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KAPITEL FÜNF

"Hallo, Riley", meldete sich eine weibliche Stimme, als Riley abnahm.

Es war eine nette Stimme – ein wenig altersschwach und zitternd, aber freundlich.

"Hallo, Paula", sagte Riley. "Wie geht es Ihnen?"

Der Anrufer seufzte.

"Nun ja, Sie wissen – heute ist es immer schwer."

Riley verstand. Paulas Tochter, Tilda, war vor fünfundzwanzig Jahren an diesem Tag ermordet worden.

"Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich anrufe", sagte Paula.

"Natürlich nicht, Paula", versicherte Riley ihr.

Schließlich hatte Riley ihre recht seltsame Verbindung vor Jahren begonnen. Riley hatte nie aktiv an dem Fall von Tildas Mord gearbeitet. Sie hatte sich mit der Mutter des Opfers in Verbindung gesetzt, lange nachdem der Fall als ungelöst zu den Akten gelegt worden war.

Dieser jährliche Anruf zwischen ihnen, war seit Jahren eine Art Ritual.

Riley fand es noch immer eigenartig eine Unterhaltung mit jemandem zu führen, den sie nie getroffen hatte. Sie wusste nicht einmal, wie Paula aussah. Sie wusste, dass Paula mittlerweile achtundsechzig Jahre alt war. Sie war dreiundvierzig gewesen, nur drei Jahre älter als Riley, als ihre Tochter ermordet wurde. Riley stellte sie sich als freundliche, grauhaarige, großmütterliche Figur vor.

"Wie geht es Justin?", fragte Riley.

Riley hatte ein paar Mal mit Paulas Mann gesprochen, ihn aber nie besser kennen gelernt.

Paula seufzte wieder.

"Er ist im letzten Sommer gestorben."

"Das tut mir leid", sagte Riley. "Wie ist es passiert?"

"Es war plötzlich, vollkommen unerwartet. Ein Aneurysma – oder vielleicht ein Herzanfall. Sie haben angeboten eine Autopsie durchzuführen, um es herauszufinden. Ich habe gesagt, 'Warum die Mühe machen?' Es hätte ihn nicht zurückgebracht."

Riley fühlte mit der Frau. Sie wusste, dass Tilda ihre einzige Tochter gewesen war. Der Verlust ihres Mannes konnte nicht leicht sein.

"Wie kommen Sie klar?", fragte Riley.

"Ich leben einen Tag nach dem anderen", sagte Paula. "Es ist einsam hier."

Eine Spur fast unerträglicher Traurigkeit lag in ihrer Stimme, als wäre sie bereit, sich ihrem Mann im Tod anzuschließen.

Riley konnte sich ihre Einsamkeit nicht vorstellen. Sie spürte Dankbarkeit für die Menschen in ihrem Leben – April, Gabriela und jetzt auch Jilly. Riley hatte oft mit der Angst zu kämpfen, sie alle zu verlieren. April war mehr als einmal in Gefahr gewesen.

Und natürlich waren da noch wundervolle alte Freunde, wie Bill. Er hatte ebenfalls seinen Anteil an riskanten Situationen und Gefahren durchlebt.

Ich werde sie nie als selbstverständlich hinnehmen, dachte sie.

"Und wie geht es Ihnen, meine Liebe?", fragte Paula.

Vielleicht hatte Riley deshalb das Gefühl, dass sie mit Paula über Dinge reden konnte, die sie sonst mit kaum jemandem besprach.

"Nun ja, ich bin gerade dabei, ein dreizehnjähriges Mädchen zu adoptieren. Das ist ein richtiges Abenteuer. Oh, und Ryan war für eine Weile zurück. Dann ist er wieder abgehauen. Etwas niedlicheres, Jüngeres ist im ins Auge gefallen."

"Wie fürchterlich für Sie!", sagte Paula. "Ich hatte Glück mit Justin. Er ist nie fremdgegangen. Und ich nehme an, auf lange Sicht gesehen hatte er auch Glück. Er ist schnell gegangen, keine Schmerzen, kein Leiden. Ich hoffe, wenn meine Zeit kommt …"

Paulas Stimme verlor sich.

Riley schauderte.

Paula hatte ihre Tochter an einen Mörder verloren, der niemals seine gerechte Strafe erhalten hatte.

Riley hatte ebenfalls jemanden an einen Mörder verloren, der nie gefasst wurde.

Sie sprach langsam.

"Paula … ich habe immer noch Flashbacks. Und Albträume."

Paula antwortete in einer freundlichen, tröstenden Stimme.

"Ich nehme an, das ist nicht überraschend. Sie waren noch so klein. Und Sie waren dabei, als es passiert ist. Mir wurde erspart, was Sie durchgemacht haben."

Riley stutzte bei ihren Worten.

Es erschien ihr nicht so, als wäre Paula etwas erspart geblieben.

Sicherlich, sie war nicht gezwungen gewesen zu sehen, wie ihre Tochter starb.

Aber das eigene Kind zu verlieren musste schlimmer sein als das, was Riley erlebt hatte.

Paulas Fähigkeit zu selbstlosem Mitgefühl erstaunte Riley immer wieder.

Paula sprach weiter in ihrer tröstenden Stimme.

"Trauer geht nie weg, denke ich. Vielleicht sollten wir das auch nicht wollen. Was würde aus uns werden, wenn ich Justin und Sie ihre Mutter vergessen würden? Ich will niemals so hart werden. Solange ich noch Schmerz und Trauer empfinde, fühle ich mich menschlich … und lebendig. Es ist ein Teil von dem, was wir beide sind, Riley."

Riley hielt die Tränen zurück.

Wie immer sagte Paula ihr genau das, was sie hören musste.

Aber wie immer war es nicht einfach.

Paula fuhr fort, "Und sehen Sie, was Sie aus Ihrem Leben gemacht haben – Sie beschützen andere und sorgen für Gerechtigkeit. Ihr Verlust hat Sie zu dem gemacht, was Sie sind – ein Kämpfer, ein guter und mitfühlender Mensch."

Ein einzelnes Schluchzen löste sich aus Rileys Kehle.

"Oh, Paula. Ich wünschte, es müsste nicht so sein – für keinen von uns. Ich wünschte, ich hätte––"

Paula unterbrach sie.

"Riley, wir reden jedes Jahr darüber. Der Mörder meiner Tochter wird nicht gefasst werden. Es ist niemandes Schuld und ich will sie auch niemandem geben. Vor allem Ihnen nicht. Es war nie Ihr Fall. Es ist nicht Ihre Verantwortung. Jeder hat getan, was er konnte. Das Beste, was Sie tun können, ist einfach mit mir zu reden. Und das macht mein Leben so viel besser."

"Mein Beileid wegen Justin", sagte Riley.

"Danke. Das bedeutet mir viel."

Riley und Paula stimmten zu, im nächsten Jahr wieder zu sprechen und beendeten den Anruf.

Riley saß alleine in ihrem Büro.

Mit Paula zu sprechen war immer innerlich aufwühlend, aber meistens fühlte Riley sich danach besser.

Heute fühlte sie sich schlechter.

Warum?

Zu viel geht schief, wurde Riley klar.

Heute schienen alle Probleme in ihrem Leben zusammenzuhängen.

Und irgendwie konnte sie nicht verhindern, dass sie sich selbst die Schuld für all den Verlust, all den Schmerz gab.

Zumindest spürte sie nicht mehr den Drang zu weinen. Weinen half nicht. Außerdem hatte Riley einiges an Büroarbeit zu erledigen. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und versuchte zu arbeiten.

*

Später am Nachmittag fuhr Riley von Quantico direkt zur Brody Middle School. Jilly wartete bereits auf dem Gehsteig, als Riley hielt.

Jilly sprang auf den Beifahrersitz.

"Ich warte schon seit fünfzehn Minuten!", sagte sie. "Beeil dich! Wir kommen zu spät zum Spiel!"

Riley lachte leise.

"Wir kommen nicht zu spät", sagte sie. "Wir sind genau rechtzeitig."

Riley fuhr in die Richtung von Aprils Highschool.

Während sie fuhr begann Riley wieder, sich Sorgen zu machen.

War Ryan am Haus gewesen und hatte seine Sachen geholt?

Und wann und wie sollte sie den Mädchen beibringen, dass er nicht mehr zurückkam?

"Was ist los?", fragte Jilly.

Riley hatte nicht bemerkt, dass ihr Gesicht ihre Gefühle so deutlich zeigte.

"Nichts", sagte sie.

"Es ist nicht Nichts", sagte Jilly. "Das kann ich sehen."

Riley unterdrückte ein Seufzen. Wie April und Riley selbst, war Jilly mehr als aufmerksam.

Soll ich es ihr jetzt sagen?, fragte Riley sich.

Nein, jetzt war nicht die Zeit. Sie waren auf dem Weg, um bei Aprils Fußballspiel zuzusehen. Sie wollte den Nachmittag nicht mit schlechten Nachrichten ruinieren.

"Es ist wirklich nichts", sagte sie.

Riley hielt wenige Minuten vor Anpfiff vor Aprils Schule. Sie und Jilly gingen zu der Zuschauertribüne, die bereits recht voll war. Riley wurde klar, dass Jilly vielleicht recht gehabt hatte – sie hätten früher kommen sollen.

"Wo können wir sitzen?", fragte Riley.

"Da oben!", sagte Jilly und zeigte auf die oberste Reihe, wo noch einige Plätze frei zu sein schienen. "Ich kann mich vor das Geländer stellen und alles sehen."

Sie gingen die Tribüne nach oben und setzten sich. Kurze Zeit später begann das Spiel. April spielte im Mittelfeld und hatte offenbar viel Spaß. Riley bemerkte sofort, dass sie eine aggressive Spielerin war.

Während sie zusahen kommentierte Jilly, "April sagt, dass sie ihre Fähigkeiten in den nächsten Jahren ausbauen will. Stimmt es, dass Fußball ihr vielleicht ein College Stipendium bringen könnte?"

"Wenn sie wirklich daran arbeitet", sagte Riley.

"Wow. Das ist so cool. Vielleicht kann ich das auch."

Riley lächelte. Es war wundervoll, dass Jilly einen so positiven Ausblick auf die Zukunft hatte. In dem Leben, das sie hinter sich gelassen hatte, war wenig Anlass zur Hoffnung gewesen. Ihre Aussichten waren düster gewesen. Sie hätte vermutlich nicht einmal die Highschool beendet, geschweige denn ein College besucht. Eine ganz neue Welt der Möglichkeiten erschloss sich ihr jetzt.

Ich nehme an, ich mache wenigstens etwas richtig, dachte Riley.

Während Riley zusah, bewegte sich April auf das Tor zu und versenkte einen wundervollen Eckschuss. Sie hatte das erste Tor des Spiels geschossen.

Riley sprang auf, jubelte und klatschte.

Dabei erkannte sie ein weiteres Mädchen im Team. Es war Aprils Freundin Crystal Hildreth. Riley hatte Crystal schon eine Weile nicht mehr gesehen. Der Anblick des Mädchens wühlte einige verworrene Emotionen auf.

Crystal und ihr Vater, Blaine, hatten direkt neben Riley und ihrer Familie gewohnt.

Blaine war ein charmanter Mann. Riley hatte Interesse an ihm gehabt und er an ihr.

Aber all das hatte vor einigen Monaten geendet, als etwas Schreckliches passiert war. Danach waren Blaine und seine Tochter weggezogen.

Riley wollte wirklich nicht an diese Ereignisse erinnert werden.

Sie sah sich in der Menge um. Da Crystal spielte, war sicherlich auch Blaine unter den Zuschauern. Aber im Moment konnte sie ihn nicht sehen.

Sie hoffte, dass sie ihn nicht treffen würde.

*

In der Halbzeit rannte Jilly los, um mit ein paar Freunden zu sprechen, die sie gesehen hatte.

Riley bemerkte, dass sie eine SMS bekommen hatte. Sie war von Shirley Redding, der Immobilienmaklerin, die sie bezüglich des Verkaufs der Hütte ihres Vaters kontaktiert hatte.

Dort stand:

Gute Nachrichten! Rufen Sie mich sofort an!

Riley verließ die Tribüne und wählte die Nummer der Maklerin.

"Ich habe mir den Verkauf angesehen", sagte die Frau. "Das Grundstück sollte mehr als hunderttausend Dollar bringen. Vielleicht sogar das Doppelte."

Riley spürte einen Anflug von Erregung. So eine Summe würde eine große Hilfe für die College Pläne der Mädchen sein.

Shirley fuhr fort, "Wir müssen über Details reden. Passt es Ihnen gerade?"

Tat es natürlich nicht, also verabredeten sie sich für den nächsten Tag. Gerade als sie den Anruf beendete, sah sie, wie sich jemand durch die Menge auf sie zubewegte.

Riley erkannte ihn sofort. Es war Blaine, ihr ehemaliger Nachbar.

Sie bemerkte, dass der gut aussehende, lächelnde Mann noch immer eine Narbe auf seiner rechten Wange hatte.

Riley wurde das Herz schwer.

Gab er Riley die Schuld für diese Narbe?

Sie konnte nicht verhindern, dass sie es tat.

KAPITEL SECHS

Blaine Hildreth spürte eine Welle von widersprüchlichen Gefühlen, während er sich seinen Weg durch die Menge bahnte. Er hatte Riley Paige entdeckt, als sie aufstand, um ihrer Tochter zuzujubeln. Sie sah wie immer sehr lebendig und bemerkenswert aus und er war wie von selbst in der Halbzeit zu ihr gegangen. Jetzt sah sie ihn an, aber er konnte nichts aus ihrem Gesichtsausdruck lesen.

Wie fühlte sie sich, ihn zu sehen?

Und wie fühlte er sich, sie zu sehen.

Blaine konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken zu dem traumatischen Tag vor zwei Monaten wanderten.

Er saß in seinem Wohnzimmer, als er einen fürchterlichen Lärm von nebenan hörte.

Er rannte zu Rileys Haus und fand die Haustür halb offen stehen.

Er stürmte hinein und sah, was vor sich ging.

Ein Mann griff April, Rileys Tochter, an. Der Mann hatte April auf den Boden geworfen und sie wand sich unter ihm, schlug ihn mit ihren Fäusten.

Blaine rannte auf sie zu und zog den Angreifer von April herunter. Er kämpfte mit dem Mann, versuchte ihn zu überwältigen.

Blaine war größer als der Angreifer, aber nicht stärker und nicht annährend so beweglich.

Er schlug immer wieder nach dem Mann, aber die meisten seiner Schläge verfehlten sein Ziel, während die anderen keinen Eindruck zu hinterlassen schienen.

Plötzlich hatte der Mann einen vernichtenden Schlag in seine Magengrube gelandet. Blaine war die Luft weggeblieben. Er war zusammengeklappt.

Dann hatte der Angreifer gegen sein Gesicht getreten …

… und alles um ihn herum war schwarz geworden.

Dann war Blaine im Krankenhaus aufgewacht.

Und jetzt, als er auf Riley zuging, wühlte ihn die Erinnerung ein wenig auf.

Er versuchte, sich zu fangen.

Als er Riley erreichte, wusste er nicht, was er tun sollte. Die Hände zu schütteln kam ihm ein wenig lächerlich vor. Sollte er ihr eine Umarmung geben?

Er sah, dass Rileys Gesicht vor Scham gerötet war. Sie schien auch nicht zu wissen, was sie tun sollte.

"Hi, Blaine", sagte sie.

"Hi."

Sie standen sich einen Augenblick schweigend gegenüber und lachten dann ein wenig über ihre Befangenheit.

"Unsere Mädchen spielen heute sehr gut", sagte Riley.

"Vor allem deins", sagte Blaine.

Aprils Tor früh im Spiel hatte ihn wirklich beeindruckt.

"Bist du mit jemandem hier?", fragte Riley.

"Nein. Und du?"

"Nur Jilly", sagte Riley. "Ich nehme an, du kennst sie nicht. Jilly ist … nun, das ist eine lange Geschichte."

Blaine nickte.

"Meine Tochter hat mir von Jilly erzählt", sagte er. "Sie zu adoptieren ist wirklich eine tolle Sache."

Blaine erinnerte sich an etwas, das Crystal ihm erzählt hatte. Riley versuchte sich wieder mit Ryan zu versöhnen. Blaine, fragte sich, wie das wohl lief. Ryan war zumindest nicht hier beim Spiel.

Recht schüchtern sagte Riley, "Hör zu, wir sitzen ganz oben in der Reihe. Wir haben noch Platz. Willst du den Rest des Spiels mit uns angucken?"

Blaine lächelte.

"Das würde ich gerne", sagte er.

Sie gingen zurück zur Tribüne und erklommen die Stufen nach oben. Ein dünnes, junges Mädchen lächelte, als sie Riley sah. Aber sie sah nicht glücklich aus, als sie Blaine neben ihr bemerkte.

"Jilly, das ist mein Freund, Blaine", sagte Riley.

Ohne ein Wort stand Jilly auf und schickte sich an, wegzugehen.

"Setz dich zu uns, Jilly", sagte Riley.

"Ich setze mich zu meinen Freunden", sagte Jilly, drängte sich an ihnen vorbei und ging die Stufen nach unten. "Sie können mich noch reinquetschen."

Riley sah erschüttert und fassungslos aus.

"Es tut mir leid", sagte sie zu Blaine. "Das war sehr unhöflich."

"Das ist okay", sagte Blaine.

Riley seufzte und sie setzten sich.

"Nein, das ist nicht okay", sagte sie. "Eine ganze Menge Dinge sind nicht okay. Jilly ist wütend, weil ich mit jemandem zusammensitze, der nicht Ryan ist. Er war wieder bei uns eingezogen und sie hat sich sehr an ihn gewöhnt."

Riley schüttelte den Kopf.

"Jetzt zieht Ryan wieder aus", sagte sie. "Ich hatte noch keine Möglichkeit den Mädchen davon zu erzählen", sagte sie. "Oder vielleicht hatte ich einfach noch nicht den Mut. Es wird sie beide sehr treffen."

Blaine war ein wenig erleichtert, dass Ryan nicht mehr auf der Bildfläche war. Er hatte Rileys gutaussehenden Exmann einige Male getroffen und die Arroganz des Mannes war ihm sauer aufgestoßen. Außerdem musste er zugeben, dass er gehofft hatte, Riley wäre frei für eine neue Beziehung.

Aber er fühlte sich gleichzeitig schuldig bei dem Gedanken.

Das Spiel fing bald wieder an. Sowohl April, als auch Crystal spielten gut und Blaine und Riley feuerten sie von Zeit zu Zeit an.

Aber währenddessen dachte Blaine an das letzte Mal, als er Riley gesehen hatte. Es war kurz nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus gewesen. Er hatte an ihre Tür geklopft und ihr gesagt, dass er und Crystal wegzogen. Blaine hatte Riley eine lahme Entschuldigung gegeben. Er hatte gesagt, dass das Stadthaus zu weit von dem Restaurant entfernt war, das er besaß und leitete.

Er hatte außerdem versucht es so klingen zu lassen, als wäre es keine große Sache.

"Es wird sein, als hätte sich nichts geändert", hatte er ihr gesagt.

Das stimmte natürlich nicht und Riley hatte es nicht geglaubt.

Sie war sichtlich verstimmt gewesen.

Es schien keinen guten Zeitpunkt dafür zu geben, also schnitt er das Thema jetzt an.

In einer zögernden Stimme sagte er, "Hör zu, Riley, es tut mir leid, wie die Dinge das letzte Mal gelaufen sind, als wir uns gesehen haben. Als ich dir gesagt habe, dass wir umziehen, meine ich. Das war nicht gerade mein bester Moment."

"Du musst nichts erklären", sagte Riley.

Aber Blaine sah das anders.

Er sagte, "Schau, ich denke, wir beide kennen den Grund für unseren Umzug."

Riley zuckte mit den Achseln.

"Ja", sagte Riley. "Du warst um die Sicherheit deiner Tochter besorgt. Ich gebe dir keine Schuld, Blaine. Das tue ich wirklich nicht. Du hast nur getan, was du für richtig gehalten hast."

Blaine wusste nicht, was er sagen sollte. Riley hatte natürlich Recht. Er hatte sich Sorgen um Crystals Sicherheit gemacht, nicht seine eigene. Er hatte sich außerdem Sorgen um Crystals mentale Gesundheit gemacht. Blaines Exfrau, Phoebe, war eine gewalttätige Alkoholikerin und Crystal hatte immer noch mit den emotionalen Wunden dieser Beziehung zu kämpfen. Sie brauchte kein erneutes Trauma in ihrem Leben.

Riley wusste alles über Phoebe. Sie hatte Crystal vor einem von Phoebes betrunkenen Wutanfällen gerettet.

Vielleicht versteht sie es wirklich, dachte er.

Aber er konnte nicht sagen, wie sie sich wirklich fühlte.

In dem Moment machte das Team ihrer Töchter ein weiteres Tor. Blaine und Riley klatschten und jubelten. Dann sahen sie dem Spiel schweigend zu.

Schließlich sagte Riley, "Blaine, ich gebe zu, ich war enttäuscht, als du weggezogen bist. Vielleicht sogar ein wenig wütend. Ich hatte Unrecht. Es war nicht fair von mir. Es tut mir leid, was passiert ist."

Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort.

"Ich habe mich schrecklich wegen dem gefühlt, was dir zugestoßen ist. Und schuldig. Das tue ich noch immer. Blaine, ich––"

Sie schien mit ihren Gedanken und Gefühlen zu kämpfen.

"Ich habe das Gefühl, dass ich jeden in Gefahr bringe, der mir über den Weg läuft. Ich hasse das an meinem Job. Ich hasse das an mir selbst."

Blaine wollte gerade widersprechen.

"Riley du musst nicht––"

Riley hielt ihn auf.

"Es stimmt und wir beide wissen es. Wenn ich mein Nachbar wäre, dann würde ich auch wegziehen. Zumindest, solange ich einen Teenager im Haus habe."

In dem Moment machte das Team ihrer Töchter einen Fehler. Blaine und Riley stöhnten mit dem Rest der Zuschauer für das Heimatteam auf.

Blaine fing an, sich ein wenig mutiger zu fühlen. Riley schien ihm seinen Umzug tatsächlich nicht vorzuhalten – oder zumindest nicht mehr.

Konnten sie das Interesse wiedererwecken, das sie füreinander gehabt hatten?

Blaine nahm seinen Mut zusammen und sagte, "Riley, ich würde dich und die Kinder gerne zum Essen in mein Restaurant einladen. Du könntest auch Gabriela mitbringen. Sie und ich könnten ein paar Rezepte austauschen."

Riley saß schweigend neben ihm. Sie sah fast so aus, als hätte sie ihn nicht gehört.

Schließlich sagte sie, "Ich denke nicht, Blaine. Die Dinge sind gerade einfach zu kompliziert. Aber danke für dein Angebot."

Blaine spürte einen Stich der Enttäuschung. Er wurde nicht nur von Riley zurückgewiesen, sie schien auch keine Möglichkeit für die Zukunft offen zu lassen.

Aber es gab nichts, was er daran ändern konnte.

Den Rest des Spiels verbrachten sie schweigend.

*

Riley dachte beim Abendessen noch immer an Blaine. Sie, fragte sich, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht hätte sie seine Einladung annehmen sollen. Sie mochte ihn und vermisste ihn.

Er hatte sogar Gabriela eingeladen, was sehr nett war. Als Restaurantbesitzer hatte er Gabrielas Essen in der Vergangenheit sehr geschätzt.

Und Gabriela hatte ein typisch guatemalisches Essen heute Abend gezaubert – Hähnchen in Zwiebelsoße. Die Mädchen genossen es und redeten über den Fußballsieg am Nachmittag.

"Warum warst du nicht beim Spiel, Gabriela?", fragte April.

"Es hätte dir bestimmt gefallen", sagte Jilly.

"Sí, Ich mag den futbol", sagte Gabriela. "Das nächste Mal komme ich."

Das schien Riley eine gute Gelegenheit zu sein, etwas zu erwähnen.

"Ich habe gute Nachrichten", sagte sie. "Ich habe heute mit meiner Maklerin gesprochen und sie denkt, dass der Verkauf von Großvaters Hütte eine Menge Geld bringen könnte. Das sollte wirklich bei den College Plänen helfen – für euch beide."

Die Mädchen sahen sehr erfreut aus und sprachen eine Weile darüber. Aber bald schien sich Jillys Miene zu verdüstern.

Schließlich fragte sie Riley, "Wer war der Typ beim Spiel?"

April sagte, "Oh, das war Blaine. Er war unser Nachbar. Er ist Crystals Dad. Du hast sie getroffen."

Jilly aß für einen Moment trotzig weiter.

Dann fragte sie, "Wo ist Ryan? Warum war er nicht beim Spiel?"

Riley schluckte nervös. Sie hatte bemerkt, dass Ryan während dem Spiel zum Haus gekommen war und den Großteil seiner Sachen mitgenommen hatte. Es war an der Zeit, den Mädchen die Wahrheit zu sagen.

"Da gibt es etwas, was ich euch sagen wollte", begann sie.

Aber sie hatte Schwierigkeiten die richtigen Worte zu finden.

"Ryan … sagt, dass er ein wenig Freiraum braucht. Er––"

Sie konnte sich nicht dazu bringen, mehr zu sagen. Sie konnte an den Gesichtern der Mädchen sehen, dass das auch nicht nötig war. Sie verstanden nur zu gut, was sie meinte.

Nach wenigen Sekunden der Stille brach Jilly in Tränen aus und floh aus dem Raum nach oben. April folgte ihr schnell, um sie zu trösten.

Riley wurde klar, dass April an Ryans schwankende Aufmerksamkeit gewöhnt war. Die Enttäuschung musste schmerzen, aber sie würde besser damit klar kommen als Jilly.

Alleine mit Gabriela am Tisch sitzend, fing Riley an, sich schuldig zu fühlen. War sie einfach unfähig eine ernsthafte Beziehung mit einem Mann zu führen?

Als ob sie ihre Gedanken gelesen hätte, sagte Gabriela, "Hören Sie auf, sich die Schuld zu geben. Es ist nicht Ihre Schuld. Ryan ist ein Idiot."

Riley lächelte traurig.

"Danke, Gabriela", sagte sie.

Es war genau das, was sie hatte hören müssen.

Dann fügte Gabriela hinzu, "Die Mädchen brauchen eine Vaterfigur. Aber nicht jemanden, der kommt und geht, wie es ihm passt."

"Ich weiß", sagte Riley.

*

Später am Abend sah Riley nach den Mädchen. Jilly war in Aprils Zimmer und machte stumm ihre Hausaufgaben.

April sah auf und sagte, "Wir sind okay, Mom."

Riley spürte Erleichterung. So sehr sie auch mit den Mädchen trauerte, so stolz war sie doch auf April, die Jilly tröstete.

"Danke, mein Liebling", sagte sie und schloss leise die Tür.

Sie dachte, dass April mit ihr über Ryan reden würde, wenn sie soweit war. Aber Jilly würde es schwerer haben.

Als sie nach unten ging, dachte Riley an das, was Gabriela gesagt hatte.

"Die Mädchen brauchen eine Vaterfigur."

Sie sah auf ihr Telefon. Blaine hatte es klar gemacht, dass er ihre Beziehung wieder beleben wollte.

Aber was genau würde er von ihr erwarten? Ihr Leben war voll mit ihren Kindern und ihrer Arbeit. Konnte sie gerade wirklich jemand anderen in ihre Leben lassen? Würde sie ihn enttäuschen?

Aber, musste sie zugeben, ich mag ihn.

Und er mochte sie. Es musste doch noch Platz in ihrem Leben geben, für …

Sie nahm ihr Telefon und wählte Blaines Festnetznummer. Sie war enttäuscht, als sich der Anrufbeantworter meldete, aber nicht überrascht. Sie wusste, dass die Arbeit im Restaurant ihn oft bis spät in die Nacht beschäftigte.

Nach dem Piep hinterließ Riley eine Nachricht.

"Hi, Blaine. Hier ist Riley. Hör zu, es tut mir leid, dass ich heute Nachmittag beim Spiel so kühl war. Ich hoffe, ich war nicht unhöflich. Ich wollte nur sagen, dass wir, falls dein Angebot noch steht, gerne kommen. Meld' dich doch, wenn du Zeit hast."

Riley fühlte sich sofort besser. Sie ging in die Küche und goss sich einen Drink ein. Während sie auf der Couch im Wohnzimmer sitzend daran nippte, erinnerte sie sich an die Unterhaltung mit Paula Steen.

Paula schien ihren Frieden damit gemacht zu haben, dass der Mörder ihrer Tochter niemals gefunden werden würde.

"Niemand ist Schuld und ich möchte auch niemandem die Schuld geben", hatte Paula gesagt.

Die Worte beschäftigten Riley.

Es erschien ihr so unfair.

Riley trank aus, ging unter die Dusche und anschließend ins Bett.

Sie war kaum eingeschlafen, als die Albträume begannen.

*

Riley war ein kleines Mädchen.

Sie ging nachts durch einen Wald. Sie hatte Angst, aber sie wusste nicht, warum.

Schließlich hatte sie sich in dem Wald nicht wirklich verlaufen.

Der Wald war in der Nähe des Highways und sie konnte die Autos vorbeifahren sehen. Das Licht der Straßenlaternen und der Vollmond leuchteten ihr den Weg durch die Bäume.

Dann fielen ihre Augen auf eine Reihe von drei flachen Gräbern.

Die Erde und die Steine, die die Gräber bedeckten, bewegten sich.

Frauenhände gruben sich einen Weg aus den Gräbern.

Sie konnte ihre gedämpften Stimmen hören.

"Hilf uns! Bitte!"

"Ich bin nur ein kleines Mädchen!", erwiderte Riley mit Tränen in den Augen.

Riley wachte erschrocken auf. Sie zitterte.

Es ist nur ein Albtraum, sagte sie sich selbst.

Und es war nicht überraschend, dass sie von dem Streichholzbrief-Killer träumte, nachdem sie mit Paula Steen gesprochen hatte.

Sie atmete mehrmals tief durch. Bald spürte sie, wie sie sich wieder entspannte und zurück in den Schlaf driftete.

Aber dann …

Sie war nur ein kleines Mädchen.

Sie war in einem Süßwarenladen mit Mommy und Mommy kaufte ihr jede Menge Süßigkeiten.

Ein gruseliger Mann mit einer Strumpfhose über dem Gesicht kam auf sie zu.

Er zielte mit einer Waffe auf Mommy.

"Her mit deinem Geld", sagte er zu Mommy.

Aber Mommy hatte zu viel Angst, um sich zu bewegen.

Der Mann schoss Mommy in die Brust und sie fiel vor Riley auf die Füße.

Riley fing an zu schreien. Sie wirbelte herum, suchte nach jemandem, der ihr helfen würde.

Aber plötzlich war sie wieder im Wald.

Die Hände der Frauen ragten aus den drei Gräbern.

Die Stimmen riefen ihr zu:

"Hilf uns! Bitte!"

Dann hörte Riley eine weitere Stimme neben sich. Sie klang vertraut.

"Du hast sie gehört, Riley. Sie brauchen deine Hilfe."

Riley drehte sich um und sah Mommy. Sie stand neben ihr, ihre Brust aus einer Schusswunde blutend. Ihr Gesicht war bleich.

"Ich kann ihnen nicht helfen, Mommy!", weinte Riley. "Ich bin nur ein kleines Mädchen!"

Mommy lächelte.

"Nein, du bist nicht nur ein kleines Mädchen, Riley. Du bist erwachsen. Dreh dich um und schau."

Riley drehte sich um und fand sich einem großen Spiegel gegenüber.

Es stimmte.

Sie war jetzt eine Frau.

Und die Stimmen riefen noch immer.

"Hilf uns! Bitte!"

Riley riss die Augen auf.

Sie zitterte mehr als vorher und schnappte nach Luft.

Sie erinnerte sich an etwas, das Paula Steen zu ihr gesagt hatte.

"Der Mörder meiner Tochter wird nicht gefasst werden."

Paula hatte außerdem gesagt:

"Es war nicht Ihr Fall."

Riley spürte eine grimmige Entschlossenheit.

Es stimmte – der Streichholzbrief-Killer war nicht ihr Fall gewesen.

Aber sie konnte ihn nicht länger in der Vergangenheit lassen.

Der Streichholzbrief-Killer musste endlich zur Verantwortung gezogen werden.

Jetzt ist es mein Fall, dachte sie.

₺135,28
Yaş sınırı:
16+
Litres'teki yayın tarihi:
10 ekim 2019
Hacim:
271 s. 3 illüstrasyon
ISBN:
9781640291430
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