Kitabı oku: «Wenn Sie Sähe», sayfa 2
KAPITEL ZWEI
Die nächste Stunde verbrachte Kate mit aufräumen, obwohl sie das eigentlich schon erledigt hatte, ehe sie losgegangen war. Es machte ihr Sorgen, dass sie so ein mulmiges Gefühl hatte, weil Michelle zu ihr kommen sollte. Melissa hatte während ihrer Jahre an der High-School in diesem Haus gewohnt, und wenn sie jetzt zu Besuch kam – was in Kates Augen nicht oft genug war – hatte Kate nie das Bedürfnis verspürt, das Haus pikobello zu haben. Warum also machte sie sich jetzt Sorgen darüber, wenn ein zwei Monate altes Baby hier war?
Vielleicht hat es mit großmütterlichem Nestbau zu tun, dachte sie, während sie das Waschbecken im Bad schrubbte… einem Raum, den ihre Enkelin nicht sehen und schon gar nicht benutzen würde.
Sie spülte gerade das Waschbecken aus, als es an der Tür klingelte. Die Aufregung, die sie nun verspürte, überraschte sie selbst. Als sie die Tür öffnete, strahlte sie über das ganze Gesicht. Melissa stand dort mit Michelle im Kindersitz. Das Baby schlief fest, mit einer dicken Decke über den Beinen.
„Hallo, Mama“, sagte Melissa und trat ein. Sie blickte sich um, rollte die Augen und fragte, „wie lange hast du diesmal geputzt?“
„Ich bin unschuldig“, lachte Kate und umarmte ihre Tochter.
Vorsichtig stellte Melissa den Kindersitz auf den Boden und löste die Gurte. Sie hob Michelle heraus und reichte sie Kate. Es war fast eine ganze Woche her, seit Kate Melissa und Terry besucht hatte, aber als sie Michelle nun im Arm hielt, kam es ihr viel länger vor.
„Was habt ihr beiden für heute Abend geplant?“, fragte Kate Melissa.
„Nichts besonders“, meinte Melissa. „Aber genau das ist ja das schöne. Wir gehen irgendwo essen und etwas trinken, vielleicht auch tanzen. Außerdem haben wir uns das nochmal überlegt, dass du die Kleine über Nacht hast. Terry und ich sind noch nicht soweit, sie über Nacht abzugeben. Mal durchzuschlafen wäre natürlich wichtig, aber ich kann noch nicht so lange von ihr getrennt sein.“
„Oh, das verstehe ich“, meinte Kate. „Geht ihr beiden mal aus und habt Spaß.
Melissa entledigte sich der Wickeltasche und stellte sie neben den Kindersitz auf den Boden. „Alles, was du brauchst, ist hier drin. In einer Stunde wird sie wieder Hunger haben, und sie wird sich gegen den Schlaf wehren. Terry findet das süß, aber ich weniger. Und hier sind die Tropfen gegen Bauchweh, und…“
„Lissa, wir werden schon klarkommen. Ich habe schon ein Kind großgezogen, weißt du? Und das hat sich übrigens ganz prächtig entwickelt.“
Melissa lächelte und überraschte ihre Mutter mit einem Küsschen auf die Wange, das ihr Herz mit Liebe erfüllte. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, als sie selbst eine junge Mutter gewesen war, so von Liebe erfüllt – eine Liebe, die so stark war, dass eine Mutter absolut alles tat, um sicherzustellen, dass das Wesen, das sie erschaffen hatte, sicher und geborgen war.
„Wenn etwas ist, ruf mich an“, sagte Melissa, wobei sie immer noch Michelle anschaute und nicht Kate.
„Wird gemacht. Aber jetzt geh. Viel Spaß.“
Melissa wandte sich um und verließ das Haus. Als Kate die Haustür schloss, wachte die kleine Michelle in Kates Armen auf. Sie lächelte ihre Großmutter verschlafen und gähnte herzhaft.
„Na, und was machen wir beiden jetzt?“
Die Frage war spielerisch an Michelle gerichtet, aber Kate fragte sich insgeheim, ob dahinter nicht doch mehr steckte; ob sie sich nicht vielleicht selbst das gleiche fragte. Ihre Tochter war nun erwachsen, sie hatte jetzt eine eigene Tochter. Und da stand nun Kate, sechsundfünfzig Jahre alt, mit ihrer Enkelin im Arm … und fragte sich Und was machen wir jetzt?
Sie dachte an ihren Drang, wieder beim FBI anzufangen, egal in welcher Rolle, und zum ersten Mal kam ihr dieser Drang unbedeutend vor. Kleiner vielleicht als das kleine Mädchen, das sie in den Armen hielt.
***
Gegen acht Uhr abends fragte sich Kate ernsthaft, ob Terry und Melissa das nicht einfach das entspannteste Baby war, das es gab. Nicht einziges Mal schrie sie oder war knatschig. Sie war einfach zufrieden damit, von Kate im Arm gehalten zu werden.
Nach zwei Stunden auf Kates Arm schlief sie ein. Vorsichtig legte Kate sie in die Mitte ihres großen Bettes und hielt an der Tür inne, um ihre Enkelin beim schlafen zu beobachten.
Sie war nicht sicher, wie lange sie so verharrt hatte, als ihr Handy auf dem Küchentisch surrte. Sie riss den Blick von Michelle los und schnappte sich das Handy. Das Surren bedeutete kein Anruf, sondern dass sie eine SMS erhalten hatte, und sie wunderte sich nicht, dass sie von Melissa kam.
Wie geht es ihr? fragte Melissa.
Kate konnte nicht anders, als zu lächeln und zu antworten: Nicht mehr als 3 Bier, hab ich ihr gesagt. Sie ist vor einer Stunde los, mit einen Kerl auf einem Motorrad. Bis 11 soll sie wieder hier sein.
Melissas Antwort kam schnell: Oh, sehr witzig.
Das Hin und Her mit Melissa machte sie fast genauso glücklich wie das schlafende Baby in ihrem Schlafzimmer. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sich Melissa zurückgezogen, vor allem gegenüber Kate. Sie hatte Kates Arbeit die Schuld am Mord ihres Vaters gegeben, und obwohl sie in späteren Jahren verstanden hatte, dass dies nicht zutraf, nahm sie es Kate übel, dass diese nach seinem Tod so viel Zeit bei der Arbeit verbracht hatte. Merkwürdigerweise hatte Melissa Interesse an einer eigenen Karriere beim FBI gezeigt… und trotz ihrer alles andere als positiven Einstellung hinsichtlich der Ereignisse des letzten Jahres, die Kates Pensionierung unterbrochen hatten.
Noch immer lächelnd schnappte sich Kate ihr Handy und machte ein paar Fotos von Michelle. Sie schickte sie an Melissa, und nach kurzer Überlegung auch an Allen, nur fügte sie bei ihm noch die Nachricht „Zuviel Party“ hinzu.
Sie ertappte sich dabei, dass sie ihn jetzt gern bei sich gehabt hätte. In letzter Zeit war das oft der Fall. Sie war nicht so naiv zu glauben, dass sie ihn liebte, aber sie meinte, sie sei im Begriff sich in ihn zu verlieben, wenn es so weiterlief wie bisher. Sie vermisste ihn, wenn er nicht bei ihr war, und wenn er sie küsste, fühlte sie sich zwanzig Jahre jünger.
Sie lächelte, als Allen seinerseits mit einem Foto antwortete. Es war ein Selfie, auf dem er selbst mit zwei jungem Männern zu sehen waren, die genauso wie er aussahen - offensichtlich seine Söhne.
Während sie das Foto betrachtete, klingelte ihr Handy. Der Name auf dem Display schickte eine Welle der Erregung, die sie nicht aufhalten konnte, durch ihren Körper.
Deputy Director Duran rief sie an. Das wäre schon an sich aufregend gewesen, aber die Tatsache, dass es Freitag Abend um acht war, ließ ihre Alarmglocken läuten – Alarmglocken, deren Klang sie nur allzu gern mochte.
Sie sammelte sich einen Moment, wobei sie noch immer Michelle anblickte, und nahm dann das Gespräch an. „Kate Wise“, sagte sie und bemühte sich, nicht aufgeregt zu klingen.
„Wise, hier spricht Duran. Störe ich gerade?“
„Nicht direkt, ist schon okay“, antwortete sie. „Ist alles in Ordnung?“
„Das kommt darauf an. Ich rufe an um zu hören, ob Sie Interesse an einem Fall haben.“
„Geht es um die alten, ungeklärten Fälle, die wir besprochen haben?“
„Nein. Dieser hier… hat Ähnlichkeit mit einem Fall, den Sie 1996 ziemlich schnell gelöst haben. Zur Zeit haben wir vier Leichen an zwei verschiedenen Orten in Whip Springs und Roanoke, Virginia. Es sieht aus, als wären die Morde im Abstand von zwei Tagen verübt worden. Die Virginia State Police hat den Fall übernommen, aber ich habe schon mit denen gesprochen. Wenn Sie wollen, ist der Fall Ihrer. Aber Sie müssen sofort loslegen.“
„Ich glaube, das kann ich nicht einrichten“, sagte sie. „Ich habe eine Verpflichtung, der ich nachkommen muss.“ Sie blickte Michelle an, und die Worte kamen ihr leicht über die Lippen. Aber ihr Körper wehrte sich mit jeder Faser gegen ihren neuen großmütterlichen Instinkt.
„Naja, hören Sie sich doch bitte die Eckpunkte doch trotzdem an. Die Ermordeten sind verheiratete Ehepaare, eines Anfang fünfzig, das andere Anfang sechzig. Die letzten waren die in den Fünfzigern. Die Tochter hat sie gefunden, als sie heute vom College nach Hause kam. Die Tatorte liegen circa vierzig Kilometer voneinander entfernt, der eine in Whip Springs und der andere in der Nähe von Roanoke.“
„Ehepaare? Gibt es irgendwelche Parallelen außer, dass sie verheiratet waren?“
„Bisher noch nicht. Aber alle vier Leichen sind ziemlich übel zugerichtet. Der Killer hat ein Messer benutzt. Er ist langsam und methodisch vorgegangen. Soweit ich das beurteilen kann, ist in den nächsten zwei Tagen ein weiteres Ehepaar dran.“
„Ja, das klingt nach dem Beginn von Serienmorden“, stimmte Kate zu.
Sie dachte an den Fall von 1996, den Duran erwähnt hatte. Am Ende war es eine verrückte Nanny gewesen, die innerhalb von zwei Tagen zwei Ehepaare, für die sie über einen Zeitraum von zehn Jahren gearbeitet hatte, umgebracht hatte. Als Kate sie zur Strecke brachte, war sie gerade dem Weg, um ein drittes Ehepaar – und dann sich selbst, wie sie später aussagte – zu töten.
Konnte sie diesen Fall wirklich ablehnen? Nach dem intensiven Flashback, den sie heute gehabt hatte… konnte sie sich da wirklich die Gelegenheit entgehen lassen, einen Serienkiller zu jagen?
„Wie viel Bedenkzeit habe ich?“, fragte sie.
„Ich gebe Ihnen eine Stunde Bedenkzeit. Mehr nicht. Ich brauche jetzt jemanden dran an dem Fall. Ich dachte, Sie und DeMarco könnten das gut übernehmen. Also, eine Stunde… je eher, desto besser.“
Bevor sie „Okay“ oder „Danke“ sagen konnte, hatte Duran schon aufgelegt. Normalerweise war er freundlich und warmherzig, konnte aber sehr ungemütlich werden, wenn man nicht nach seiner Pfeife tanzte.
So leise sie konnte, ging sie zum Bett herüber und setzte sich auf die Kante. Sie beobachtete Michelle beim Schlafen, beobachtete, wie der Atem langsam und methodisch ihren Brustkorb hob und senkte. Sie konnte sich genau daran erinnern, als Melissa noch so klein gewesen war und konnte sie sich nicht erklären, wo bloß die Zeit geblieben war. Und darum ging es; sie hatte auf Grund ihres Jobs so viel Zeit als Mutter verpasst. Trotzdem verspürte sie eine starke Bindung zu ihrem Job. Vor allem jetzt, da sie dort draußen sein konnte, auf der Jagd nach einem Killer.
Was wäre sie für eine Person, wenn sie dieses Angebot ablehnte und Duran deshalb auf einen anderen Agenten zurückgreifen müsste, der womöglich nicht die gleichen Fähigkeiten mitbrächte wie sie selbst?
Aber was für eine Mutter und Großmutter wäre sie, wenn sie jetzt Melissa anriefe mit der Bitte, sie möge ihre Tochter doch bitte früher abholen als vereinbart, weil das FBI sie wieder angerufen hatte?
Noch weitere fünf Minuten starrte Kate Michelle an, legte sich sogar neben sie und legte ihr die Hand auf die Brust, um ihre Atmung zu spüren. Und das kleine Wesen zu sehen, das noch nichts über die Grausamkeiten wusste, die existierten, machte die Entscheidung viel leichter für Kate.
Mit dem ersten finsteren Gesichtsausdruck des Tages griff sich Kate ihr Handy und rief Melissa an.
***
Einmal, als Melissa ungefähr sechzehn Jahre alt war, hatte sie spätabends, als Kate und Michael schon schliefen, einen Jungen in ihr Zimmer geschmuggelt. Kate erwachte durch ein Geräusch (was sie später dafür gehalten hatte, dass jemandes Knie gegen die Wand schlug) und ging nach oben, um nachzuschauen. Als sie Melissas Tür aufmachte und ihre Tochter oben ohne mit einem Jungen im Bett vorfand, schmiss sie ihn vom Bett und schrie ihn an, dass er verschwinden solle.
Die Wut in Melissas Augen damals war vergleichsweise gering gegen das, was sie jetzt sah, als sie nun Michelle gegen 21:30 Uhr in den Kindersitz schnallte – knapp eine Stunde, nachdem Duran Kate hinsichtlich des Falls in Roanoke angerufen hatte
„Das ist voll daneben, Mama“, meinte sie.
„Lissa, es tut mir leid. Aber was zum Teufel sollte ich denn machen?“
„Also, soweit ich informiert bin, bleiben die Leute in Rente, wenn sie erstmal in Rente gegangen sind. Vielleicht probierst du es mal damit!“
„So einfach ist das nicht“, entgegnete Kate.
„Nee, ist klar, Mama“, sagte Melissa. „Mit dir war noch nie etwas einfach.“
„Das ist nicht fair…“
„Glaube nur nicht, dass ich sauer bin, weil du mir meinen einen freien Abend zum relaxen verkürzt. Darum geht es nicht. So egoistisch bin ich nicht. Im Gegensatz zu anderen Leuten. Ich bin sauer, weil dir dein Job – mit dem du vor über einem Jahr hättest durch sein sollen – immer noch wichtiger ist als deine Familie… nach Dad…“
„Lissa, lass uns jetzt nicht davon anfangen.“
Mit einer Zartheit, die sich weder in ihrer Stimme noch in ihrer Haltung wieder spiegelte, nahm Melissa den Kindersitz.
„Ganz deiner Meinung. Lass uns das einfach seinlassen“, sagte Melissa, und dabei spuckte sie die Worte förmlich aus.
Und damit ging sie zur Haustür hinaus, die sie hinter sich laut zuknallte.
Kate wollte nach der Türklinke greifen, stoppte sich aber. Was sollte sie denn tun? Würde sie den Streit vor dem Haus weiterführen? Außerdem kannte sie Melissa sehr genau. Nach ein paar Tagen würde sie sich beruhigt haben und sich Kates Seite der Geschichte anhören. Vielleicht würde sie sogar Kates Entschuldigung annehmen.
Wie eine Verräterin fühlte sie sich trotzdem, als sie nach ihrem Handy griff. Als sie Duran anrief, sagte er, dass er sowieso damit gerechnet hatte, dass sie den Fall übernehmen würde. Nach derzeitigem Stand hatte er jemanden von der Virginia State Police organisiert, der sich mit ihr und DeMarco morgen früh um 4:30 Uhr in Whip Springs traf. DeMarco hatte sich in Washington DC vor einer halben Stunden mit einem Wagen des FBI auf den Weg zu ihr gemacht. Sie sollte bei Kate ungefähr um Mitternacht ankommen. Kate wurde klar, dass sie Michelle leicht wie vereinbart bis 23 Uhr bei sich hätte behalten können und damit keine Konfrontation mit Michelle gehabt hätte. Aber darüber konnte sie jetzt nicht nachdenken.
Das Tempo, in dem sich die Dinge entwickelten, hatte Kate ein wenig überrascht. Obwohl der letzte Fall, den sie übernommen hatte, auch scheinbar aus dem Nichts gekommen war, hatte er eine Art Struktur gehabt. Aber dass sie zum letzten Mal innerhalb nur einer Stunde solch einen Fall übernommen hatte, das war schon eine Weile her. Ihr war etwas mulmig zumute, aber sie war auch sehr aufgeregt – so sehr, dass sie sogar erst einmal Melissas Wut aus ihren Gedanken verbannen konnte.
Dennoch durchfuhr sie ein stechender Gedanke, während sie die Tasche packte und auf DeMarco wartete. Dies war genau die Eigenschaft, die zwischen ihr und Melissa schon so viel Ärger heraufbeschworen hatte – nämlich die Eigenschaft, dass sie um des Jobs willen alles andere beiseite drängte.
Aber auch diesen Gedanken schob sie jetzt mit Leichtigkeit beiseite.
KAPITEL DREI
Eines der vielen Dinge, die Kate während ihres letzten Falls über DeMarco gelernt hatte, war, dass sie pünktlich war. An diese Eigenschaft erinnerte sie sich, als es exakt um Mitternacht an der Tür klopfen hörte.
Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, dass ich so spät noch Besuch bekommen habe, dachte sie. Im College vielleicht?
Mit ihrer gepackten Tasche ging sie zur Tür. Aber als sie die Tür öffnete, sah sie, dass DeMarco keineswegs vorhatte, direkt wieder ins Auto zu steigen und zum Tatort zu rasen.
„Auch wenn es unhöflich erscheinen mag, ich muss mal aufs Klo“, eröffnete ihr DeMarco. „Das war keine gute Idee, zwei Cola während der Fahrt runterzukippen, um wach zu bleiben.“
Kate lächelte und trat zur Seite, um DeMarco vorbei zu lassen. Wenn man den Druck betrachtete, den Duran ihr gemacht hatte, erschien die Ruppigkeit der Situation als geradezu ungewollte Erleichterung. Auch gab es ihr ein Gefühl der Verbindung mit DeMarco, nachdem sie sich zuletzt vor fast zwei Monaten gesehen hatten; dass sie auf dem gleichen Level weitermachten, auf dem sie nach der Aufklärung des letzten Falls aufgehört hatten.
Mit einem verschämten Lächeln im Gesicht erschien DeMarco einige Minuten später aus dem Bad.
„Ach, und guten Morgen übrigens“, sagte Kate. Vielleicht lag es am Koffein, aber DeMarco schien zu dieser späten Stunde noch fit zu sein.
„Ja, mir scheint, dass es morgens ist“, meinte sie, als sie auf die Uhr schaute.
„Wann hast du den Anruf bekommen?“, fragte Kate.
„Zwischen 20 und 21 Uhr, würde ich sagen. Ich wollte früher losfahren, aber Duran wollte erst hundertprozentig sicher sein, dass du dabei bist.“
„Ja, das tut mir leid“, meinte Kate. „Ich hatte heute zum ersten Mal meine Enkelin zum babysitten hier bei mir.“
„Oh nein. Wise… das ist ja jetzt echt blöd. Dass dir der Fall so in die Quere kommt...“
Kate zuckte mit den Schultern und wedelte den Gedanken mit der Hand fort. „Es wird schon okay sein. Bist du soweit, dass wir loskönnen?“
„Ja. Ich habe unterwegs ein paar Anrufe getätigt. Einige Jungs in Washington DC haben mit für uns ein Meeting angesetzt. Wir treffen die Virginia State Police um 4:30 Uhr beim Haus des Ehepaars Nash.“
„Das Haus des Ehepaars Nash?“
„Das letzte Paar, das ermordet wurde.“
Sie gingen zur Tür hinaus und auf dem Weg schaltete Kate das Wohnzimmerlicht aus und schnappte sich ihre Tasche. Sie war aufgeregt hinsichtlich dessen, was jetzt wohl vor ihnen lag, fühlte sich aber gleichzeitig, als verlasse sie auf unüberlegte Weise ihr Zuhause. Schließlich hatte bis vor einigen Stunden noch ihre zwei Monate alte Enkelin friedlich auf ihrem Bett geschlafen. Und jetzt war sie gerade dabei, zum Tatort eines Doppelmordes zu fahren.
Sie sah den Zivilwagen des FBI am Kantstein direkt vor ihrem Haus parken. Er wirkte surreal und gleichzeitig einladend.
„Willst du fahren?“, fragte DeMarco.
„Klar“, sagte Kate und fragte sich, ob der jüngere Agent ihr die Fahrerrolle anbot, um ihr Respekt zu erweisen, oder ob sie einfach eine Pause vom Autofahren brauchte.
Kate setzte sich hinter das Steuer, während DeMarco die Wegbeschreibung zum letzten Tatort aufrief. Das Städtchen hieß Whip Springs, lag in Virginia und war ein verschlafenes Nest am Fuße der Blue Ridge Mountains vor den Toren der Stadt Roanoke. Unterwegs hatten sie nur wenig Small Talk – Kate beschrieb DeMarco, wie sie sich nun als Großmutter fühlte, während DeMarco kaum etwas sagte. Sie selbst erwähnte nur eine erneut in die Brüche gegangene Beziehung, nachdem ihre Lebensgefährtin sie verlassen hatte. Dies überraschte Kate, denn sie hatte DeMarco nicht für lesbisch gehalten. Das führte ihr vor Augen, dass sie sich wirklich mehr Zeit nehmen musste, um die Frau, mit der sie als Partnerin so viel Zeit verbrachte, besser kennenzulernen. Ihre Pünktlichkeit hatte sie bemerkt. Ihre Homosexualität nicht. Was sagte das über sie selbst als Partnerin aus?
Als sie sich dem Tatort näherten, las DeMarco ihr aus den Berichten zu dem Fall vor, die Duran geschickt hatte. Während DeMarco las, suchten Kates Augen den Horizont nach den ersten Sonnenstrahlen ab, sahen aber keine.
„Zwei ältere Ehepaare“, begann DeMarco. „Moment… eines Anfang fünfzig, das andere Anfang sechzig… also, ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Bist du nicht“, antwortete Kate, und fragte sich, ob dies DeMarcos merkwürdige Art von Humor war.
„Auf den ersten Blick haben die Ehepaare nichts gemeinsam, abgesehen von den Tatorten. Der erste liegt direkt hier im Herzen von Roanoke und der zweite liegt kaum vierzig Kilometer entfernt in Whip Springs. Es ist nicht erkennbar, ob der Mann oder die Frau das primäre Ziel war. Jeder der Morde war blutrünstig und extrem, was darauf schließen lässt, dass der Killer Spaß an seinem Werk hatte.“
„Und das wiederum lässt typischerweise darauf schließen, dass der Killer meint, dass ihm die Opfer zu irgendeiner Zeit Unrecht getan haben“, meinte Kate. „Entweder das, oder es handelt sich um ein krankes, psychologisches Verlangen nach Gewalt und Blutvergießen.“
„Die letzten Opfer, die Nashes, waren vierundzwanzig Jahre lang verheiratet. Sie haben zwei Kinder. Eines lebt in San Diego, das andere besucht derzeit die University of Virginia. Sie ist diejenige, die die Leichen entdeckt hat, als sie gestern nach Hause kam.“
„Was ist mit dem anderen Ehepaar?“, fragte Kate. „Hatten sie Kinder?“
„Davon steht nichts in den Berichten.“
Kate dachte daüber nach und aus irgendeinem Grund kam ihr das Mädchen, das ihr früher an diesem Tag auf der Straße begegnet war, in den Sinn. Oder genauer gesagt, ihr kam der Flashback in den Sinn, den das Mädchen ausgelöst hatte.
Als sie schließlich am Haus der Nashes ankamen, zeigte der Himmel sein erstes Licht, wenn auch noch keine Sonnenstrahlen zu sehen waren. Schwache Sonnenstrahlen stachen hier und da durch die Baumreihe, die das Haus der Nashes umgab. Sie sahen ein einzelnes Auto vor dem Grundstück parken. Ein Mann stand an die Motorhaube gelehnt, rauchte eine Zigarette und hatte einen Kaffeebecher in der Hand.
„Sie sind Wise und DeMarco?“, fragte der Mann.
„Ja“, sagte Kate und trat vor, um ihren Ausweis zu zeigen. „Und wer sind Sie?“
„Palmetto, Virginia State Police Department. Spurensicherung. Ich habe vor einigen Stunden den Anruf erhalten, dass Sie beiden den Fall übernehmen. Dachte mir, ich sollte hier sein, um das zu übergeben, was ich habe. Was übrigens nicht gerade viel ist.“
Palmetto nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, warf die Kippe auf den Boden und drücke sie mit seinem Fuß aus. „Die Leichen wurden bewegt und es gibt sehr wenig Spuren. Aber kommen Sie erstmal herein. Es ist… nicht ohne.“
Palmetto sprach mit dem Tonfall eines Mannes, der den Job schon eine ganze Zeitlang machte. Er führte sie den Pfad zu Nashes Haus entlang und auf die Veranda. Sobald er die Tür öffnete und sie hinein führte, konnte Kate es riechen: Der Geruch eines Tatorts, an dem eine Menge Blut vergossen worden war. Da hing etwas Chemisches in der Luft, nicht nur der kupferartige Geruch von Blut, sondern auch der von Bewegung und von Leuten, die mit Gummihandschuhen gerade erst den Tatort untersucht hatten.
Je weiter sie in das Haus vordrangen, desto mehr Lichter schaltete Palmetto ein – im Eingangsbereich, im Flur, im Wohnzimmer. Im hellen Schein der Deckenlampe sah Kate zuerst den Blutfleck auf den Holzdielen. Dann noch einen, und noch einen.
Palmetto führte sie zur Vorderseite der Couch und wies auf das Blut.
„Die Leichen waren hier, eine auf der Couch, die andere auf dem Boden. Es hatte den Anschein, als dass die Mutter zuerst umgebracht wurde, wahrscheinlich durch den Schnitt quer über ihren Hals, wobei dieser sehr nah am Herzen endete, aber auf der Rückseite. Theoretisch muss es einen Kampf mit dem Vater gegeben haben. Er hat Hämatome an den Unterarmen, aus seinem Mund ist Blut gedrungen, und der Couchtisch liegt auf der Seite.“
„Irgendwelche frühen Eingebungen, was den Zeitrahmen angeht, von den Morden bis die Tochter die Leichen entdeckte?“, fragte Kate.
„Nicht mehr als ein Tag“, antwortete Palmetto. „Eher zwölf bis sechszehn Stunden. Ich bin sicher, der Gerichtsmediziner wird im Laufe des Tages etwas Konkreteres für Sie haben.“
„Sonst noch irgendwas von Bedeutung?“, fragte DeMarco.
„Tatsächlich, ja“, sagte Palmetto, griff in die Innentasche seiner dünnen Jacke und zog ein unscheinbares Beweismitteltütchen hervor. „Ein Beweismittel. Das einzige. Ich habe es bei mir behalten. Habe mir auch die Erlaubnis geholt, also machen Sie sich keinen Kopf. Hab mir gedacht, Sie wollen es sicher haben und sich darum kümmern. Es ist die einzige Spur, die wir gefunden haben, und sie ist ziemlich unheimlich.“
Er übergab die kleine Plastiktüte an Kate. Sie griff danach und betrachtete den Inhalt. Es sah aus wie ein Stück einfachen Stoffs, zehn mal fünf Zentimeter. Es war dick, blau und flauschig. Die gesamte rechte Seite war voller Blut.
„Wo ist das gefunden worden?“, fragte Kate.
„Tief reingestopft in den Rachen der Mutter. Fast bis ganz runter in den Hals hinein.“
Kate hielt es gegen das Licht.
„Sieht aus wie einfach irgendein Fetzen Stoff.“
Aber da war sich Kate nicht so sicher. Ihre großmütterliche Intuition sagte ihr, dass dies nicht einfach irgendein Fetzen Stoff war. Nein… er war weich, hellblau, und sah flauschig aus.
Dies war das Stück einer Decke. Vielleicht von der Kuscheldecke eines Kindes.
„Haben Sie noch andere Überraschungsbeweise für uns auf Lager?“, fragte DeMarco.
„Nein, mehr gibt es von meiner Seite aus nicht“, meinte Palmetto und war schon auf dem Weg zur Tür. „Falls die Damen weitere Hilfe benötigen, dann melden Sie sich gern beim State Police Department.“
Hinter seinem Rücken tauschten Kate und DeMarco einen genervten Blick aus. Ohne dass eine von ihnen etwas sagen musste, war klar, dass ihnen beiden die Floskel „die Damen“ sauer aufgestoßen war.
„Kurz und knapp, der Mann“, meinte DeMarco, als Palmetto von der Haustür aus die Hand zum Gruß erhob und dann ging.
„Auch gut“, meinte Kate. „Dann können wir schon einmal anfangen, den Fall mit unseren eigenen Augen zu betrachten, ohne davon beeinflusst zu werden, war jemand anderes gefunden hat.“
„Glaubst du, wir sollten zuerst mit der Tochter sprechen?“
„Wahrscheinlich. Und dann untersuchen wir den ersten Tatort und sehen, was wir dort herausfinden können. Hoffentlich treffen wir dort auf jemanden, der etwas gesprächiger ist als unser guter Freund Palmetto.“
Sie verließen das Haus und schalteten nacheinander dabei alle Lichter aus. Als sie vor die Tür traten, ließen sich die ersten Sonnenstrahlen blicken. Kate steckte die Plastiktüte mit dem Inhalt, den sie für den Stofffetzen einer Decke hielt, vorsichtig in ihre Tasche und konnte nicht umhin zu denken, dass ihre Enkelin unter einer ganz ähnlichen Decke schlief.
Die Sonne konnte den kalten Schauer, der ihr über den Rücken lief, nicht unterdrücken.