagt mir, dass es nicht so einfach sein wird.“

KAPITEL DREI

Auf dem Weg nach Culver City Süd saß Keri auf dem Beifahrersitz und machte sich stille Vorwürfe. Auch wenn sie eigentlich nichts falsch gemacht hatte, hatte sie immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ihr nicht bewusst gewesen war, dass heute ein schulfreier Tag war. Sogar Ray hatte es gewusst.

Sie hatte das Gefühl, keine richtige Mutter mehr zu sein und das machte ihr Angst. Wie lange würde es noch dauern, bis sie andere, persönlichere Kleinigkeiten vergaß. Vor ein paar Wochen hatte sie einen anonymen Hinweis bekommen, der sie zu dem Foto eines Teenagers geführt hatte. Keri hatte einfach nicht mit Gewissheit sagen können, ob das Mädchen auf dem Foto ihre Tochter war.

Gut, sie war schon seit fünf Jahren verschwunden und das Foto war sowohl aus einiger Entfernung aufgenommen als auch von schlechter Qualität. Aber die Tatsache, dass sie nicht auf Anhieb sagen konnte, ob es sich um ihre Tochter handelte, hatte sie schwer erschüttert. Obwohl der Techniker ihrer Einheit, Detective Kevin Edgerton, ihr gesagt hatte, dass nicht einmal die digitale Gesichtserkennung bestimmen konnte, ob es sich um das gleiche Mädchen handelte, schämte sie sich noch immer deswegen.

Ich hätte es einfach wissen müssen. Eine gute Mutter hätte sofort ihr eigenes Kind erkannt.

„Wir sind da“, sagte Ray leise.

Keri blickte auf und stellte fest, dass sie nur wenige Häuser von Lanie Josephs Adresse entfernt waren.

Die Caldwells hatten es ganz richtig beschrieben. Diese Straße lag zwar nur fünf Meilen von ihrem Eigenheim entfernt, aber man sah der Gegend an, dass hier rauere Sitten herrschten.

Es war erst 5 Uhr 30, aber die Sonne war bereits fast untergegangen. Es wurde langsam kühl. Kleine Gruppen von jungen Männern lungerten in Einfahrten herum, tranken Bier und rauchten Zigaretten, die verdächtig dick wirkten. Die meisten Vorgärten waren eher braun als grün und die Gehsteige waren kaputt und von Unkraut übersät. Die meisten Häuser in dieser Straße waren unauffällige Stadthäuser oder Mehrfamilienhäuser mit Metallgittern an Fenstern und Türen.

„Sollten wir eine Einheit von Culver City anfordern? Was meinst du?“, fragte Ray. „Genau genommen sind wir für diese Gegend nicht zuständig.“

„Nein, das würde viel zu lange dauern und außerdem möchte ich kein Aufsehen erregen. Wenn Sarah wirklich etwas zugestoßen ist, sollten wir schnell handeln.“

„Dann mal los“, sagte er.

Sie stiegen aus dem Wagen und gingen zügig auf das Haus zu, das Mariela Caldwell notiert hatte. Lanie wohnte mit ihrer Familie in der vorderen Hälfte einer Wohneinheit für zwei Familien an der Ecke Corinth Street und Culver Boulevard. Der Freeway 405 führte so dicht an dem Haus vorbei, dass Keri die Haarfarbe der Fahrer erkennen konnte.

Als Ray an die Sicherheitstür klopfte, fiel Keris Blick auf fünf junge Männer, die zwei Häuser weiter um den Motor einer Corvette standen. Einige von ihnen warfen misstrauische Blicke auf sie, sodass sie sich wie ein Eindringling vorkam. Keiner von ihnen sprach sie an.

Im Inneren hörten sie mehrere Kinder durcheinanderschreien und nach etwa einer Minute wurde die Haustür von einem blonden Jungen geöffnet, der nicht viel älter als fünf Jahre sein konnte. Er trug zerschlissene Jeans und ein weißes T-Shirt, auf das jemand ein Superman-‚S‘ gemalt hatte.

Er verdrehte sich fast den Hals um zu Ray aufzublicken. Dann wanderte sein Blick zu Keri, die er wohl als weniger bedrohlich empfand.

„Was wollen Sie, Lady?“, fragte er neugierig.

Keri spürte, dass dieses Kind nicht allzu oft liebevolle Zuwendung erfuhr, also kniete sie sich vor ihn und redete mit sanfter Stimme:

„Wir sind Polizisten und wir müssten kurz mit deiner Mama reden.“

Unbeeindruckt drehte sich der Kleine um und rief: „Mum! Die Bullen wollen mit dir reden!“ Das war scheinbar nicht das erste Mal, dass sich Polizeibeamten bei ihnen einfanden.

Keri sah, dass Ray zu den Männern bei der Corvette blickte.

„Haben wir ein Problem da drüben?“, fragte sie ohne selbst hinzusehen.

„Noch nicht“, entgegnete Ray leise. „Aber das kann sich jederzeit ändern. Wir sollten es kurz machen.“

„Was für Polizisten seid ihr denn?“, fragte der Junge. „Ihr habt gar keine Uniform. Seid ihr Undercover?“

„Wir sind Detectives“, sagte Ray und beschloss, mit der Befragung nicht länger zu warten. „Wann hast du Lanie zuletzt gesehen?“

„Hat sie etwa schon wieder Ärger gemacht?“, sagte er und grinste schadenfroh. „Das ist nichts Neues. Sie wollte sich heute Mittag mit ihrer schlauen Freundin treffen. Wahrscheinlich hofft sie, dass es sich auf sie abfärbt.“

In diesem Augenblick kam eine Frau in grauem Jogginganzug um die Ecke geschlurft. Keep Walking stand auf ihrem Sweatshirt. Während sie langsam zur Haustüre kam, sah Keri sie genau ein. Sie war etwa in Keris Alter, aber sie wog um die 100 Kilo.

Ihre blasse Haut hob sich kaum von dem Hellgrau ihres Jogginganzugs ab, genau wie ihr blassblondes Haar, das zu einem schlampigen Zopf geknotet war.

Ihr Gesicht spiegelte wider, wie ausgelaugt und erschöpft sie sich fühlen musste. Sie hatte tiefe dunkle Ränder unter den Augen und aufgedunsene, pockennarbige Haut, vielleicht vom Alkohol. Dennoch konnte man sehen, dass sie einst eine attraktive Frau gewesen war, doch das Leben hatte seine Spuren hinterlassen.

„Was hat sie jetzt schon wieder angestellt?“, fragte sie. Sie schien noch weniger überrascht als ihr Sohn, dass die Polizei vor ihrer Tür stand.

„Sind Sie Mrs. Joseph?“, fragte Keri.

„Mrs. Joseph bin ich seit sieben Jahren nicht mehr, seit Mr. Joseph mich für eine junge Masseuse namens Kayley verlassen hat. Jetzt bin ich Mrs. Hart, auch wenn Mr. Hart sich Sang- und Klanglos vor achtzehn Monaten aus dem Staub gemacht hat. Ist mir zu teuer, schon wieder den Namen zu ändern, also belasse ich es dabei.“

„Wir sind auf der Suche nach Lanie Josephs Mutter“, fuhr Ray fort. „Sie sind also…?“

„Joanie Hart. Ich bin die Mutter von fünf Teufelsbraten, einschließlich der, die Sie suchen. Was genau hat sie diesmal ausgefressen?“

„Wir wissen nicht, ob sie überhaupt etwas getan hat, Mrs. Hart“, beschwichtigte Keri ihr Gegenüber, der die Anwesenheit von Polizisten sichtlich unangenehm war. „Wir sind hier, weil sie sich angeblich mit Sarah Caldwell getroffen hat. Sarahs Eltern machen sich Sorgen, weil sie ihre Tochter nicht mehr erreichen können. Wann haben Sie zuletzt von Lanie gehört?“

Joanie Hart sah sie an, als käme sie von einem anderen Planeten.

„Ich habe nicht die Zeit, über solche Dinge Buch zu führen“, sagte sie. „Ich habe den ganzen Tag gearbeitet. Die Tankstelle hat rund um die Uhr geöffnet, Thanksgiving hin oder her. Ich bin erst vor einer halben Stunde nach Hause gekommen. Ich habe also keine Ahnung, wo Lanie ist. Das ist nichts Besonderes. Sie sagt mir eigentlich nie, wohin sie geht. Sie liebt ihre kleinen Geheimnisse. Ich glaube, sie hat einen Freund, von dem ich nichts wissen soll.“

„Hat sie seinen Namen erwähnt?“

„Wie schon gesagt, ich weiß nicht einmal, ob es ihn wirklich gibt. Zuzutrauen wäre es ihr. Sie provoziert mich gerne. Aber ich bin zu müde um mich provozieren zu lassen. Wahrscheinlich macht sie das wütend. Sie wissen ja sicher, wie das läuft“, sagte sie zu Keri, die in Wahrheit überhaupt nicht wusste, wie das läuft.

Keri wurde langsam wütend auf diese Frau, die weder wusste, noch sich dafür interessierte, wo ihre Tochter war. Joanie hatte sich mit keinem Wort nach ihr erkundigt und sie wirkte überhaupt kein bisschen besorgt. Ray ahnte wohl, was in Keri vorging, also mischte er sich schnell ein.

„Wir brauchen Lanies Handynummer und ein möglichst aktuelles Foto von ihr“, sagte er.

Joanie sah jetzt doch betroffen aus, sagte aber nichts dazu.

„Einen Moment“, sagte sie und entfernte sich wieder von der Haustür.

Keri sah Ray an, der ihr mit einem Kopfschütteln signalisierte, dass auch ihm diese Frau nicht gefiel.

„Ich würde lieber im Auto warten“, sagte Keri, „sonst sage ich noch etwas … Kontraproduktives zu dieser Frau.“

„Vielleicht keine schlechte Idee. Ich schaffe das hier allein. Vielleicht könntest du Edgerton anrufen und herausfinden, ob er nicht doch auf die sozialen Netzwerke zugreifen kann. Schließlich kann man die Regeln in bestimmten Fällen auch etwas lockerer auslegen.“

„Raymond Sands, du bist mein Star“, sagte sie und war augenblicklich wieder besser gelaunt. „Scheinbar färben meine teils unkonventionellen Methoden langsam auf dich ab. Das gefällt mir.“

Sie drehte sich um und sprang zum Auto, bevor er etwas entgegnen konnte. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die Männer nebenan sie die ganze Zeit beobachteten. Plötzlich spürte sie, wie kalt die Luft war und zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis obenhin zu. Obwohl der November in Los Angeles recht angenehm war, konnte einen die kühle Luft doch zum frösteln bringen, wenn man nicht direkt in der Sonne war. Die unangenehmen Blicke dieser Männer trugen vielleicht zusätzlich zu Keris Gänsehaut bei.

Anstatt in den Wagen einzusteigen, lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen. So konnte sie weiterhin Lanies Haus und die Nachbarn im Auge behalten, während sie Edgertons Nummer wählte.

„Edgerton hier“, meldete er sich enthusiastisch. Kevin Edgerton war mit seinen achtundzwanzig Jahren der jüngste Mann auf dem Revier. Er war groß und schlaksig. Außerdem war er ein wahres Computergenie, verantwortlich für mehr als einen technischen Durchbruch in so manchem Kriminalfall.

Darüber hinaus hatte er Keri geholfen mit dem Sammler in Kontakt zu treten. Jetzt sah Keri vor ihrem inneren Auge, wie er seine dicken braunen Strähnen aus den Augen strich. Sie begriff nicht, warum er sich nicht endlich einen anständigen Haarschnitt zulegte.

„Hi Kevin, Keri hier. Ich brauche deine Hilfe. Kannst du dir vielleicht Zugang zu ein paar gewissen Online-Profilen verschaffen? Es geht um Sarah Caldwell aus Westchester, sechzehn Jahre alt. Die andere junge Dame heißt Lanie Joseph, ebenfalls sechzehn, aus Culver City Süd. Bitte halte mir keinen Vortrag über gerichtliche Verfügungen. Es ist dringend und wir…“

„Schon geschehen“, unterbrach Edgerton sie.

„Was? Das ging schnell“, sagte sie erstaunt.

„Naja, Caldwell ist nicht ganz so einfach. Ihre Accounts sind mit Passwörtern geschützt und ich muss mit ihr verlinkt sein, um ihre Seite zu sehen. Ich könnte das Passwort knacken, aber du weißt ja, legal ist das nicht. Josephs Seite ist hingegen ein offenes Buch. Jeder kann sehen, was sie macht. Ich sehe es mir in diesem Augenblick an.“

„Gibt es irgendwo einen Hinweis darauf, was sie heute ab Mittag gemacht hat?“, fragte Keri und bemerkte, dass drei Männer aus der Einfahrt auf sie zugingen.

Die beiden anderen schienen Ray weiter zu beobachten, der noch immer vor Joanie Harts Tür stand und darauf wartete, dass sie ein Foto von ihrer Tochter fand. Keri verlagerte ihr Gewicht ein wenig. Sie lehnte noch immer mit dem Rücken an dem Wagen. Doch jetzt konnte sie schneller reagieren, falls es nötig wäre.

„Auf Facebook ist seit gestern Abend nichts passiert, aber sie hat heute Mittag ein paar Fotos mit einem anderen Mädchen zusammen auf Instagram gepostet. Ich nehme an, es handelt sich um Sarah Caldwell. Sie waren in der Fox Hills Mall. Eines der Fotos wurde in einem Modegeschäft aufgenommen, das andere an einem Makeup-Stand. Das letzte zeigt sie an einem Esstisch mit einer Riesenbrezel. Titel Yummy, Zeit: 2 Uhr und 6 Minuten.“

Die drei Männer bogen jetzt in den Garten der Harts ein. Sie waren nur noch wenige Meter entfernt.

„Danke Kevin, letzte Bitte: Ich werde dir die Handynummern der Mädchen schicken. GPS ist wahrscheinlich bei beiden deaktiviert, aber ich will wissen, wo sie zuletzt waren“, sagte sie, als die Männer sich vor ihr aufbauten. „Ich melde mich wieder.“

Sie legte auf, bevor er etwas sagen konnte und steckte ihr Handy in die Hosentasche. Dabei öffnete sie unauffällig den Verschluss ihres Holsters.

Schweigend sah sie die Männer an. Dann stemmte sie ihr rechtes Bein gegen den Wagen. So hatte sie zusätzliche Kraft, wenn sie sich schnell bewegen musste.

„Guten Abend, die Herren“, sagte sie schließlich in freundlichem Tonfall, „recht frisch heute Abend, nicht?“

Ein kleiner Lateinamerikaner – offenbar der Anführer dieses Rudels – drehte sich zu seinen Freunden um. „Hat diese Schlampe gerade gesagt, es wäre recht frisch?“ Er war zwar klein, aber unter seinem riesigen Flanellhemd konnte Keri nicht erkennen, welche Statur er hatte. Die beiden anderen waren groß und dünn. Ihre Hemden hingen locker herab, als wären sie wandelnde Skelette. Einer der beiden war weiß, der andere ebenfalls südamerikanischer Herkunft.

„Das ist schön, ihr nehmt heutzutage auch weiße in eure Gangs auf“, sagte sie und wies mit dem Kinn auf den Mann, der offensichtlich nicht zu den anderen beiden passte. „Gab es nicht genügend willige Handlanger in der Familie?“

Es war eigentlich nicht Keris Art, aber sie musste versuchen die Gruppe aufzuspalten und sie wusste, dass viele dieser Gangs sehr speziell damit waren, wen sie aufnahmen und wen nicht.

„Die große Klappe wird dir noch Ärger einfahren, Missy“, zischte der Anführer.

„Yeah, Ärger“, wiederholte der große weiße Typ. Der andere sagte nichts.

„Wiederholst du immer, was dein Boss sagt?“, fragte Keri den Weißen. „Sammelst du auch den Müll ein, den er so fallen lässt?“