Kitabı oku: «J’accuse», sayfa 7
Kerker in Casabianda
Die Tage schleichen so dahin, fast zählen wir die Stunden. Wir haben uns gegenseitig zu ertragen und müssen gute Miene zum bösen Spiel machen. Keiner zeigt es, wenn es ihm bisweilen schwer aufs Herz fällt, wie unwürdig doch unsere ganze Lage ist! Keiner klagt, und das ist gut, es war kein Feigling unter uns. Aber manchmal denke ich doch an Lears Worte: „Ich stürb’ vor Mitleid, säh’ ich andre so!“ Gestalten wie der alte Moor treten mir lebhaft ins Gedächtnis, wie ich als Jüngling erschauert bin, wenn der Alte von seiner Kerkerzelle seinem Raben, dem Hermann, dankte. Ich hatte damals das Gefühl, als röche man den Unrat der furchtbaren Zelle von der Bühne herauf zur Galerie, wo wir Schüler saßen. – Das Innere unseres Kerkers spottete jeder Beschreibung. Immer wieder baten wir um Stroh und wurden vertröstet; das wenige, welches uns zur Verfügung stand und welches so rücksichtsvoll geteilt wurde, hatte schon lange in der Zelle gelegen und war faul und voller Läuse. Man hatte Läusespiritus für uns aufgetrieben und uns in die Zelle geschickt, und jeden Morgen nach dem Waschen (wir mußten uns in unseren Gamellen, die auch zum Essen dienten, waschen) kam die Einreibung mit dem Spiritus und jeder hatte acht auf den anderen, daß er von dem köstlichen Stoffe nicht mehr nahm, als unumgänglich nötig war, besonders aber nichts vergeudete. Wir mußten sehr haushälterisch damit umgehen, auf neuen konnten wir nicht rechnen. So kämpften wir gegen diese furchtbare Plage, aber doch nicht mit ganzem Erfolge, wenn auch jedes Stück Wäsche nach draußen zum Auskochen gegeben wurde. Die Läuse sind das fürchterlichste Ungeziefer, das zur Plage des Menschen bestimmt ist, kein anderes kommt dem gleich, und wir vier Aussätzigen litten darunter mehr, als wir uns gestehen mochten. Aber wir kämpften gegen den Unmut mit ganzer Energie. Krieg ist Krieg, und wenn wir auch zu der verzweifelten Rolle der zwecklos Leidenden verdammt waren, auch da trat die Aufgabe an uns heran, unseren Mann zu stehen, und wir haben sie erfüllt und einen gewissen bösen Humor gepflegt, der uns über schwere Stunden hinweghalf. Ich schrieb einmal auf einem Zettel an Remer, der sich noch relativer Freiheit mit den anderen erfreute: „Uns geht es vorzüglich, wir brauchen nicht um sechs Uhr aufzustehen, wir hören kein zweistündiges Blasen zum Appell, unser Essen müssen wir uns nicht selber holen, wir sehen nur zweimal am Tage und zu genau vorbestimmter Zeit Korporale und Offiziere; und vor allem, wir leben nicht wie Ihr in der beständigen Furcht, daß wir für irgendein unbedachtes Wort in den Kerker fliegen.“ Remer hat in der Zeit rührend für mich gesorgt, was möglich war, bekam ich, und sowohl Simeoni wie Mephisto ließen alles, auch Briefe, durch. Um neun Uhr etwa ging die Zellentür auf, drinnen war es halbdunkel, nachts ganz, das ist etwa dasselbe. Wir hatten uns vorher gewaschen und gesäubert, dann kam der wachthabende Offizier mit dem Korporal, Posten und den Kerkerverpflegern. Wir bekamen Brot und Wasser und die Träger ließen hier und da einige inoffizielle Gegenstände aufs Stroh fallen. Der Kübel wurde herausgeholt und gereinigt, die Gamellen gereinigt und die Zelle selber. Dann wurde alles wieder geschlossen und wir lagen wieder im Dunkeln. Das dauerte freilich nicht lange, denn schon zündeten wir eine Kerze an und durchsuchten das Stroh nach eventuellen Nachrichten oder Eß- und Trinkwaren, besonders Käse, Eier und Wurst waren begehrt, dabei Tabak und Zigarren, Streichhölzer usw. Nun, wir fanden meist genug, besonders in dem sogenannten nahrhaften Wasser, welches meist Konserven und gekochte Eier barg. (Zwei freundliche Männer hatten den Transport unserer Lebensmittel übernommen, aber sie kamen dabei zu Schaden. Wieder verriet einer, der den Posten, bei welchem immer kleine Geldgeschenke abfielen, haben wollte, die beiden, und jeder erhielt fünfzehn Tage Kerker.) Danach wurde gefrühstückt, meist mit gutem Appetit. Um 10½ Uhr durften wir auf eine Viertelstunde draußen im Korridor spazierengehen, da ordneten und glätteten wir unseren äußeren Menschen, um nicht dem alten Moor ähnlich zu werden, und schnappten in sehr homöopathischer Dosis Luft. Danach lasen wir in der Dunkelzelle, spielten auch wohl Karten oder vertrieben uns durch Nachdenken oder Gespräche die Zeit, und sie verging auch wirklich. Manchmal schrieb ich auch einige Gedichte nieder und freute mich, daß ich dazu noch in Verfassung war. Ich will einige wiederholen: „Ich bin nicht stolz.“ „Wo warst du?“ „Sträflingen den Tod versagen.“ (Zum größten Teil verloren oder von der Zensur in Uzès verstümmelt.) Und ich schrieb auch an meine Frau, natürlich nicht von dem, was mir geschehen war, das wäre grausam gewesen; und ich bin später besonders stolz gewesen, als auf meine Briefe aus dem Kerker ihre Antwort eintraf: „Ich freue mich, daß ich aus Deinen Briefen ersehe, wieviel besser es Dir geht. Du hast nie so kräftig und zuversichtlich geschrieben.“ Und darin hat sie recht behalten, ich hatte durchaus nicht poesiert. Ich habe mich wirklich kräftig gefühlt, gerade durch diese Zeit, die die schwersten Anforderungen an unsere Energie gestellt hatte, und in der Kerkerzelle habe ich die Feigheit abgeschüttelt, als könne eine Demütigung, sei es, welche es sei, die von Feindes Seite kommt, uns erniedrigen. Damals zeigten wir stolze Mienen, weil wir vermochten, das Unerhörte gleichgültig über uns ergehen zu lassen, und ich glaube heute noch, daß wir ein Recht dazu hatten. Wie ich die Briefe geschrieben hatte, schickte ich auch ein Gedicht, das für meine Frau bestimmt war: „Streich getrost ein Jahr des Lebens.“ Wir mußten sparsam sein mit unserem Lichte, und so wurde es nachmittags wieder dunkel; wir unterhielten uns. Dann kam um vier Uhr das Essen, die Suppe. O Gott, wie schaudert mir davor! Das gräßliche Fett! Aber sagen durften wir das nicht, und ich denke noch mit herzlichem Vergnügen, wie wir, nachdem jeder einen mehr oder weniger großen Teil in den Abfalleimer gegossen hatte, mit schmunzelnder Miene einer zu dem anderen das übliche: „Nun, die Suppe war heute durchaus nicht schlecht, die ließ sich essen“, äußerten. Ja, wir waren bescheiden und durften uns nun wohl an ein Wurstbrot wagen, oder Eier nehmen, falls wir solche hatten. Auch Konservenbüchsen wurden hervorgeholt. Abends wurde meist noch ein Skat gespielt und dann zur Ruhe gegangen. – Wir schliefen, abgesehen von schweren Hautreizungen, nicht schlecht. Und so ward aus Abend und Morgen ein neuer Tag, und der neue glich dem alten aufs Haar, und gerade weil einer war wie der andere und verging wie der, weil wir keinen Wechsel hatten, so schien es uns auch, als ob die Zeit nicht gar so langsam hinginge, und wir trösteten uns mit Shakespeares Wort, daß die Zeit auch durch den rauhesten Tag geht. Neues konnten wir ja nicht erwarten, und es geschah auch nicht viel. Ulrich hatte im Namen der anderen Gefangenen eine Beschwerde über die Prügelaffäre an den Kommandanten aufgesetzt und wurde zitiert. Aber an der Strafe änderte das nichts. Das Wort zweier französischer Offiziere schlug das von tausend gefangenen boches und mit dem „Sie sind gar nicht geschlagen“ war ein so lächerlicher Zwischenfall erledigt, bis viel, viel später die sechs Gefangenen vor dem Kriegsgericht in St. Nicola ihre Aussagen nunmehr eidlich bekräftigen durften. Und daß sie später zum Eide zugelassen worden sind, gab uns zu denken. Was wir im Lager erfahren, sind ja immer nur halbe Nachrichten. Der Tag, wo uns verkündet wurde, oder vielmehr nicht verkündet, denn man nahm das als selbstverständlich, daß unsere Strafe auf dreißig Tage erhöht sei, gehörte nicht zu den angenehmsten; aber wir haben auch den in Fassung über uns ergehen lassen. Es waren nämlich auch in unseren Kerker die Gerüchte gedrungen, daß die französische Regierung den Anträgen der amerikanischen Botschaft nachgegeben habe und das Lager Casabianda noch im April räumen wolle. Das war erfreulich, aber weniger war es die Aussicht, daß wir im neuen Lager gleich wieder als Sträflinge ins Gefängnis abgeführt werden sollten. Aber was sein soll, mag sein. Schlimmer konnte es ja doch nicht werden wie hier. Und es wurde wirklich so. Die Gerüchte, daß wir nach Uzès kämen, wurden sicherer und schließlich bestimmt; der Termin, der dreißigste April, war festgesetzt. Am Tage vorher dankten wir es der Gnade Mephistos, daß wir uns einmal am ganzen Körper unter fließendem Wasser waschen durften, und das war köstlich. Ich schrieb noch am Abend in meine Blätter die erwartenden Zeilen für Uzès. Am dreißigsten April, früh sechs Uhr, kam der Schwarze und holte uns ab. Gepackt war alles, und gegen acht Uhr setzten wir uns in Bewegung. Vor dem Abmarsch fiel von Weichs in schwerem Anfall zu Boden; die Tage waren doch nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Nun kamen die Gruppenführer und baten den Kommandanten, zu gestatten, daß der Kranke auf den Transportwagen gelegt würde. Der bestimmte in rührender Humanität, daß „das Schwein da“ zu Fuß ginge, und daß der Offizier dafür zu sorgen habe, daß ihn keiner unterstütze. Das war der Abschiedsgruß des Ehrenwerten. Wir gingen an einem recht heißen Tage auf Umwegen zum Bahnhof – die freie Luft tat doch wohl – und wurden nach Bastia verladen. Die Freundlichkeiten, die wir hörten, waren schon etwas matter geworden, auch die Steinwürfe, und unser neuerwachter Freiheitsdrang erzeugte wieder die seltsamsten Gerüchte: Wir kämen zunächst nach St. Nicolas, da würden die ausgesondert, die nach Hause geschickt würden usw. usw. Derlei versagte nie seinen Eindruck. In Bastia ging’s aufs Schiff; diesmal hieß es „Galvani“ (undeutlich im Original). Bei ruhigem Meer hatten wir eine sonst gleich gräßliche Fahrt. In Marseille wurden wir wieder umgeladen auf ein anderes, kleineres Schiff, das uns nicht zum anderen Bahnhof führte, wie wir gemeint hatten, sondern in gerader Fahrt zum Ponton, also Zwischenstation. Ob das zur Erholung war, oder ob die ausgemustert werden sollten, welche zur Heimreise bestimmt waren, das erfuhren wir damals nicht, später auch nicht. Der Ponton ist ein alter, ausrangierter, schwimmender Güterschuppen. Er soll anfangs als Quarantänestation benutzt worden sein, diente nun als Gefangenenlager. Er ist etwa 20 Meter lang, 10 Meter breit, 10 Meter hoch, in drei Etagen geteilt.
Wir wollen auf ein anderes Kapitel unserer Gefangenschaft kommen, so groß, so erhaben, daß es uns über alles, was kleinlich war, hinweghalf, das uns oder die Besseren unter uns für unser großes Leiden entschädigte, das war die Verfolgung des gigantischen Feldzuges in Rußland. Damals durften wir noch, oder auch wieder, französische und englische Zeitungen lesen und kämpften in Gedanken an der Seite der Unseren, mit ihnen Siege feiernd. Das enthob uns für Stunden dem Grau des Alltags. Freilich hatten wir auch unter guten Nachrichten zu leiden, und das gab uns einen gewissen Anteil daran. Unsere Bedrücker verhehlten uns gegenüber ihre Stimmung durchaus nicht, und wir standen wehrlos ihnen gegenüber. Wir durften uns nicht glückwünschend die Hände reichen, wenn wir es auch oft verstohlen taten. Wir bekamen keine Extrablätter vom Falle Warschaus und sahen nicht Knaben und Mädchen jubelnd aus der Schule kommen, weil unser braves Heer ihnen wieder einen schulfreien Tag geschlagen hatte. Wir bekamen gute Kost so neidisch und hämisch und in so kleinen Portionen zugeteilt, daß wir hungerten. Damals waren auch noch spanische Zeitungen erlaubt, freilich nur die franzosenfreundlichen, sie wurden aber bald verboten, da Spaniens Haltung Frankreichs Mißtrauen weckte. Auf deutsche Zeitungen wurde wie auf Spione gefahndet, sie wurden aus jedem Paket herausgerissen; wo sie besonders gewandt versteckt waren, wurde der Empfänger mit Gefängnis nicht unter vier Tagen im Einzelfalle bestraft. Auch die englischen Zeitungen waren unseren Aufsichtsräten noch zu offenherzig, und so wurden sie nur durch großen Scherenschnitt verstümmelt uns ausgehändigt. Aber auch Scheren sind tückisch und schneiden oft falsch; so ließen sie oft stehen, was fort sollte, und nahmen Unwichtiges weg, wirkten auch, wie ein Vergleich ergab, oft verschieden in verschiedenen Exemplaren der Zeitungen.
Wie gesagt, pillenweise schluckten wir gute Nachrichten. So fiel Warschau etwa so:
Der Traum der Deutschen: Einige übergeschnappte Phantasten in Deutschland träumen sogar von einer möglichen Einnahme Warschaus. Napoleon hatte bekanntlich 1812 …
Ein Herr, der absolut zuverlässig ist und in Amsterdam wohnt, erklärt uns, daß Warschau nie den Russen entrissen werden kann. Er erklärte unserem Korrespondenten zugleich, daß nach mathematischer Berechnung die victoire finale auf allen Fronten für die Alliierten sein müsse.
Nach Nachrichten aus der Schweiz, die natürlich rosig gefärbt sind für die boches, sollen hartnäckige Kämpfe bei Warschau stattfinden.
Die Russen haben bei Warschau einen großen Sieg zu verzeichnen, sie haben die Stadt in tadelloser Ordnung geräumt, der Feind ist eingezogen, und der Großfürst Nikolaus hofft, ihn nun nach sich zu ziehen, wie es ihm beliebt, denn Napoleon hatte 1812 …
Die Deutschen feiern in ihrer kindlichen Art den Fall Warschaus, der doch für Rußland so ganz bedeutungslos gewesen ist. Daß die victoire finale unseren glorreichen Alliierten nicht entrissen werden kann, erleuchtet aus einem historischen Vergleiche: Napoleon zog bekanntlich im Jahre 1812 …
So war es ein eigenartiges und durchaus nicht leichtes Studium, uns durch alle Floskeln hindurchzulesen, aber wir lernten es; wir lernten auch, zurückzudatieren und nach dem, was nicht geschrieben oder gelogen wurde, allgemeine Stimmung herauszulesen. Wir zeichneten Karten. In allen Zimmern hingen schließlich solche aus, bis sie verboten wurden, wie auch die Zeitungen; das war im Februar 1916. Wir verfolgten das siegreiche Vordringen der Russen in ihr eigenes Land, immer uns den Weg weisend, den wir folgen sollten, jusqu’à la victoire finale. Die Tage nach Warschau, da unerwartet schnell eine Festung nach der anderen fiel, waren mit unseren diplomatischen Siegen im Balkan die schönsten, auch wenn jede Zeitung uns täglich seit mehr als einem Jahre die Schlacht an der Marne und den Rückzug der deutschen Truppen dort als Dessert vorsetzte. Eigentümliche Leser müssen die Franzosen sein, die Presse darf die frechsten Lügenkombinationen in die Zeitungen bringen, die ein deutscher Leser mitsamt dem Annoncenteil und dem Feuilleton dem Redakteur um die Ohren schlüge. Der Franzose will es so. Er mag nicht beunruhigt werden und seine patriotische Anregung mag er auch nicht vermissen, es gehe wie es gehe, nachher kommt ja doch, was unvermeidlich ist. Er ist darin, sonst durchaus nicht, dem Spanier ähnlich. Er belügt sich gern, darum müssen vor allen Dingen die Ueberschriften aufregend sein. Holland, Spanien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Amerika, alles ging in dicken Ueberschriften jede Woche mindestens zweimal mit den Alliierten in den Krieg. Was nach der Ueberschrift kam, brauchte ja niemand genauer zu lesen, auch nicht, aus welcher Quelle die erschütternde Nachricht stammte.
Wir haben genau an der Hand der Karten die Vorgänge auf dem Kriegsschauplatz verfolgt und uns begeistert an so mächtiger Führung, aber all das drückte den Stachel der Erkenntnis nur tiefer und schmerzhafter in unser Inneres: wir waren nur Zaungäste, wir durften nicht mithelfen, ja nicht einmal zeigen, was uns froh machte. Schwer drückt die Gefangenschaft! – Auch empfindlich macht sie und reizbar. Jede Nachricht eines Rückganges oder einer größeren Zahl von Verlusten auf unserer Seite wird natürlich gerade umgekehrt zu uns getragen. Seesieg bei Riga!
Die deutsche Flotte teilweise vernichtet! Acht Torpedos, zwei große Kreuzer und der Dreadnought „Moltke“ zum Sinken gebracht! Einige Schiffe haben sich bis in den Hafen von Libau geflüchtet, wo sie bis Danzig verfolgt wurden. Der Zar hat in allen Kirchen Tedeum angeordnet, er empfängt von seiten aller Verbündeten Glückwunschtelegramme. Siegesfeier in Petersburg und allen Städten Rußlands. —
Englischen Blättern zufolge ist es nicht sicher, daß der Dreadnought „Moltke“ torpediert ist, es heißt nach neueren Berichten „im Stile Moltke“. —
Die lügnerische deutsche Presse dementiert unsere Berichte über die Seeschlacht von Riga, man sieht daraus, wie zuverlässig … usw. —
Die „Times“ berichtet, daß bei Riga zwei Torpedos versenkt sind, zwei andere sollen nach Libau entkommen sein. Die „Moltke“ ist in neutralen Häfen gesehen worden.
Das war der Schluß der Riesenseeschlacht bei Riga.
Als ich diese Zeilen schreibe, lese ich in der Zeitung, die Franzosen haben nördlich von Châlons in einer Front von 25 Kilometern einen großen Sieg erfochten, 20000 Gefangene gemacht und die Reihen der Feinde durchbrochen. Das letztere wird im weiteren widerrufen, es wird auch sonst vieles übertrieben sein; aber ich mag bei solchem Berichte die Zeitung schon gar nicht mehr in die Hand nehmen, viel schwerer empfinde ich das Fernsein bei Niederlagen als bei Siegen. Der Russe soll ja ein reichlich dickes Fell in politischen Fragen haben, sonst müßte das Los eines in Deutschland gefangenen Russen das kläglichste sein, das ich mir denken kann. Wenn nicht unsere Erfolge, das ganze und volle Vertrauen auf unsere Regierung, Heer und Marine uns aufrechterhielte und ein starkes Gegengewicht gegen das Elend im Lager gebildet hätte, was wäre aus uns geworden? Ich kann mir nicht denken, daß ich ein so hoffnungslos klägliches Schicksal durchgehalten hätte.
Uzès!
Doch nun zu Uzès! Ich will das tägliche Lagerleben kurz abmachen, um den Leser nicht zu langweilen, wie wir uns gelangweilt haben. Der Grundzug des Lebens in Uzès bestand in einer großen Oede, unterbrochen von Ereignissen der traurigsten Art, zum großen Teil Nachwehen von Casabianda.
Unser Einzug in Uzès fand am 4. Mai 1915, abends 7 Uhr, unter dem Jubel der Bevölkerung statt. Ein Gejohle, Pfeifen, Brüllen, Kreischen, Zischen, Heulen empfing uns, wie beim Einzug in Korsika, nur näher und daher sinnbetäubender, daß selbst die stärksten Trommelfelle kaum standhielten. Wir dankten nach beiden Seiten für die lärmenden Huldigungen, fanden aber kein rechtes Verständnis bei der exaltierten Menge, außer daß uns einige Damen ihre Zungen grüßend entgegenstreckten und Grimassen schnitten, die auch bei dem fahlen Laternenlicht ihre Gesichter nicht verschönten. Gegen 8 Uhr gelangten wir durch einen Toreingang auf einen Kasernenhof von 70 Meter Länge, 30 Meter Breite, der schwach erleuchtet war. Wir erhielten zu essen und wurden dann namentlich ins Bureau gerufen. Der Kommandant sagte zu mir auf deutsch: „Sie sind bestraft, nicht wahr?“ Ich bejahte das und er fragte warum? „Weil ich mich um Hilfe an den Herrn Generalgouverneur wandte gegen die Prügelstrafe, welche einige Offiziere in Casabianda gegen uns Gefangene eingeführt haben.“ Er kannte die Sache und es war mir schon gesagt, daß er auf meiner Seite stand. So beschied er mich auf morgen. Wir gingen dann nach oben, erhielten ein Zimmer zu zehn Mann, darunter Moritz, Bonitz, Schmidt, Schaaf, Pasch, von Maltzahn, Spangenberg, Hirschfeld, fanden für jedes Lager Strohmatratze, Strohsack, Schlafsack und zwei Decken vor. Das Zimmer war geräumig und nicht unfreundlich und wir schliefen gut, doch wußte ich, daß ich mein Lager wieder mit einem weniger freundlichen vertauschen müßte, denn noch fehlten neun Tage Kerker. Am nächsten Morgen erfuhren wir das eine, daß wir in ein ganz gutes Lager gekommen waren, und daß es wohl kein Lager in ganz Frankreich gäbe, das Casabianda an die Seite zu stellen wäre. Wir drei Schwerverbrecher, Baron von Weichs, Dr. Steinbrecher und ich, wurden zum Arzt geschickt, der Kommandant hatte vielleicht gedacht, uns so von der Fortsetzung der Strafe zu befreien. Der Arzt fand bei den anderen etwas, bei mir nichts, was ihn nicht hinderte, uns alle drei als haftfähig zu erklären. Der Kommandant sagte uns denn auch sehr liebenswürdig, er könne die Strafe nicht aufheben, weil sie vom Generalgouverneur verhängt sei, er wolle sie uns aber leicht gestalten. Dann rief er uns alle und sagte in einer Ansprache, er wüßte, wie schlecht wir es in Casabianda gehabt hätten, und er wolle sorgen, daß wir es hier besser haben. Im Grunde hat er das gehalten und ist wohlwollend geblieben. Wir konnten uns über das, was an Maßregeln von ihm ausging, nicht beschweren. Was an Ungerechtigkeiten, Repressalien usw. kam, ging nie von ihm aus, und als er seine Stellung verließ, erfuhren wir, wie sehr ein Lagerleben vom guten oder bösen Willen des Kommandanten abhängt. Auch Offiziere und Mannschaften benahmen sich zu damaliger Zeit nicht ungebührlich, wir waren ja auch nicht verwöhnt in Casabianda. Am Abend wanderten wir in den Kerker, das war freilich ein Unterschied gegen Casabianda. Ein heller, großer Raum mit Lagerpritschen. Decken nahmen wir uns mit, wie wir wollten. Der Kommandant besuchte uns am zweiten Tage, gab uns eine Kiste Papier, wenn wir arbeiten wollten. So sind die neun Tage hingegangen, wir kamen zwei bis drei Stunden auf den Kasernenhof, durften auch in die Kantine, und wenn die Wanzen auf den Pritschen nicht gewesen wären, so hätten wir keinen Nachteil gegen die anderen Gefangenen empfunden, die mit ewigen Revisionen und Appellen geplagt wurden. Die Wächter kannten den Grund unserer Bestrafung und benahmen sich durchaus gebührlich. Später sind Freiheiten, wie wir sie genossen, nicht mehr gewährt, auch kamen viele Gefangene in die Einzeldunkelzellen. Die Bestrafungen waren in Uzès etwa so zahlreich wie in Casabianda, nur handelte es sich in den ersten Monaten meist um kurze Ordnungsstrafen. Am 14. Mai endete unsere Kerkerzeit und das Lagerleben begann von neuem.
Wenn ich die Wahrheit bekennen soll, so muß ich gestehen, daß nach den ewigen Aufregungen vergangener Tage die Oede von Uzès fast unerträglich war. Wir waren so ganz heraus aus dem gewohnten Getriebe, kein Korporal setzte uns bei dem ersten Widerstand den Revolver auf die Brust, Schüsse fielen selten und auch nur dann, wenn ein kriegsunkundiger Kämpfer sein Gewehr laden und die Sicherung probieren wollte. Das tägliche Theater fehlte, das unseren Nerven so unbedingte Gewohnheit geworden war. Uns war zumute wie in einer Abstinenzkur, wir hatten sogar einen Korporal, der uns ein gewisses Wohlwollen entgegenbrachte. Das verstößt so gegen alle Regeln und Kriegsgesetze des jüngsten Krieges, wie wir sie bisher in Frankreich erfaßt hatten. An Strafen fehlte es, wie gesagt, nicht; aber es fehlte ihnen so der intime Reiz der Gemeinheit, sie waren nicht einmal immer ungerecht, und es hatte nicht einmal jeder Korporal das Recht, dem ersten besten boche, wenn es ihm gefiel, an die Gurgel zu springen und mit ihm abzufahren. Hier pfiff nicht einer auf den anderen, es herrschte etwas wie militärische Ordnung, und daran muß man sich nach so strapaziöser Zeit erst langsam gewöhnen. Auch der Kerker war, wie ich schon sagte, so gar nicht romantisch, wie in Casabianda, mit verfaulten, dumpf riechenden Mauern und Ungeziefer jeder Art. Die paar Wanzen, was ist das? Auf die Gefahr hin, daß meine Leser einschlafen, will ich mich zwingen, einen Tag der Gefangenschaft zu schildern, den ich ebenso den 1. Juni wie den 20. August oder den 23. Oktober nennen kann. Was galt uns überhaupt ein Datum? Ein Traum war alles und wir ersehnten das Erwachen. „Nur mit Entsetzen wach’ ich morgens auf, ich möchte bittre Tränen weinen, den Tag zu sehn, der mir in seinem Lauf nicht einen Wunsch gewähren wird, nicht einen.“ Also zur Prosa, die besser hierherpaßt. Morgens um 5 Uhr, auch 5½, selbst 6, je nach dem Gang der Sonne, tönt das Signal „Wecken“. Jeder regt, reckt sich und legt sich auf die andere Seite des traurigen Strohlagers, denkt noch zwanzig Minuten nach, erhebt sich, meist der gewohnten Reihenfolge nach, der Langschläfer folgt dem Kurzschläfer. Neben dem Lager steht ein Schälchen Kaffee, seiner braunen Farbe wegen so genannt, den mit dem Wecksignal der Diensthabende in die hingestellten Gefäße gegossen hat. Man greift dazu, ich habe mich an den Verzicht gewöhnt. Einige stürzen sich darauf, essen und trinken dazu, ehe sie sich die Zähne geputzt haben, aber das schwarze Brot, welches eine Nachahmung des K. B. sein soll und extra gemacht ist, uns zu ärgern, wirkt der Zahnbürste ähnlich. Also wir erheben uns, greifen zum gefüllten Eimer, wenigstens die, welche sich einen gekauft haben, zu Handtuch, Seife, Glas, Pebeco, Zahnbürste und gehen in den Waschraum, dessen Fülle und Akustik gräßlich ist. (Ich selber war so undiszipliniert, daß ich die Reinigungsprozedur im Zimmer vornahm.) Dann kam der Diensttuende und reinigte das Zimmer, erst trocken, dann naß. Wir Begüterten stellten Vertreter, da uns die Arbeit nicht so recht von der Hand ging, unsere Burschen machten unsere Lager zurecht, zuletzt ging alles in eiligem Tempo, denn schon erklang eine Stunde nach dem Signal „Wecken“ das zweite Signal „erster Appell“. Wir stellten uns vor die Lager in Reih und Glied und die Regierung nahte, die mit Herrschermiene die Meldung des Zimmerchefs entgegennahm. Dann kam ein solennes Frühstück, Tee, Kaffee, Kakao, je nach dem Sortiment der braven Alten in der Heimat, die mich reichlich versorgt hatte. Dann verteilte sich der Schwarm. Es gab Unterrichtsstunden. Moritz unterrichtete im Englischen, leider nur kurze Zeit, Bonitz im Spanischen, ich nahm Unterricht in Stenographie und später im Neugriechischen und Türkischen, fast alle Sprachen wurden unterrichtet, auch gab Rektor Kalb für die weniger Gebildeten Elementarunterricht, Mathematik usw., was dem Herrn, der sich auch sonst große Verdienste um das Lagerleben erworben hat, besonders gedankt wurde. Der morgendliche Frühgang hatte bei sieben Lokalitäten und über fünfhundert, welche Anwartschaft darauf geltend machten, recht große Schwierigkeiten. Wie eine Schlachtreihe aufgepflanzt, lauerte man auf das Erlösungswort: Ablösung vor; wohl dem, der nach Scheffelscher Sangesweise altphilosophischem Grundsatz der Guanovögel folgen konnte! Aber auch dort war die Einrichtung, so primitiv sie war, doch golden gegen die in Casabianda. Dann kam ruhige Zeit des Arbeitens oder Lesens, anfangs auf eigenem Stuhl am eigenen Tisch, bis das verboten wurde. Ich schrieb mein Tagebuch, mit dem ich später so traurige Erfahrungen gemacht habe, und wenn ich so im Freien saß und schrieb, dann vergaß ich bisweilen das Elend der Gefangenschaft. Ich selber war dienstfrei von jeglichem Dienste. Für die anderen kam um 8½ Uhr das Signal „Turnen“, das war für uns insofern unangenehm, als wir um diese Zeit nicht im Freien sitzen durften. Im Freien – nun, das Wort mag hingehen, der Himmel war über uns, und etwa zehn Bäume gab es auch auf dem Hofe, sonst war der Ausblick freilich durch Haus und Mauer versperrt. Nach einer Stunde wurde das Turnen abgeblasen, wieder nach einer halben Stunde wurde zum Brotempfang und dann zum Essen geblasen.
Meist wurden inzwischen noch einmal die Korporalschaftsführer zusammengeblasen, um Spezialaufträge in Empfang zu nehmen. Beim Essensruf vereinigte sich alles, was essen wollte. Man mußte auf Empfang der Portion meist so etwa zwanzig Minuten warten (das ist später dadurch vereinfacht, daß die einzelnen Zimmer durch Vertreter das Essen in Eimern für jedes Zimmer holen ließen), aber es lohnte sich, besonders wegen des Wechsels im Menü. Montags gab es Fleisch mit Sauce und Kohlsuppe, Dienstags auch, Mittwochs dasselbe, Donnerstags auch, Freitags Stockfisch oder Sardinen und Sonnabends und Sonntags Fleisch mit Sauce und Kohlsuppe. Wir upper ten thousands hatten eigene Art, den Leib zu pflegen. Einige aßen extra in der Kantine, andere kochten selbst oder ließen sich kochen. Zu den letzteren gehörte ich und ich bin nicht schlecht dabei gefahren. Der Mittagstisch, wie ich ihn mit einigen kurze Zeit in der Kantine hatte, wurde bei der dauernden Steigerung der Lebensmittel zu teuer, so daß wir uns derlei nicht mehr leisten konnten, besonders seit die Auszahlungen aus dem eigenen Depot immer mehr beschränkt wurden. Au titre de repressalies wurde überdies bald in der Küche nur dreimal wöchentlich Fleisch verabfolgt und das Brot wurde täglich ungenießbarer.
Der Leser verzeihe mir, wenn ich immer wieder abschweife, die Oede des Alltags in Uzès wirkt noch in der Erinnerung wie Augustgewitterschwüle, und jede Abschweifung ist mir, auch wenn ich mich zwingen will, beim Thema zu bleiben, wie kühlender Wind.
Also weiter: Um 10¾ wurde wieder geblasen, diesmal zum wirklichen Appell. Ich schrieb damals an meine Frau, sie möchte sich doch beizeiten eine ordentliche Trompete anschaffen, denn es würde mir unmöglich sein, ohne das nötige Geblase mich zu Bett zu legen, mich zu erheben, mich zu waschen, zu essen, Nachmittagsschlaf zu halten oder gar aus ihm wieder zu erwachen. Gleich nach dem Appell ertönt das Signal: Die Kantine ist eröffnet. Sechsmal am Tage gibt es Kantinensignal: dreimal Kantine offen, dreimal Kantine zu. Um die Stunde wird Zeitung verkauft und nun stürzen wir uns auf die neusten Nachrichten. Das war zu Zeiten des russischen Feldzuges die schönste Stunde des Tages neben der Abendstunde, wo wir den „Radical“ nach dem Abendappell lasen, der anfangs starke Artikel brachte, dann zahm wurde und aus der Hand fraß. Um ½2 dumpfes Signal: Antreten zum Vortrag. Dahin gehe ich fast nur, wenn ich muß, und ich muß, wenn ich selber spreche. Es ist das nicht selten, weil ich zu den Berufsvortragenden gehöre. Später, als die Möglichkeit zu neuen Themata sich immer mehr erschöpfte, habe ich mich gänzlich emanzipiert. Ich sprach abwechselnd über Medizin und Literatur, bereitete mich wenig dazu vor. Das Publikum ist selten gewählt, es gilt mir als eine Uebung zum freien Sprechen. Ich nehme es keinem übel, der nicht in meine Vorträge kommt, wie ich vice versa dieselbe Rücksicht gegen mich verlange. Aber doch hat es einen gewissen Wert, daß solche Vorträge gehalten werden, es gehört durchaus zum Stil. Ich möchte, ohne jemand zu kränken – mich selber nun schon gar nicht – , behaupten, die Vorträge bilden die Höhe des Stumpfsinns, denn bekanntlich kann man, ohne eine Bibliothek zur Hand zu haben, etwas Wissenswertes kaum bringen, da hier und da Lücken sich zeigen, die aus dem Gedächtnis nicht auszufüllen sind. Nach dem Vortrag der übliche Spaziergang zwischen vier oder sieben Mauern, immer auf und ab und ab und auf, und nun blüht der Stumpfsinn: die Zeitungen und neusten Nachrichten werden besprochen. Da ist Herr A., der hat eigene Interessen und weiß, der Friede steht nahe bevor, weil dadurch seine finanziellen Verhältnisse gebessert werden; da ist Herr B., der genau weiß, daß der Krieg noch zwei Jahre dauert; Herr C., der von Hause im bekannten Hieroglyphenstil der Gefangenen Nachricht erhalten hat, daß Onkel Ruß am Abschnappen und Tante Fränzchen schwerkrank ist, oder daß Onkel Polnickel aus der Hauptstadt ausgezogen ist, womit der Fall Warschaus gemeint ist, den wir schon seit Wochen wissen; Herr D., welcher wieder einmal einen Beitrag zu seiner zahlreichen Korrespondenz mit der amerikanischen Botschaft zu Paris bespricht, von dem er nun endlich Erfolg erwartet; Herr E., Journalist, der mathematisch sicher nachweist, wie sich die Balkanstaaten, jeder einzeln, verhalten müssen und werden, und sich doch immer irrt. Prophezeien ist sehr schwer, nach der Tat schon weniger. Besser man wartet ab und behauptet dann, man habe das alles vorher gewußt. – Nach 19 Monaten der Gefangenschaft hat der französische Staat sich überzeugt, daß meine Patente und Papiere, die ich im Anfange meiner Gefangenschaft eingereicht hatte, wirklich in Ordnung waren, und mich, nachdem ich, wie Schmidt, der in der gleichen Lage war, etwa wöchentlich Eingaben gemacht hatten, als Offizier anerkannt. Ich kam dann mit Hauptmann Engelhard in ein Zimmer und genoß aus vollem Herzen die Ruhe.