Kitabı oku: «Die kapitalistische Gesellschaft»
Boike Rehbein
Die kapitalistische Gesellschaft
UVK Verlag · München
Prof. Dr. Boike Rehbein lehrt Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Umschagmotiv: © istockphoto, bCracker
© UVK Verlag 2021
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Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
utb-Nr. 5765
ISBN 978-3-8252-5765-1 (Print)
ISBN 978-3-8463-5765-1 (ePub)
Inhalt
1 Einleitung
2 Vorgeschichte 2.1 Handel und Finanzen 2.2 Kolonialismus 2.3 Der Nationalstaat 2.4 Enteignung 2.5 Staatsfinanzen 2.6 Technologie und Industrie 2.7 Ausbeutung der Natur 2.8 Politische Legitimation 2.9 Entstehung von Klassen 2.10 Gleichheit und Freiheit 2.11 Kapitalismus und Markt
3 Kapital und Arbeit 3.1 Was ist Kapital? 3.2 Wachstum 3.3 Großunternehmen und Konkurrenz 3.4 Arbeit und Tätigkeit
4 Ungleichheit und Herrschaft4.1 Ökonomische Klassen4.2 Soziale Klassen4.3 Die Produktion sozialer Klassen4.4 Soziale Klassen in Deutschland4.5 Soziale Klassen im internationalen Vergleich4.6 Überblick über die institutionelle Vermittlung der Klassenherrschaft
5 Die globale Ordnung5.1 Der Kalte Krieg und der Neoliberalismus5.2 Förderung der Kapitalkonzentration5.3 Transnationale Unternehmen5.4 Eigentum und Großunternehmen5.5 Grundbesitz und Immobilien
6 Finanzkapital6.1 Staatsschulden6.2 Konzentration des Finanzkapitals6.3 Finanzmärkte6.4 Der Internationale Währungsfonds6.5 Welthandel6.6 Ratingagenturen6.7 Buchhaltung
7 Politik 7.1 Postdemokratie 7.2 Herrschende Klasse und politische Ämter 7.3 Think Tanks 7.4 Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen 7.5 Ein Beispiel: Die Bertelsmann-Stiftung 7.6 Finanzierung der Politik 7.7 Kriege 7.8 Weltherrschaft
8 Recht 8.1 Verrechtlichung 8.2 Gesetzgebung 8.3 Privatisierung 8.4 Berater 8.5 Legalisierung von Ausbeutung
9 Medien, Bildung und Wissenschaft 9.1 Vereinheitlichung der Medien 9.2 Finanzierung der Medien 9.3 Mittel der Manipulation 9.4 Wissenschaft 9.5 Schule 9.6 Beispiel: Gesundheit
10 Die herrschende Klasse 10.1 Definition 10.2 Die Zusammensetzung der herrschenden Klasse 10.3 Porträt der herrschenden Klasse in Deutschland 10.4 Porträt der herrschenden Klasse der USA 10.5 Meritokratie 10.6 Verschleierung des Vermögens
11 Fazit
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Register
1 Einleitung
Das Buch bietet einen Gesamtüberblick über die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft. Es erklärt, wie Wirtschaft, Politik, Recht, Medien und Wissenschaft zusammenwirken, um eine hierarchische Ordnung zu errichten und zu erhalten. Dabei geht es nur am Rande um ökonomische Daten. Die grundlegende These des Buches lautet, dass Kapitalismus eine Form der Ausbeutung ist, die ohne andere Formen des Wirtschaftens – beispielsweise Tausch, freundschaftliche Hilfe, Ehrenamt und Markt – nicht existieren kann. Der Kapitalismus ist auf nicht-kapitalistische Gesellschaftsstrukturen angewiesen, usurpiert und transformiert sie jedoch. Damit verwandelt er die Gesamtheit der Strukturen in eine kapitalistische Gesellschaft. Diese These stützt sich auf die Kapitalismustheorie des Historikers Fernand BraudelBraudel, Fernand.
Über BraudelBraudel, Fernand hinausgehend ergänze ich die These um die Behauptung, dass es sich bei der kapitalistischen Gesellschaft um eine Herrschaftsordnung handelt. Kapitalismus ist demnach nicht vorrangig eine Wirtschaftsform oder eine Produktionsweise, sondern eine Vermittlung von Herrschaft. Der Kapitalismus dehnte sich über die Welt aus, nachdem er von den Herrschenden Europas als Prinzip angenommen wurde, zunächst im Kolonialismus, sodann mit der Produktion einer Lohnarbeiterschaft.
Im Kapitalismus sind fast alle Menschen Abhängige, wie das in vorkapitalistischen Herrschaftsordnungen auch der Fall war. Die kapitalistische Gesellschaft unterscheidet sich von früheren Ordnungen, indem sie auf der Trennung von Kapital und Arbeit beruht. Die Einführung der Lohnarbeit drehte die Beziehung zwischen Kapitalismus und Gesellschaft um – die Gesellschaft ist nun auf das Kapital angewiesen. Ohne Arbeit oder eine Hilfe durch die Besitzer des Kapitals würden wir verhungern. Die Bedingungen stellt nicht die Gesellschaft, sondern das Kapital. Die Besitzer des Kapitals oder Kapitalisten sind Menschen, die Profite aus Investitionen nutzen, um ihr Kapital zu vermehren und sich Privilegien zu sichern, die ich in ihrer Gesamtstruktur als Herrschaft bezeichne. Die Kapitalisten umfassen weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung und rekrutieren sich fast vollständig aus einer sozialen Klasse. Die unsichtbare Ordnung sozialer Klassen ist die charakteristische Struktur kapitalistischer Gesellschaften.
Im Gegensatz zur landläufigen Meinung geht es im Kapitalismus nicht um Geld, sondern um Kapital. Geld und andere Formen von Vermögen dienen den meisten Menschen nur als Mittel zum Konsum, verringern sich also. Kapital hingegen wirft einen Profit ab, der zur Kapitalvermehrung eingesetzt werden kann. Der Einsatz von Geld und Profit für den Konsum hat mit Kapitalismus nichts zu tun. Kapital hingegen ist ein Mittel, um die ungleiche Verteilung von Privilegien zu sichern. Diese Ungleichverteilung begründet die kapitalistische Herrschaftsordnung. Die so genannte Wirtschaft ist lediglich ein Aspekt der kapitalistischen Gesellschaft, zu deren Verständnis man die Gesamtheit der Institutionen und Strukturen betrachten muss. Das ist Aufgabe des Buches.
Auch wenn ich die Forschung für dieses Buch noch nicht abgeschlossen habe und viele Thesen einen vorläufigen Charakter haben, erscheint es mir notwendig, das Manuskript in der vorliegenden Form zu veröffentlichen. Denn es gibt meines Wissens leider kein Buch, das verständlich zeigt, wie das System der kapitalistischen Gesellschaft in seiner Gesamtheit funktioniert. Bislang verfügbare Werke konzentrieren sich auf einzelne Aspekte, Auswüchse und Regeln. Überblickswerke beschäftigen sich fast ausschließlich mit wirtschaftswissenschaftlichen Sachverhalten. Die Fragmentierung des Wissens, also die Konzentration auf isolierte Probleme, stärkt das System, weil jede isolierte Erkenntnis oder Maßnahme sich in die Gesamtheit der Zusammenhänge einfügt und diese dadurch in ihrer Funktion verbessert oder so angepasst werden muss, dass sie mit ihrer ursprünglichen Intention nichts mehr gemeinsam hat. Das vorliegende Buch will demgegenüber den Zusammenhang von Wirtschaft, Politik, Recht, Gesellschaft und Öffentlichkeit im Kapitalismus erklären.
Das Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft wird durch die gegenwärtige politische Konstellation erschwert. Die vorherrschende Meinung, die ich als Naturalismus bezeichne, suggeriert, das System beruhe auf naturwissenschaftlichen Grundlagen, die nicht verändert und vielleicht nicht einmal verstanden werden können. Die Gegner der vorherrschenden Meinung tendieren zu Verschwörungstheorien, da die beobachtbaren Prozesse dem Naturalismus ganz offensichtlich widersprechen und eine kohärente Erklärung der gegenwärtigen Gesellschaft nicht zur Verfügung steht.
Die kapitalistische Gesellschaft ist sehr komplex. Sie wird sicher nicht von einer winzigen Gruppe gesteuert. Vielmehr tragen wir alle zum System bei, und wir alle haben ein – wenn auch meist geringes – Maß an Macht, Veränderungen zu bewirken. Fast jede Verschwörung ist kontraproduktiv. Sie sorgt für Sand im Getriebe und bei Aufdeckung für Ärger, weil das Wissen über die Zusammenhänge seitens der Verschwörer nie ausreicht, um alle Folgen zu überblicken. Das Buch wird zeigen, dass das System besser funktioniert, als eine Verschwörung es sich hätte ausdenken können. Andererseits handelt es sich beim Kapitalismus auch nicht um ein selbsterzeugendes System, das unveränderlichen Naturgesetzen unterliegt. Das System wurde durch das Zusammenspiel von Menschen mit unterschiedlichen und oft entgegengesetzten Interessen geschaffen und wird auf die gleiche Weise aufrechterhalten. Es ist keine natürliche oder naturgesetzliche Angelegenheit.
Das vorliegende Buch sucht beide Richtungen zu widerlegen. Beide verdecken, dass der Kapitalismus und die dahinterstehende Herrschaftsordnung sich an der Wurzel des Problems befinden. Sie befürworten undemokratische Lösungen für eine entstehende Katastrophe, die nicht durch zu viel Demokratie erzeugt wurde, sondern durch zu wenig. Sie identifizieren Marktwirtschaft und Kapitalismus, Demokratie und Expertenherrschaft, Öffentlichkeit und Meinungsmache, Gerechtigkeit und Interessenpolitik, Wissenschaft und Manipulation – sei es zustimmend, sei es ablehnend. Diese Gleichsetzungen sind jedoch falsch. Sie verhindern das Verständnis des kapitalistischen Systems und führen in einen totalitären Staat. Nur das Verständnis des gesamten Systems eröffnet das Verständnis seiner Teile und Wege zu einer sinnvollen Veränderung.
Die ersten drei Kapitel des Buches beschäftigen sich mit den Grundlagen. Das erste Kapitel zeichnet die historische Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer wesentlichen Komponenten nach. Das zweite Kapitel sucht den Kapitalismus systematisch zu fassen. Im dritten Kapitel wird die kapitalistische Gesellschaft als Herrschaftsordnung interpretiert und genauer analysiert. Die folgenden Kapitel erläutern, wie die Elemente des Systems – Wirtschaft, Politik, Recht, Gesellschaft und Öffentlichkeit – ineinandergreifen, sich gegenseitig stützen und es nahezu unangreifbar machen. Das letzte Kapitel ist einer genaueren Untersuchung der Herrschaft gewidmet.
Die Vorgeschichte des heutigen Kapitalismus wurzelt in Oberitalien und sodann in der kolonialen Welt, die zwischen dem 17. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg von England dominiert wurde. Mit dem Ersten Weltkrieg übernahmen die USA zunehmend die Führungsrolle. Daher stehen diese drei Länder im Zentrum der Darstellung, vorrangig die Vereinigten Staaten, England etwas weniger und Italien nur auf den ersten Seiten. Darüber hinaus beschäftigt sich das Buch vor allem mit Deutschland und an einigen Stellen mit Österrreich, da es auf Deutsch verfasst ist und ein Großteil der Leserschaft im deutschsprachigen Raum ansässig sein dürfte.
Vor allem der Lesbarkeit wegen verzichte ich auf eine gendergerechte Sprache. Diese Entscheidung beruht aber auch darauf, dass die bisherigen hierarchischen Gesellschaften mehr oder weniger stark patriarchalische Gesellschaften waren. Die männliche Domination kommt auch in der Sprache zum Ausdruck.
Für ihre präzise Kritik früherer Versionen des Manuskripts danke ich Gerhard Fröhlich, Jochen Rehbein, Martin Seeh, Jessé Souza und Christopher Wimmer.
2 Vorgeschichte
Zu Beginn muss ich vorläufig definieren, was ich unter Kapitalismus verstehe. Diese Definition kann erst am Ende des Buches vervollständigt werden. Es gibt viele Formen des Kapitalismus. Daher sind der Ursprung und die Definition des Kapitalismus umstritten. Wie der Soziologe Max WeberWeber, Max verdeutlicht hat, lassen sich kapitalistische Handlungen bis in die Frühgeschichte vieler Erdteile zurückverfolgen.1 Für alle kapitalistischen Handlungen gilt ihm zufolge dieselbe Definition: Sie sind Investitionen von Kapital mit der Erwartung eines Gewinns. Ähnliches schrieb übrigens auch Adam SmithSmith, Adam, der oft als theoretischer Begründer des Wirtschaftsliberalismus und des heutigen Kapitalismus bezeichnet wird: „Die Erzielung eines eigenen Gewinnes ist das einzige Motiv, welches den Besitzer eines Kapitals leitet“.2 Nun müssen wir hinzufügen, dass der Gewinn erzielt wird, um das Kapital zu vermehren oder zumindest zu bewahren. Die Erzielung eines Gewinns und der folgende Konsum des Gewinns sowie des investierten Kapitals sind nicht als kapitalistisch zu bezeichnen.
Diese Definition ist noch sehr unspezifisch. Sie wird sich verbessern und verfeinern, indem wir die wichtigsten Elemente des Kapitalismus identifizieren und seine Geschichte zumindest in Ansätzen nachverfolgen, um die heutige Konfiguration seiner Elemente zu verstehen. Das soll das vorliegende Kapitel leisten. Die darauffolgenden Kapitel werden die Konfiguration der Elemente in ihrem heutigen Zusammenspiel untersuchen. Erst dann, am Ende des Buches, ist ein vollständiges Verständnis des Kapitalismus möglich. Verbesserte Definitionen des Kapitalismus werde ich jedoch schon am Ende der ersten beiden Kapitel vorbringen.
Das wichtigste Element des Kapitalismus ist Kapital. Wir müssen mit WeberWeber, Max das Kapital als eine Investition mit Gewinnerwartung von anderen Formen des Besitzes abgrenzen.3 Die bloße Verfügung über ein Vermögen ist kein Kapital, weil keine Gewinnerwartung vorliegt. Verbrechen oder Bettelei zielen auch auf einen Gewinn ab, aber der Gewinn wird nicht durch das Kapital selbst erzielt. Oft hat das Kapital die Form von Geld, aber letztlich können alle Gegenstände als Kapital genutzt werden, die einen ökonomisch deutbaren Wert haben und zur Gewinnerzielung eingesetzt werden können, also beispielsweise Häuser, Maschinen, Schiffe oder Wertpapiere.
Das Kapital ist eine Investition, die von Menschen getätigt wird. Ein Mensch, der über Kapital verfügt, wird als Kapitalist bezeichnet. Der Kapitalist setzt sein Kapital ein, um einen Gewinn zu erzielen, der über die ursprüngliche Menge des Kapitals hinausgeht. Dazu muss er das Kapital vor der kapitalistischen Handlung besitzen. Das Kapital als Ressource ist die Voraussetzung des Kapitalismus, nicht sein Resultat. Ferner darf das Kapital im Sinne einer kapitalistischen Investition nicht Gemeineigentum oder für die unterschiedlichsten Leute zugänglich sein. Der Gewinn kommt nur dem Kapitaleigner zugute. Kapital, Investition und Gewinn sind Privateigentum. Das Privateigentum zeichnet sich dadurch aus, dass andere Menschen rechtlich von ihm ausgeschlossen sind.
Die kapitalistische Investition kann unterschiedliche Formen haben. Sie muss nicht, wie Adam SmithSmith, Adam und Karl MarxMarx, Karl behauptet haben, in der Ausbeutung von Arbeitskraft bei der Produktion von Gütern bestehen.4 Vielmehr sind zahlreiche Arten von Kapitaleinsatz möglich, vom Rohstoffabbau über Sklavenarbeit bis hin zum Finanzgeschäft. Historisch weit bedeutsamer als die Ausbeutung von Arbeitskraft ist die Ausnutzung des Unterschieds zwischen Angebot und Nachfrage an zwei Orten: Was an einem Ort relativ billig zu erwerben ist, wird an einem anderen Ort teurer verkauft. Auch der gleichsam kostenlose Abtransport von Rohstoffen und ihr Verkauf an einem anderen Ort ist eine kapitalistische Transaktion, wenn der Profit das Ziel ist. In diesem Fall investiert der Kapitalist Kapital, um Gegenstände an einem Ort zu kaufen oder abbauen zu lassen und an einem anderen Ort zu verkaufen. Der Erlös muss ihm das ursprüngliche Kapital ersetzen und einen zusätzlichen Gewinn liefern, der auch den Lebensunterhalt finanziert.
In diesem Sinne existierte der Kapitalismus, wie Max WeberWeber, Max argumentiert hat, seit Jahrtausenden an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten – allerdings immer nur begrenzt auf eine kleine Gruppe von Kaufleuten – oder Kapitalisten. Er hat bis ins 19. Jahrhundert nie die gesamte Gesellschaftsordnung erfasst, weil die Gesellschaft entweder wie eine Familie strukturiert war oder von einer Familie oder einer kleinen Gruppe beherrscht wurde und die Kapitalisten als besonderer Stand eine untergeordnete Position einnahmen. Wir haben es heute jedoch mit einer Form des Kapitalismus zu tun, die alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt und nicht auf eine kleine Gruppe beschränkt ist.5 Die Durchdringung aller Bereiche der Gesellschaft durch den Kapitalismus ist das entscheidende Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft, auch wenn sie nie vollständig gelingen kann, und wurde zuerst im neuzeitlichen Europa durchgesetzt. Daher handelt dieses Buch vom westlichen Kapitalismus.6
Mit der Entstehung des westlichen Kapitalismus in der Neuzeit wurde einerseits die persönliche Herrschaft eines Fürsten oder Königs über das Gemeinwesen in die unpersönliche Institution des Nationalstaats verwandelt, andererseits geriet der Staat in finanzielle und soziale Abhängigkeit von den führenden Vertretern des Kaufmannsstandes und der alten Aristokratie, die zu einer herrschenden Klasse verschmolzen. Diese Klasse monopolisierte mehr oder weniger das gesamte gesellschaftliche Kapital, von dem der Staat abhängig wurde. Insgesamt kann die kapitalistische Gesellschaft als eine staatlich institutionalisierte Schuldknechtschaft der Bevölkerung durch die Kapitalisten charakterisiert werden. Wenn im Folgenden von Kapitalismus die Rede ist, meine ich den derart institutionalisierten Kapitalismus, der durch die westliche Weltherrschaft verbreitet wurde. Dieser Kapitalismus ist von den Begriffen Markt, Marktwirtschaft und Wirtschaft zu unterscheiden, die eine materielle Reproduktion der Gesellschaft zum Ziel haben.
Vor diesem Hintergrund lassen sich die Definitionen zu Beginn des vorliegenden Abschnitts etwas präzisieren, auch wenn eine vorläufige Definition des Kapitalismus erst am Ende dieses Kapitels geliefert werden kann. Kapitalisten sind – zu allen Zeiten – zunächst Menschen, die Kapital mit der Erwartung eines Gewinns investieren. In der kapitalistischen Gesellschaft bilden sie eine Gruppe, die Investition mit Herrschaft verknüpft und das Kapital in einem beträchtlichen Maße monopolisiert, während die restliche Bevölkerung zum Überleben auf Lohnarbeit angewiesen ist, weil sie weder Zugang zu Kapital noch zu Subsistenzmitteln wie Ackerland oder Waldprodukten hat und durch die Institutionen von Staat und Wirtschaft zu Arbeit gezwungen wird. Ein Charakteristikum der kapitalistischen Gesellschaft ist die Verschmelzung von Kapital und herrschender Klasse. Investoren, die lediglich vom Ertrag ihrer Investition leben, ohne Herrschaft auszuüben, bezeichne ich in diesem Buch nicht als Kapitalisten. Dass und wie der Staat von einer kleinen herrschenden Klasse abhängig ist, werde ich im Folgenden zu zeigen versuchen. Ich werde außerdem aufweisen, in welchem Maße das Kapital von dieser Klasse monopolisiert und zur Aufrechterhaltung ihrer herrschenden Position eingesetzt wird. Dabei wird sich zeigen, dass das ohne Verschwörung möglich ist.
2.1 Handel und Finanzen
Die am meisten verbreitete Version der Geschichte lautet, dass sich der Aufstieg des Kapitalismus der überlegenen Produktivität verdankte, die er entfaltete.1 Die Entwicklung der Wissenschaft, technische Erfindungen, die betriebliche Arbeitsteilung und der freie Markt sollen den Erfolg des Kapitalismus begründet haben. Tatsächlich spielten diese Faktoren eine Rolle, aber erst in einer Zeit, als der westliche Kapitalismus einen Großteil der Welt schon erobert hatte. Technik und Industrie waren nicht die Triebkräfte des Kapitalismus. Großindustrie, die Dampfmaschine, das Gusseisen, das Schießpulver und viele andere Entwicklungen, die wir für entscheidende Neuerungen des westlichen Kapitalismus halten, gab es in Asien schon Jahrhunderte früher als in Europa.2 Und die Großindustrie entwickelte sich in Europa erst, als die wichtigsten Elemente des Kapitalismus schon existierten. Die Industrialisierung war ebenso wie der Einsatz von Technologie nur ein Element der Entfaltung des Kapitalismus. Das zeigt sich, wenn man die Entwicklung des (westlichen, institutionalisierten) Kapitalismus Schritt für Schritt nachvollzieht.
Die Anfänge des (westlichen, institutionalisierten) Kapitalismus reichen weit in das mittelalterliche Italien zurück, und die vollständige Transformation westlicher Gesellschaften in kapitalistische Systeme ist erst für das 20. Jahrhundert festzustellen. Die Erfindung des handelbaren Kredits, der Kolonialismus, der Nationalstaat, die Staatsverschuldung, die Industrialisierung und die wissenschaftliche Grundlegung der Volkswirtschaft waren wichtige Etappen auf dem Weg zum heutigen Kapitalismus, aber keine Etappe allein hat den Kapitalismus begründet. Diese Etappen werden die folgenden Abschnitte skizzieren, da sie zentrale Elemente des heutigen Kapitalismus begründeten.
Den heutigen Kapitalismus können wir in die oberitalienischen Städte zurückverfolgen, wo Kapitalgesellschaften entstanden, die von Banken finanziert und von der Aristokratie kontrolliert wurden.3 Eine für den Kapitalismus entscheidende Neuerung war um 1200 die Wiederentdeckung des so genannten Wechsels.4 Der Wechsel ist ein Stück Papier, für das ein Kreditnehmer Geld erhält und im Gegenzug auf dem Papier die Zahlung einer entsprechenden Geldsumme zu einem späteren Zeitpunkt verspricht. Der Kreditgeber erhielt normalerweise einen Zins auf den Wechsel, also einen Gewinn. Im 16. Jahrhundert wurde der Wechsel dahingehend weiterentwickelt, dass er gemeinsam mit dem Anspruch auf Rück- und Zinszahlung weiterverkauft werden konnte – ähnlich wie eine Staatsanleihe heute.5
Beim Kreditgeschäft sitzt der Verleiher – oder der Kapitalist oder die Bank – immer am längeren Hebel. Für das Verständnis des Kapitalismus ist es wichtig, sich zu verdeutlichen, dass beim Kreditgeschäft nicht zwei gleiche Partner einander gegenübertreten. Der Verleiher gewinnt (fast) immer, der Kreditnehmer verliert (fast) immer. Nehmen wir als Beispiel einen Kredit von 1000 Euro mit einer Laufzeit von einem Jahr und einem Zinssatz von fünf Prozent. Ein Geldverleiher hat zu Beginn des Geschäfts 1000 Euro, am Ende 1050. Der Kreditnehmer hat am Anfang 0 und am Ende 0, erhält aber 1000 Euro und muss 1050 zurückzahlen. Der Kreditgeber verliert nur, wenn der Kreditnehmer das Geld nicht zurückzahlt. Die einzige Möglichkeit für den Kreditnehmer, hinterher nicht ärmer als vorher zu sein, besteht darin, die 1000 Euro so zu investieren, dass nach einem Jahr ein Gewinn von mindestens 50 Euro über die investierten 1000 Euro hinaus erzielt wird.
Dieses Ziel verfolgte und verfolgt der Handel. Kaufleute müssen auch heute noch oft einen Kredit aufnehmen, weil sie erst beim Verkauf der Ware Geld erhalten. Oft besitzen sie zum Zeitpunkt des Kaufs das notwendige Kapital nicht. Der Handel ist kapitalistisch, insofern er mit Gewinnerwartung investiert. Das trifft auf den europäischen Handel seit dem 13. Jahrhundert immer mehr zu. Die meisten anderen Kreditnehmer machen mit einem aufgenommenen Kredit keinen Gewinn, sondern finanzieren beispielsweise ihr Eigenheim oder ihren Konsum. Im Handel wird hingegen gekauft, um teurer zu verkaufen. Der Händler erhält am Ende das eingesetzte Kapital plus einen Gewinn, der nicht (vollständig) konsumiert wird.
Der europäische Fernhandel des Mittelalters wurde zunehmend durch Kredite finanziert, und der Wechsel spielte eine wichtige Rolle. Händler bezahlten mit einem Wechsel, kauften also auf Kredit, bevor sie die Ware verkauften. Darüber hinaus handelten die oberitalienischen Kaufleute schon im 13. Jahrhundert mit Währungen oder Edelmetallen, indem sie Gold in goldarmen Gegenden verkauften und Silber dort, wo Silber knapp war.6 Die Kredit- und Währungsgeschäfte wurden immer mehr von Banken übernommen, die in Italien ihre erste Blüte erfuhren. Ein Finanzkapital entstand, das in Banken institutionalisiert und konzentriert war.
Die Herrscher der norditalienischen Stadtstaaten waren oft gleichzeitig Inhaber großer Bankhäuser und Organisatoren des Fernhandels. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist die Familie Medici, die Jahrhunderte lang Florenz beherrschte und mehrere Päpste stellte. Gleichzeitig gehörte ihr das wichtigste Bankhaus der Stadt Florenz.7 Die Medicis brauchten etwa ein Jahrhundert für ihren Aufstieg von einer wohlhabenden zur reichsten Familie der Stadt, bis Cosimo de‘ MediciMedici, Cosimo de‘ zu Beginn des 15. Jahrhunderts Bankier des Papstes wurde. Zu dieser Zeit war die Familie mit den anderen mächtigen Familien von Florenz bereits durch Heirat verflochten.8 Zunehmend entstand ein Konflikt zwischen den Medicis und dem Papst um die Vorherrschaft in Italien, den die Medicis im 16. Jahrhundert dadurch für sich entschieden, dass sie sich selbst zu Päpsten wählen ließen, während sie sich gleichzeitig auf ihre Bank und die Herrschaft über Florenz stützten.9
Zur mächtigsten Handelsstadt entwickelte sich ab etwa 1000 u.Z. Venedig. Der Stadtstaat kontrollierte den Fernhandel im östlichen Mittelmeer, in dem Konstantinopel den Austausch mit Asien vermittelte.10 1204 gelang Venedig der Durchbruch, indem es Konstantinopel eroberte und dadurch den Handel zwischen Europa und Asien weitgehend unter seine Kontrolle brachte. Einige Jahrzehnte später reiste der Venezianer Marco PoloPolo, Marco nach China. 1310 wurde die venezianische Verfassung verabschiedet, die der Aristokratie die Macht im Staat verlieh. Die Aristokratie bildete den Großen Rat und wählte den Rat der Zehn, gleichsam die Regierung, und den Dogen, eine Art Regierungschef. Dieser Staat trieb Handel, Piraterie und Kolonialisierung im östlichen Mittelmeer. In den Kolonialgebieten mussten Sklaven für die Venezianer arbeiten. Die venezianische Aristokratie wurde reich.
Heute führen wir die Entstehung des westlichen, institutionalisierten Kapitalismus eher auf die Geschichte Englands11 als auf die Venedigs zurück. Dafür gibt es gute und weniger gute Argumente. Die soziale und politische Struktur des Staates Venedig sowie die Quellen seines Reichtums waren vom England des 17. Jahrhunderts nicht grundsätzlich verschieden. Die Herrschaft einer kleinen Aristokratie, die sich vermittelt über den Staat durch den Fernhandel, Raub und die Ausbeutung von Sklavenarbeit in Kolonialgebieten bereichert, ist in England und Venedig identisch. Wo der Kapitalismus im heutigen Sinne begann, ist nicht leicht zu sagen. Beide Staaten gründeten sich auf kapitalistisch finanzierten Fernhandel und Kolonialisierung.
Handel und Finanzwesen sind bis heute zentrale Bestandteile des Kapitalismus. Im Handel wird ein Gewinn gemacht, indem man billig kauft und teuer verkauft, im Finanzwesen, indem man Geld gegen Zinsen verleiht. Man mag einwenden, dass der Handel ein Nullsummenspiel sei: Was der eine gewinnt, verliert der andere. Oft wird im Handel tatsächlich eine Seite übervorteilt. Er ist jedoch kein Nullsummenspiel. Erstens hat Adam SmithSmith, Adam mit Bezug auf den Gebrauchswert gezeigt, dass im Handel beide Seiten gewinnen können. Als Beispiel führte er den Tausch von polnischem Getreide gegen portugiesischen Wein an – da in Polen kein guter Wein erzeugt werden könne, beziehe man ihn aus Portugal, und das Getreide beziehe Portugal aus Polen.12 Zweitens hat der europäische Handel schon für Venedig Werte geschaffen, indem nicht nur mit Kaufleuten anderer Staaten gehandelt wurde, sondern Rohstoffe und Sklaven verkauft wurden. Diese wurden zu geringen Kosten akquiriert, verschifft und gehandelt. Ohne die Ausbeutung der Natur ist die Geschichte des Kapitalismus gar nicht denkbar, wie ich weiter unten zeigen werde.13
Ähnlich verhält es sich mit dem Finanzwesen. Geld und Wertpapiere sind nicht einfach Symbole für einen „realen“ Wert, der durch die Produktion erzeugt wird. Vielmehr sind sie auch Machtmittel und können selbst Werte bilden. Darüber hinaus muss dem Geld oder Wertpapier kein anderer Wert entsprechen.14 Sie können einfach geschaffen werden, insofern sie als Zahlungs- oder Wertaufbewahrungsmittel akzeptiert werden. Wir tun das jeden Tag, indem wir auf den Staat und die Gesellschaft vertrauen, dass ein bedrucktes Stück Papier uns den Kauf von Waren ermöglicht. Schließlich wird der Wert des Gesamtvermögens einer Gesellschaft nicht allein durch die Produktion gesteigert, sondern, wie erwähnt, auch durch die Ausbeutung der Natur, sowie durch Dienstleistungen aller Art. Es ist wichtig festzuhalten, dass das Finanzsystem keineswegs eine Entartung eines früher einmal gesunden Kapitalismus bildet, sondern von Anfang an ein zentraler Bestandteil des Kapitalismus war – ganz gleich, wo man den Anfang ansetzt. In der Spekulation können Handel und Finanz verbunden werden.
In England wurden jedoch drei weitere Faktoren wirksam, die so in Venedig nicht gegeben waren, nämlich die Enteignung der Landbevölkerung, die Verwandlung des Gemeinwesens in einen Nationalstaat und die Privatisierung der Staatsschulden über eine Staatsbank. Insgesamt sind mindestens diese Faktoren von Bedeutung: Fernhandel, Finanzwesen, Kolonialismus, Nationalstaat, Enteignung, Staatsschulden und Ausbeutung der Natur. Im Folgenden werde ich die zuletzt genannten Faktoren erläutern, die bislang noch nicht eingehend diskutiert wurden.