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KAPITEL ZWEI

Noch beim Abendessen konnte Riley den Streichholzbrief-Killer nicht aus ihren Gedanken verbannen. Sie hatte den ungelösten Fall als Beispiel für ihren Unterricht verwendet, weil sie wusste, dass sie bald wieder davon hören würde.

Riley versuchte sich auf den köstlichen Eintopf zu konzentrieren, den Gabriela für sie zubereitet hatte. Ihre Haushälterin war eine wundervolle Köchin. Riley hoffte, dass sie nicht bemerken würde, welche Schwierigkeiten sie damit hatte, das Essen an diesem Abend entsprechend zu würdigen. Aber natürlich entging es den Mädchen nicht.

"Was ist los, Mom?", fragte April, Rileys fünfzehnjährige Tochter.

"Ist etwas passiert?", fragte Jilly, das dreizehnjährige Mädchen, das Riley hoffte adoptieren zu können.

Von ihrem Platz auf der anderen Seite des Tisches warf auch Gabriela ihr einen besorgten Blick zu.

Riley wusste nicht, was sie sagen sollte. Morgen würde sie eine Erinnerung an den Streichholzbrief-Killer bekommen – einen Anruf, der jedes Jahr aufs Neue kam. Es hatte keinen Sinn, den Gedanken daran zu vermeiden.

Aber sie brachte nicht gerne Arbeit mit nach Hause zu ihrer Familie. Manchmal, trotz all ihrer Bemühungen, hatte sie ihre Liebsten in schreckliche Gefahr gebracht.

"Es ist nichts", sagte sie.

Die Vier setzten für einige Minuten ihr Essen schweigend fort.

Schließlich sagte April, "Es ist Dad, oder nicht? Es stört dich, dass er heute wieder nicht zu Hause ist."

Die Frage überraschte Riley. Die Abwesenheit ihres Ex-Mannes störte sie tatsächlich in letzter Zeit. Sie und Ryan hatten sich viel Mühe gegeben, sich nach einer schmerzhaften Scheidung wieder zu versöhnen. Jetzt schien der Fortschritt wieder einzubrechen und Ryan hatte mehr und mehr Zeit in seinem eigenen Zuhause verbracht.

Aber Ryan war gerade nicht in ihren Gedanken gewesen.

Was sagte das über sie selbst?

Wurde sie stumpf gegenüber ihrer auseinanderfallenden Beziehung?

Hatte sie aufgegeben?

Die drei Gesichter um den Esstisch sahen sie an, warteten auf eine Antwort.

"Es ist ein Fall", sagte Riley. "Er beschäftigt mich immer zu dieser Zeit des Jahres."

Jillys Augen wurden groß vor Aufregung.

"Erzähl uns davon!", sagte sie.

Riley fragte sich, wie viel sie den Kindern erzählen sollte. Sie wollte die Details der Morde nicht mit ihrer Familie teilen.

"Es ist ein ungelöster Fall", sagte sie. "Eine Reihe von Morden, die weder die örtliche Polizei, noch das FBI lösen konnten. Ich versuche seit Jahren, ihn zu knacken."

Jilly hüpfte regelrecht auf ihrem Stuhl auf und ab.

"Wie wirst du ihn lösen?"

Die Frage traf Riley unvermutet.

Natürlich wusste sie, dass Jilly es nicht böse meinte – ganz im Gegenteil. Das junge Mädchen war stolz darauf, eine Mutter zu haben, die für das Justizsystem arbeitete. Und sie dachte noch immer, dass Riley eine Art Superheldin war, die nicht versagen konnte.

Riley unterdrückte ein Seufzen.

Vielleicht ist es an der Zeit ihr zu sagen, dass ich nicht immer den Schuldigen fasse, dachte sie.

Aber Riley sagte einfach, "Ich weiß es nicht."

Es war die einfache, ehrliche Wahrheit.

Aber es gab etwas, das Riley wusste.

Tilda Steens fünfundzwanzigjähriger Todestag war morgen und sie würde ihn nicht so schnell aus ihrem Kopf verbannen können.

Zu Rileys Erleichterung wandte sich das Gespräch dem leckeren Abendessen von Gabriela zu. Die stämmige Frau aus Guatemala und die Mädchen fingen an, sich auf Spanisch zu unterhalten und Riley hatte Mühe allem zu folgen, was gesagt wurde.

Aber das war okay. April und Jilly lernten Spanisch und April wurde immer flüssiger. Jilly kämpfte noch mit der Sprache, aber Gabriela und April halfen ihr dabei, sie zu lernen.

Riley sah ihnen lächelnd zu.

Jilly sieht so gut gelaunt aus, dachte sie.

Sie war noch immer das dunkelhäutige, dünne Mädchen – aber kaum das verzweifelte, misshandelte Kind, das Riley aus den Straßen von Phoenix gerettet hatte. Sie war robust und gesund und sie schien sich gut in ihr neues Leben in Rileys Familie einzufinden.

Und April hatte sich als perfekte große Schwester herausgestellt. Sie erholte sich gut von den Traumata, die sie erlitten hatte.

Manchmal, wenn sie April ansah, dann hatte Riley das Gefühl in einen Spiegel zu sehen – ein Spiegel, der ihr ihr eigenes Teenager-Selbst zeigte. April hatte Rileys Augen und die dunklen Haare, auch wenn sie noch nicht wie Rileys mit Grau durchzogen waren.

Riley spürte ein warmes Gefühl der Bestätigung.

Vielleicht mache ich wenigstens gute Arbeit als Mutter, dachte sie.

Aber das warme Gefühl schwand schnell wieder.

Der mysteriöse Streichholzbrief-Killer beschäftigte sie noch immer.

*

Nach dem Abendessen ging Riley in ihr Schlafzimmer und Büro. Sie setzte sich vor ihren PC und atmete einige Mal tief durch, im Versuch sich zu entspannen. Aber die Aufgabe, die vor ihr lag, machte sie nervös.

Es erschien ihr albern, sich so zu fühlen. Schließlich hatte sie unzählige gefährliche Mörder über die Jahre gejagt und festgenommen. Ihr eigenes Leben war öfter bedroht gewesen, als sie zählen konnte.

Mit meiner Schwester zu sprechen sollte doch nicht so schwer sein, dachte sie.

Aber sie hatte Wendy lange nicht gesehen … wie viele Jahre war es jetzt her?

Nicht mehr seit Riley ein kleines Mädchen gewesen war. Wendy hatte sie kontaktiert, nachdem ihr Vater gestorben war. Sie hatten telefoniert und die Möglichkeit eines persönlichen Treffens besprochen. Aber Wendy lebte weit weg in Des Moines, Iowa, und sie waren nicht in der Lage gewesen einen Termin zu finden. Also hatten sie sich auf einen Videoanruf geeinigt.

Um sich vorzubereiten, sah Riley auf das gerahmte Foto, das neben ihr auf dem Schreibtisch stand. Sie hatte es nach dem Tod ihres Vaters unter seinen Sachen gefunden. Es zeigte Riley, Wendy und ihre Mutter. Riley sah aus, als wäre sie etwa vier Jahre alt und Wendy musste im Teenageralter sein.

Beide Mädchen und ihre Mutter sahen beide glücklich aus.

Riley konnte sich nicht erinnern, wann und wo das Foto gemacht worden war.

Und sie konnte sich sicherlich nicht daran erinnern, dass ihre Familie jemals glücklich gewesen war.

Ihre Hände kalt und zittrig, tippte sie Wendys Videoadresse ein.

Die Frau, die auf dem Bildschirm erschien, könnte ebenso gut eine vollkommen Fremde sein.

"Hi, Wendy", sagte Riley schüchtern.

"Hi", erwiderte Wendy.

Dann starrten sie sich beide für einen Moment unbehaglich an.

Riley wusste, dass Wendy etwa fünfzig Jahre alt war, zehn Jahre älter als sie. Die Jahre standen ihr gut. Sie war ein wenig kräftiger und sah durch und durch normal aus. Ihre Haare waren nicht grau, wie Rileys, aber sie bezweifelte, dass es ihre natürliche Haarfarbe war.

Riley sah zwischen dem Foto und Wendys Gesicht hin und her. Sie bemerkte, dass Wendy ein wenig wie ihre Mutter aussah. Riley wusste, dass sie immer mehr nach ihrem Vater ausgesehen hatte. Sie war nicht gerade stolz auf diese Ähnlichkeit.

"Also", sagte Wendy schließlich, um die Stille zu durchbrechen. "Was hast du so gemacht … in den letzten Jahrzehnten?"

Riley und Wendy mussten beide lachen. Aber selbst ihr Lachen klang gezwungen und ungelenk.

Wendy, fragte, "Bist du verheiratet?"

Riley seufzte laut. Wie konnte sie erklären, was zwischen ihr und Ryan vorging, wenn sie es selber nicht wirklich verstand?

Sie sagte, "Na ja, wie die Kinder heutzutage so schön sagen, 'Es ist kompliziert.' Und ich meine wirklich kompliziert."

Mehr nervöses Lachen.

"Und du?", fragte Riley.

Wendy schien sich ein wenig zu entspannen.

"Für Loren und mich sind es bald fünfundzwanzig Jahre. Wir sind beide Apotheker und haben eine eigene Apotheke. Loren hat sie von seinem Vater geerbt. Wir haben drei Kinder. Der jüngste, Barton, ist gerade im College. Thora und Parish sind beide verheiratet und haben ihr eigenes Leben. Ich nehme an, das macht mich und Loren zu klassischen Empty-Nestern."

Riley spürte einen seltsam melancholischen Stich.

Wendys Leben war so anders als ihr eigenes. Tatsächlich schien Wendys Leben vollkommen normal zu sein.

Wie schon beim Abendessen mit April, schien sie auch jetzt in einen Spiegel zu blicken.

Außer, dass es kein Spiegel in ihre Vergangenheit war.

Sie sah ihr zukünftiges Selbst – jemand, der sie hätte werden können, aber nun niemals sein würde.

"Was ist mit dir?", fragte Wendy. "Hast du Kinder?"

Wieder fühlte Riley sich versucht zu sagen:

'Es ist kompliziert.'

Stattdessen sagte sie, "Zwei. April ist fünfzehn. Und ich bin dabei noch eine zu adoptieren – Jilly, die dreizehn ist."

"Adoption! Mehr Leute sollten das tun. Das finde ich klasse."

Riley hatte nicht das Gefühl einen Glückwunsch zu verdienen. Sie würde sich vielleicht besser fühlen, wenn sie wüsste, dass Jilly mit zwei Elternteilen aufwachsen würde. Im Moment war dies jedoch zu bezweifeln. Das wollte sie aber nicht mit Wendy diskutieren.

Stattdessen gab es etwas, das sie mit ihrer Schwester klären musste.

Und sie befürchtete, dass es unangenehm werden würde.

"Wendy, du weißt, dass Daddy mir in seinem Testament seine Hütte hinterlassen hat", sagte sie.

Wendy nickte.

"Ich weiß", sagte sie. "Du hast mir Fotos geschickt. Sieht nach einem netten Ort aus."

Die Worte hatten für Riley einen misstönenden Klang.

" … ein netter Ort."

Riley war einige Mal dort gewesen – das letzte Mal kurz nach dem Tod ihres Vaters. Aber ihre Erinnerungen waren alles andere als erfreulich. Ihr Vater hatte die Hütte nach seinem Eintritt in den Ruhestand als US Marine Kommandant gekauft. Riley erinnerte sich an das Haus als das eines einsamen, gemeinen alten Mannes, der jeden gehasst hatte – und im Gegenzug von jedem gehasst wurde. Das letzte Mal, als Riley ihn lebend gesehen hatte, war es zu einem Schlagabtausch gekommen.

"Ich denke, es war ein Fehler", sagte sie.

"Was?"

"Mir die Hütte zu hinterlassen. Das war falsch von ihm. Du hättest sie bekommen sollen."

Wendy sah aufrichtig überrascht aus.

"Warum?", fragte sie.

Riley spürte hässliche Emotionen in sich aufwallen. Sie räusperte sich.

"Weil du am Ende für ihn da warst, als er im Hospiz war. Du hast dich um ihn gekümmert. Du hast dich sogar danach um ihn gekümmert – die Beerdigung und die Papiere erledigt. Ich war nicht da. Ich––"

Sie erstickte fast an ihren nächsten Worten.

"Ich denke nicht, dass ich das hätte tun können. Die Dinge zwischen uns waren nicht gut."

Wendy lächelte traurig.

"Die Dinge zwischen mir und ihm waren auch nicht gut."

Riley wusste, dass das stimmte. Arme Wendy – Daddy hatte sie regelmäßig geschlagen, bis sie schließlich mit fünfzehn weggelaufen war. Und trotzdem hatte Wendy den Anstand gehabt, sich am Ende um ihn zu kümmern.

Riley hätte das nicht getan und sie fühlte sich deswegen auch nicht schuldig.

Riley sagte, "Ich weiß nicht, was die Hütte wert ist. Sie muss zumindest etwas wert sein. Ich will, dass du sie bekommst."

Wendys Augen weiteten sich erschrocken.

"Nein", sagte sie.

Die Direktheit der Antwort überraschte Riley.

"Warum nicht?", fragte Riley.

"Ich kann nicht. Ich will sie nicht. Ich will alles über ihn vergessen."

Riley wusste, wie sie sich fühlte. Sie fühlte sich genauso.

Wendy fügte hinzu, "Du solltest sie einfach verkaufen. Behalte das Geld. Ich will, dass du es behältst."

Riley wusste nicht, was sie sagen sollte.

Glücklicherweise wechselte Wendy das Thema.

"Bevor Dad gestorben ist, hat er mir erzählt, dass du BAU Agentin bist. Wie lange machst du diese Arbeit schon?"

"Etwa zwanzig Jahre", sagte Riley.

"Nun. Ich denke, Dad war stolz auf dich."

Ein bitteres Lachen stieg in Rileys Kehle auf.

"Nein, das war er nicht", sagte sie.

"Woher weißt du das?"

"Oh, das hat er mich wissen lassen. Er hatte seine eigene Art, Dinge zu kommunizieren."

Wendy seufzte.

"Ich nehme an, das hatte er", sagte sie.

Ein unangenehmes Schweigen senkte sich über sie. Riley fragte sich, über was sie reden sollten. Schließlich hatten sie seit Jahren nicht gesprochen. Sollten sie noch einmal versuchen, ein persönliches Treffen auszumachen? Riley konnte sich nicht vorstellen nach Des Moines zu reisen, nur um diese Fremde namens Wendy zu besuchen. Und sie war sich sicher, dass es Wendy mit einem Besuch in Fredericksburg ähnlich ging.

Was könnten sie schließlich gemeinsam haben?

In dem Moment klingelte Rileys Festnetz Telefon auf dem Schreibtisch. Sie war dankbar für die Unterbrechung.

"Da sollte ich besser drangehen", sagte Riley.

"Ich verstehe", sagte Wendy. "Danke, dass du dich gemeldet hast."

"Danke dir", sagte Riley.

Sie beendeten den Anruf und Riley ging ans Telefon. Riley sagte Hallo und hörte dann die verwirrt klingende Stimme einer Frau.

"Hallo … wer spricht da?"

"Wer ruft an?", fragte Riley.

Ein Schweigen folgte.

"Ist … ist Ryan zu Hause?", fragte die Frau.

Ihre Worte klangen ein wenig undeutlich. Riley war sich ziemlich sicher, dass die Frau betrunken war.

"Nein", sagte Riley. Sie zögerte einen Moment. Schließlich, sagte sie sich selbst, könnte es eine Klientin von Ryan sein. Aber sie wusste, dass es nicht so war. Die Situation war zu vertraut.

Riley sagte, "Rufen Sie diese Nummer nicht noch einmal an."

Sie legte auf.

Sie zitterte vor Wut.

Es fängt schon wieder von vorne an, dachte sie.

Sie wählte Ryans Festnetznummer.

KAPITEL DREI

Als Ryan abnahm, verschwendete Riley keine Zeit mit einer Begrüßung.

"Triffst du dich mit jemand anderem, Ryan?", fragte sie.

"Warum?"

"Eine Frau hat hier angerufen und nach dir gefragt."

Ryan zögerte, bevor er fragte, "Hast du nach ihrem Namen gefragt?"

"Nein. Ich habe aufgelegt."

"Ich wünschte, das hättest du nicht. Sie könnte eine Klientin gewesen sein."

"Sie war betrunken, Ryan. Und es war etwas Persönliches. Ich konnte es in ihrer Stimme hören."

Ryan schien nicht zu wissen, was er sagen sollte.

Riley wiederholte ihre Frage, "Triffst du dich mit jemand anderem?"

"Es – Es tut mir leid", stammelte Ryan. "Ich weiß nicht, woher sie deine Nummer hat. Es muss eine Art Missverständnis gewesen sein."

Oh, und ob es da ein Missverständnis gibt, dachte Riley.

"Du beantwortest meine Frage nicht", sagte sie.

Ryan fing nun an, ärgerlich zu klingen.

"Was wenn ich jemand anderen treffe? Riley, wir haben nie gesagt, dass wir exklusiv sind."

Riley war sprachlos. Nein, sie konnte sich nicht erinnern, darüber gesprochen zu haben. Aber trotzdem …

"Ich bin davon ausgegangen––" begann sie.

"Vielleicht bist du von zu viel ausgegangen", unterbrach Ryan.

Riley versuchte ihren Ärger herunterzuschlucken.

"Wie heißt sie?", fragte sie.

"Lina."

"Ist es ernst?"

"Ich weiß es nicht."

Der Telefonhörer zitterte in Rileys Hand.

Sie sagte, "Denkst du nicht, es ist an der Zeit, dich zu entscheiden?"

Ein Schweigen folgte.

Schließlich sagte Ryan, "Riley, ich wollte schon mit dir darüber reden. Ich brauche ein wenig Freiraum. Dieses ganze Familien-Ding – Ich dachte, ich wäre bereit dafür, aber das war ich nicht. Ich will mein Leben genießen. Du solltest dir auch ein wenig Zeit nehmen, um dein Leben zu genießen."

Riley konnte den nur zu vertrauten Ton in seiner Stimme hören.

Er ist wieder in seinem Playboy-Modus, dachte sie.

Er genoss seine neue Affäre, zog sich von Riley und seiner Familie zurück. Er hatte in der letzten Zeit wie ein veränderter Mann gewirkt – mehr Verantwortung und Engagement gezeigt. Sie hätte wissen müssen, dass es nicht lange anhält. Er hatte sich nicht geändert.

"Was willst du jetzt machen?", fragte sie.

Ryan klang erleichtert, dass er seinen Gefühlen freien Lauf lassen konnte.

"Hör zu, Riley, dieses ganze Hin und Her zwischen deinem Haus und meinem – das funktioniert für mich einfach nicht. Es fühlt sich zu vorübergehend an. Ich denke, es ist besser, wenn ich gehe."

"Das wird April sehr treffen", sagte Riley.

"Ich weiß. Aber wir schaffen das schon irgendwie. Ich verbringe weiter Zeit mit ihr. Das wird sie schon verstehen. Sie hat Schlimmeres durchgemacht."

Ryans aalglatte Antworten machten Riley von Sekunde zu Sekunde wütender. Sie war kurz davor, zu explodieren.

"Und was ist mit Jilly?" sagte Riley. "Sie hat dich sehr gerne. Sie verlässt sich auf dich. Du hast ihr bei vielen Dingen geholfen, wie ihren Hausaufgaben. Sie braucht dich. Sie macht gerade so viele Änderungen durch, es ist nicht leicht für sie."

Eine weitere Pause folgte. Riley wusste, dass Ryan sich bereit machte, etwas zu sagen, dass ihr nicht gefallen würde.

"Riley, Jilly war deine Entscheidung. Ich bewundere dich dafür. Aber ich habe mich nicht dafür gemeldet. Ein Problem-Teenager von einem Fremden ist zu viel für mich. Das ist nicht fair."

Für einen Moment war Riley zu wütend, um zu sprechen.

Ryan kümmerte sich wieder nur um seine eigenen Gefühle.

Es war hoffnungslos.

"Komm her und hol deine Sachen", sagte sie durch zusammengebissene Zähne. "Komm erst, wenn die Mädchen in der Schule sind. Ich will, dass alles von dir so schnell wie möglich von hier verschwunden ist."

Dann legte sie auf.

Sie stand auf und tigerte rauchend vor Wut durch den Raum.

Sie wünschte, sie hätte einen Weg, um Dampf abzulassen, aber es gab nichts, was sie gerade tun konnte. Eine schlaflose Nacht lag vor ihr.

Das Abreagieren würde bis zum nächsten Tag warten müssen.

KAPITEL VIER

Riley wusste, dass ein Angriff kommen würde und zwar plötzlich und unerwartet. Und er konnte von überall aus diesem labyrinthartigen Raum kommen. Sie arbeitete sich langsam den schmalen Flur des verlassenen Gebäudes entlang vor.

Aber die Erinnerungen an den letzten Abend stahlen sich immer wieder in ihren Kopf.

"Ich brauche ein wenig Freiraum", hatte Ryan gesagt.

"Dieses ganze Familien-Ding – Ich dachte, ich wäre bereit dafür, aber das war ich nicht. Ich will mein Leben genießen."

Riley war wütend – nicht nur auf Ryan, sondern auch auf sich selbst, weil sie sich von diesen Gedanken ablenken ließ.

Konzentrier dich, sagte sie sich. Du musst einem Verbrecher das Handwerk legen.

Und die Situation sah nicht gut aus. Rileys jüngere Kollegin Lucy Vargas war bereits verwundet worden. Rileys langjähriger Partner Bill Jeffreys war bei Lucy geblieben. Sie waren beide um die Ecke hinter Riley und hielten herannahende Schützen ab. Riley hörte Schüsse aus Bills Gewehr.

Mit der Gefahr genau vor sich konnte sie sich nicht umdrehen und nachsehen, was geschah.

"Wie sieht es aus, Bill?" rief sie.

Jetzt hörte sie eine Reihe von halbautomatischen Schüssen.

"Einer erledigt, noch zwei übrig", rief Bill zurück. "Ich schalte die Kerle hier aus, kein Problem. Und ich gebe Lucy Deckung, sie kommt wieder in Ordnung. Halte deine Augen vorne. Der Typ vor dir ist gut. Wirklich gut."

Bill hatte Recht. Riley konnte den Schützen vor sich nicht sehen, aber er hatte bereits Lucy getroffen, die selbst eine ausgezeichnete Schützin war. Falls Riley ihn nicht erledigte, dann würde er sie alle ausschalten.

Sie hielt ihren M4-Karabiner im Anschlag. Sie hatte schon lange kein Sturmgewehr mehr in der Hand gehabt, also gewöhnte sie sich noch immer an das Gewicht und die Ausmaße.

Vor ihr lag der Flur, dessen Türen alle offen standen. Der Schütze konnte sich in jedem dieser Räume verstecken. Sie war entschlossen ihn zu finden, ihn zu erledigen, bevor er mehr Schaden anrichten konnte.

Riley drückte sich weiter an der Wand entlang und bewegte sich auf die erste Tür zu. In der Hoffnung, dass er sich dort befand, hielt sie sich von der Öffnung fern, streckte ihre Waffe aus und feuerte drei Kugeln in den Raum. Die Waffe zuckte scharf in ihrer Hand. Dann trat sie in den Türrahmen und feuerte drei weitere Schüsse. Diesmal presste sie den Schaft gegen die Schulter, um den Rückstoß aufzufangen.

Sie senkte die Waffe und sah, dass der Raum leer war. Sie wirbelte herum, um sicherzustellen, dass der Flur noch frei war, bevor sie einen Moment innehielt und ihren nächsten Schritt überdachte. Abgesehen von der Gefahr, würde es zu viel Munition kosten, jeden der Räume auf diese Weise zu überprüfen. Aber sie schien keine andere Wahl zu haben. Falls der Schütze in einem dieser Räume war, dann hatte er sicherlich seine Waffe so positioniert, dass er jeden töten würde, der durch den Türrahmen trat.

Sie hielt inne und kontrollierte ihre eigene physische Reaktion.

Sie war aufgebracht, nervös.

Ihr Puls schlug heftig.

Sie atmete schnell.

Aber lag das an dem Adrenalin oder dem Ärger der letzten Nacht?

Wieder erinnerte sich an seine Worte.

"Was wenn ich jemand anderen treffe?" hatte Ryan gesagt.

"Riley, wir haben nie gesagt, dass wir exklusiv sind."

Er hatte ihr gesagt, dass der Name der Frau Lina war.

Riley, fragte sich, wie alt sie war.

Wahrscheinlich zu jung.

Ryans Frauen waren immer zu jung.

Verdammt, hör auf, an ihn zu denken! Sie verhielt sich wie ein blutiger Anfänger.

Sie musste sich daran erinnern, wer sie war. Riley Paige, eine respektierte und bewunderte Agentin.

Sie hatte jahrelanges Training und Arbeit im Feld hinter sich.

Sie war zur Hölle und wieder zurück gegangen. Sie hatte Leben genommen und Leben gerettet. Sie verhielt sich im Angesicht der Gefahr immer kühl und überlegt.

Also warum ließ sie sich von Ryan so aufbringen?

Sie schüttelte sich und versuchte so, die Ablenkungen aus ihrem Kopf zu verbannen.

Sie bewegte sich auf den nächsten Raum zu, feuerte um den Türrahmen herum, trat in den Raum und betätigte wieder den Abzug.

In dem Moment klemmte ihr Gewehr.

"Verdammt", grummelte Riley laut.

Glücklicherweise war der Schütze auch nicht in diesem Raum. Aber sie wusste, dass ihr Glück jederzeit vorbei sein konnte. Sie trat zurück, ließ den Karabiner sinken und zog ihre Glock.

In dem Moment sah sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Dort war er, in einem Türrahmen weiter vor ihr, sein Gewehr genau auf sie gerichtet. Instinktiv ließ Riley sich fallen und rollte sich ab, um seinen Schüssen auszuweichen. Dann kam sie auf die Knie und feuerte dreimal, sich bei jedem der Schüsse in den Rückstoß lehnend. Alle drei Kugeln trafen den Schützen, der rückwärts zu Boden fiel.

"Ich habe ihm erwischt!", rief sie Bill zu. Sie hielt ihren Blick auf die Figur gerichtet und sah kein Lebenszeichen. Es war vorbei.

Dann stand Riley auf und zog ihren VR-Helm mit den Gläsern, Kopfhörern und dem Mikrofon ab. Der gefallene Schütze verschwand, zusammen mit dem Labyrinth der Gänge. Sie fand sich in einem Raum der Größe eines Basketballplatzes wieder. Bill stand in der Nähe und Lucy kam wieder auf die Füße. Bill und Lucy nahmen ebenfalls ihre Helme ab. Wie Riley, trugen auch sie jede Menge Ausrüstung, mit Sensoren an ihren Handgelenken, Ellbogen, Knien und Knöcheln, die jede ihrer Bewegungen in der Simulation verfolgten.

Jetzt, da ihre Partner keine simulierten Puppen mehr waren, hielt Riley einen Augenblick inne, um ihre Anwesenheit zu würdigen. Sie schienen ein seltsames Paar zu sein – einer von ihnen reif und solide, der andere jung und impulsiv.

Aber sie gehörten beide zu ihren liebsten Menschen.

Riley hatte mehr als einmal mit Lucy zusammen gearbeitet und wusste, dass sie sich auf sie verlassen konnte. Die junge Agentin mit ihren dunklen Augen schien regelrecht von innen heraus zu leuchten, Energie und Enthusiasmus zu versprühen.

Im Gegensatz dazu war Bill in Rileys Alter und auch wenn seine vierzig Jahre ihn ein wenig langsamer gemacht hatten, war er immer noch einer der besten Agenten.

Und er sieht immer noch sehr gut aus, sagte sie zu sich selbst.

Für einen kurzen Augenblick, fragte sie sich – jetzt wo die Dinge zwischen ihr und Ryan wieder schief gelaufen waren, vielleicht sollten sie und Bill …?

Aber nein, sie wusste das war eine fürchterliche Idee. In der Vergangenheit hatten sie und Bill beide unbeholfene Versuche unternommen, um etwas Ernsthaftes zu starten und die Ergebnisse waren ein Desaster gewesen. Bill war ein guter Partner und ein noch besserer Freund. Es wäre dumm, das zu zerstören.

"Gute Arbeit", sagte Bill zu Riley. Er grinste breit.

"Ja, du hast mir das Leben gerettet, Riley", sagte Lucy lachend. "Ich kann nicht glauben, dass ich mich habe anschießen lassen. Ich habe den Typen nicht gesehen, obwohl er direkt vor mir war!"

"Dafür ist das System ja da", sagte Bill zu Lucy und klopfte ihr auf den Rücken. "Selbst sehr erfahrene Agenten tendieren dazu, ihre Ziele zu verfehlen, wenn sie innerhalb von 3 Metern stehen. VR hilft dabei, mit diesem Problem umzugehen."

Lucy sagte, "Nun, nichts geht über eine virtuelle Kugel in die Schulter, um eine Lektion zu lernen." Sie rieb sich die Schulter, wo die Ausrüstung einen leichten Schlag ausgelöst hatte, um ihr anzuzeigen, dass sie getroffen wurde.

"Besser als eine richtige", sagte Riley. "Trotzdem meine besten Wünsche für eine schnelle Genesung."

"Danke!", lachte Lucy. "Ich fühle mich schon besser."

Riley holsterte ihre Simulationswaffe und hob das falsche Sturmgewehr auf. Sie erinnerte sich an den intensiven Rückstoß, den sie bei der Feuerung der Waffen gespürt hatte. Und das nicht existierende, verlassene Gebäude war erstaunlich lebendig und detailliert gewesen.

Trotzdem fühlte Riley sich seltsam leer und unzufrieden.

Aber das lag nicht an Bill oder Lucy. Und sie war dankbar, dass sich beide an diesem Morgen Zeit genommen hatten, um sich ihr anzuschließen.

"Danke, dass ihr mitgemacht habt", sagte sie. "Ich nehme an, ich musste ein wenig Dampf ablassen."

"Fühlst du dich besser?", fragte Lucy.

"Ja", sagte Riley.

Es stimmte nicht, aber eine kleine Lüge konnte nicht schaden.

"Wie wäre es, wenn wir einen Kaffee trinken gehen?", fragte Bill.

"Klingt gut!", sagte Lucy.

Riley schüttelte den Kopf.

"Nicht heute, danke. Ein andermal gerne. Geht ruhig, ihr zwei."

Bill und Lucy verließen den großen VR Raum. Riley, fragte sich, ob sie vielleicht doch mit ihnen mitgehen sollte.

Nein, ich wäre keine angenehme Gesellschaft, dachte sie.

Ryans Worte hallten wieder durch ihren Kopf.

"Riley, Jilly war deine Entscheidung."

Ryan hatte Nerven, der armen Jilly den Rücken zuzuwenden.

Aber Riley war jetzt nicht wütend. Stattdessen spürte sie eine tiefe Traurigkeit.

Aber warum?

Langsam wurde ihr klar:

Nichts davon ist real.

Mein ganzes Leben, alles ist ein Schwindel.

Ihre Hoffnungen mit Ryan und den Kindern wieder eine Familie zu sein, waren eine Illusion.

Genau wie diese verdammte Simulation.

Sie fiel auf die Knie und fing an zu weinen.

Es dauerte einige Minuten, bis Riley sich zusammenreißen konnte. Dankbar, dass niemand ihren Zusammenbruch gesehen hatte, stand sie auf und ging zurück zu ihrem Büro. Sobald sie durch die Tür trat, fing ihr Telefon an zu klingeln.

Sie wusste, wer anrief.

Sie hatte den Anruf erwartet.

Und sie wusste, dass die Unterhaltung nicht einfach werden würde.

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Yaş sınırı:
16+
Litres'teki yayın tarihi:
10 ekim 2019
Hacim:
271 s. 3 illüstrasyon
ISBN:
9781640291430
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