Kitabı oku: «Die Wiederentdeckung des Körpers», sayfa 2
II
Bei mir zu Hause hing statt einer Surferin ein Schwarz-Weiß-Portrait von einer kurzhaarigen jungen Frau an der Wand, die mit energisch vorgerecktem Kinn in die Kamera blickt. Ein Werbeplakat aus den 1980er Jahren zum Thema Frauenförderung an Universitäten: «Studeren, niet alleen voor heren» (Studieren ist nicht nur was für Männer). Und während bei meiner Freundin übermäßiger Süßigkeitenkonsum verboten war, war bei uns zu Hause Eitelkeit tabu. «Sich anmalen», wie meine Mutter das Schminken nannte, war verpönt.
Ich war neun oder zehn Jahre alt, und mein erstes Klassenfest stand bevor. Nach einiger Überzeugungsarbeit durfte ich ein bauchfreies Oberteil tragen, denn das war damals der letzte Schrei, ein schwarzes Tanktop, das ich oberhalb des Bauchnabels abgeschnitten hatte. Von meinem Taschengeld hatte ich Wimperntusche und blauen Nagellack gekauft. Als ich angemalt und verunsicherter denn je aus dem Bad kam, musterte mich meine älteste Schwester mit verschränkten Armen von oben bis unten, seufzte und sagte: «Na ja. Vielleicht verliebt sich ja jemand in deine Augen.»
Mit siebzehn hatte ich mir dann zum ersten Mal Dessous gekauft und damit begonnen, die ausgeleierten Sloggis zu ersetzen, die seit Jahr und Tag unseren Wäscheständer dominierten. Heimlich rief ich eine Reizwäsche-Revolution aus. Da ich es nicht wagte, die Slips in den Wäschekorb zu tun, wusch ich sie von Hand aus. Eines Tages wurde mein gesamtes Untergrundnetzwerk ausgehoben. Meine Familie hatte meine grazilen Höschen im ganzen Wohnzimmer verteilt, über den Lampenschirm und an die Türklinke gehängt; ein Stringtanga baumelte an einem Bilderrahmen. Als ich hereinkam, gaben meine Familienmitglieder plötzlich eine thematisch passende Version von Aaron Souls Ring, Ring, Ring zum Besten.
Es wurde nie laut ausgesprochen, aber ich begriff auch so, dass ich mich entscheiden musste: books oder looks. Letztlich fühlte ich mich für Bücher besser geeignet. Als es in der Orientierungsstufe darum ging, auf welche weiterführende Schule ich kommen sollte, schrieb mein ernsthaftes elfjähriges Ich: «Ich werde niemals eine Sechs schreiben. Nie!» (In der Grundschule war mir das nicht gelungen; meine Kompetenz im «Umgang mit Enttäuschungen» war eher unterdurchschnittlich.)
Durch ungeheuren Fleiß schaffte ich es, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Nach intensiven Prüfungswochen schrieb mir meine Mutter manchmal eine Entschuldigung, damit ich zu Hause bleiben konnte: Ich war so müde, dass ich bei den Abendnachrichten in Tränen ausbrach. Bei der allerletzten Klassenarbeit, die ich bei einem verhassten Wirtschaftslehrer schreiben musste, hätte es auch gereicht, wenn ich nur einen leeren Zettel mit meinem Namen darauf abgegeben hätte, um in seinem Fach mit einer 1,7 zu bestehen. Ich malte mir aus, wie es wäre, triumphierend mit dem leeren Blatt nach vorne zu gehen und mich ein einziges Mal wie eine Sechzehnjährige zu verhalten. Aber nein, stattdessen wurde es am Ende eine 1,0.
Auch was das Thema looks anging, war ich extrem. Bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr ging ich unbekümmert in Latzhosen zur Schule, Schminke fand ich ordinär und ich hatte eine Kurzhaarfrisur. Als ich mich zum ersten Mal ins Amsterdamer Rotlichtviertel verirrte, als mir zum ersten Mal ein Mann gegen meinen Willen unter den Rock griff, als zum ersten Mal eine Freundschaft zu Bruch ging, weil sich ein guter Freund in mich verliebt hatte, waren das alles Erlebnisse, die mich in meiner Überzeugung bestärkten, es sei das Beste, möglichst viel Kopf und möglichst wenig Körper zu sein. Damit schien mir die Frage (Wie geht das eigentlich, Frau sein?) ein für alle Mal elegant gelöst zu sein. Meine Freundin biss sich an ihrem Körper fest, während ich ganz und gar Text werden würde. Meine Haare blieben kurz, ich absolvierte zwei Studiengänge parallel, las alles, was ich in die Finger bekam und kritzelte innerhalb von zehn Jahren stapelweise Notizbücher voll. Mein stummer Reizwäscheprotest wurde durch eine regelrechte Wörterflut bereits im Keim erstickt.
Ein Nachmittag im September: Ich bin fast fünfundzwanzig und sitze auf einer Bank ganz hinten im Park. So weit das Auge reicht, nichts als rostrote Baumkronen. Ich bin spazieren gegangen, weil ich müde war und gehofft habe, dass mir die frische Luft gut tun wird. Aber als ich erst mal sitze, kann ich nicht mehr aufstehen. So sehr ich auch auf meine Beine starre und denke, Los, lauft schon! – , sie verweigern mir den Dienst. Meine Beine sind schwer wie Sandsäcke. Es war mir schon öfter passiert, dass ich so lange stillgesessen hatte, bis ich meinen Körper nicht mehr spürte und, ohne mich mit einem Blick zu vergewissern, nicht hätte sagen können, ob meine Beine ausgestreckt oder übereinandergeschlagen waren. Dasselbe Gefühl habe ich jetzt wieder, nur dass mir kein vergewissernder Blick mehr hilft, in meinen Körper zurückzufinden. Mein Kopf ist ein dunkler Dachboden, auf dem ich umherirre, ohne die Luke mit der Leiter nach unten zu finden. Langsam gerate ich in Panik.
In der Jackentasche klingelt mein Handy. Meine eingeschlafenen Hände zittern und werden allmählich wach, und irgendwann schaffe ich es, den Reißverschluss aufzuziehen. Der verpasste Anruf stammt von einer unbekannten Nummer. Ich rufe meinen Vater an und erzähle ihm unter Tränen, dass ich nicht mehr laufen kann.
III
Den Wochen danach fehlen die Worte. Wenn ich etwas lesen will, verschwimmen die Buchstaben, und zum ersten Mal seit Jahren klafft eine große Lücke in meinem Tagebuch. Gleichzeitig traue ich meinem Körper nicht mehr. Ich hole mir ständig blaue Knie: Wenn plötzlich das Licht ausgeht, stürze ich die Treppe hinunter. Die meiste Zeit verbringe ich auf einem Stuhl am Fenster. Während ich den Passanten auf den Kopf gucke und Arnikasalbe auf meine Prellungen auftrage, wird mir bewusst, dass die mentale Bulimie, die ich seit Jahren praktiziere, genauso krankhaft ist wie die körperliche Variante meiner Freundin.
Um mich langsam wieder ans Lesen heranzutasten, beginne ich mit Gedichten. Die sind schön kurz. Vielleicht liegt es daran, dass ich so selten aus meinem Sessel hochkomme, dass es so still ist in meinem Zimmer und der Staub das Einzige, was sich bewegt, aber zum ersten Mal fällt mir auf, wie körperlich ich auf bestimmte Strophen reagiere. Von Hendrik Marsmans «Sonniger Septembermorgen» bekomme ich Gänsehaut: «Das Licht hängt in den Honigwaben / der Fenster wie ein feuchtes Vlies». Dann mache ich mit den Kurzgeschichten von Isaak Babel weiter, bei dem die Beine des sechsfach vergewaltigten Dienstmädchens riechen wie «frisches Hackfleisch» – eine Beschreibung, bei der sich alles in mir zusammenzieht. Und die pornografische Parodie von Louis Paul Boon Die obszöne Jugend der Mieke Maaike entpuppt sich als wirkungsvoller (und witziger) als so mancher durchschnittliche Liebhaber.
Einen gesunden Körper spürt man normalerweise nicht. Ungesunde Körperteile hingegen machen auf sich aufmerksam: eine pochende Wunde, ein tränendes Auge. Nach seinem Generalstreik wird mein Körper noch monatelang Aufmerksamkeit einfordern, während ich mich mit meinem sogenannten «Burnout» herumschlage und allmählich wieder anfange zu schreiben.
Zum ersten Mal spüre ich, wie ich den Text regelrecht aus meinem Inneren freischaufeln muss, wie eng meine körperliche Verfassung mit dem zusammenhängt, was ich produziere. Beim Lümmeln oder im Liegen schreibe ich anders als an meinem Schreibtisch. Mit dem Füller schreibe ich kürzer und pointierter als am Computer. Im Zug schreibe ich schneller als in meinem Zimmer. Laufen kann einen Text in Gang bringen, der mir bereits seit Tagen Rückenschmerzen bereitet.
Kurzum: Mein Körper glaubt nicht länger an den Dualismus. Die zentrale Annahme in der traditionellen abendländischen Philosophie lautet, dass der Körper ein Ding ist, und der Geist etwas völlig anderes. Die zwei verhalten sich zueinander wie gute Nachbarn. Der heftige Wildwuchs des Körpers wagt es normalerweise nicht, auch nur einen Spross über den Gartenzaun des Geists zu strecken. Sprache, der völlig abstrakte Code, mit dem zivilisierte Tiere kommunizieren, wird wie selbstverständlich radikal in die Domäne des Geistes verbannt.
Aber ist Sprache wirklich so abstrakt? Der erste Text, der mich vom Gegenteil überzeugte, war das legendäre Buch Leben in Metaphern von George Lakoff und Mark Johnson. Die beiden Autoren belegen, dass Metaphern nicht nur ein sprachliches Stilmittel sind, sondern unser Denken und Handeln völlig durchdringen, ganz einfach weil unsere Wahrnehmung der Welt grundlegend metaphorischer Art ist. Wir versinnbildlichen abstrakte Begriffe wie Zeit, Liebe und Streit immer in ganz konkreten Bildern. Deshalb sind unser Denken und unsere Sprache im Grunde etwas höchst Sinnliches und Körperliches.
Lakoff und Johnson gehen sogar noch weiter. Da alle Menschen einen Körper besitzen, und alle Körper denselben Naturgesetzen unterliegen, sind viele unserer Metaphern sowohl systematischer als auch universeller Natur. Hier ein einfaches Beispiel: Wer verwundet, müde oder tot ist, liegt flach. Was stark und gesund ist, steht aufrecht. Fazit: alles, was aufwärts gerichtet ist, ist gut. Nicht umsonst ist man «down» oder niedergeschlagen; man schaut zu jemandem auf; gute Neuigkeiten sind aufbauend; man ist in Topform, hat eine Hochphase oder ist hervorragend. In allen Sprachen der Welt ist Feuer eine Metapher für Liebe, weil wir sie mit Körperwärme assoziieren und so weiter. Seit Leben in Metaphern 1980 erschien, ist eine eigene Fachrichtung dazu entstanden. Die sogenannte grounded oder embodied cognition erforscht, inwiefern unser Denken in unserem Körper verankert ist. Zum Beispiel wird beim Lesen des Wortes treten dasselbe Hirnareal angesprochen, wie wenn man tatsächlich tritt. Das heißt, dass auch jener Ort, an dem ich glaubte, meinem Körper gänzlich entfliehen zu können – der Text – der Schwerkraft unterliegt, Wärme und Kälte, Lust und Schmerz empfindet, aus Fleisch und Blut, aus Nerven und Synapsen besteht. Man denkt mit dem Darm. Man liest mit den Beinen. Man spricht mit den Händen. Man schreibt mit seinem Leib.
Um noch einmal auf Sartre zurückzukommen: Der Mensch mag zwar frei in einem Meer aus Möglichkeiten dahintreiben, ist aber an den Körper, mit dem, und an das Wasser, in dem er schwimmt, gebunden. Freiheit beginnt damit, diese Gebundenheit zu akzeptieren. Wer sich ständig nur über die Flecken auf der Fensterscheibe ärgert, hat keinen Blick für den Himmel mehr.
Lange habe ich geglaubt, dass gerade Körperlosigkeit Freiheit bedeutet – denn was ist freier als ein Geist ohne Körper? Erst als beide gleichzeitig streikten, verstand ich, dass mein Schreiben ohne meinen Körper unvollständig ist. All die behutsam gehütete Wärme, die verletzliche Hülle, die Gänsehaut, die Lust, das Bauchweh – sie gehören untrennbar dazu. Genau wie all die seltsamen Schrauben und Federn, die übrig blieben, als ich mit meinem sorgfältig auf Vordermann gebrachten Tacker fertig war. Solange ich es nicht wage, diesen Körper zuzulassen, bleiben meine Euphemismen die verbale Verlängerung meiner Nackenschmerzen. Ich kann nur dann frei durch die beiden benachbarten Gärten meiner Sprache streunen, wenn ich den Zaun einreiße, der sie voneinander trennt.
Was diese Erkenntnis alles so mit sich bringt, schreibe ich später auf. Jetzt ist erst mal Zeit für einen langen Sommer voller Düfte, die niemand festhält. Für Abende, an denen Tanzen die einzige Stilübung darstellt. Erst will ich noch die tantrische Poetik studieren. Die Grammatik der Nerven, den Mittel- und Endreim der Körper, Ernährungsempfehlungen gegen literarische Verfehlungen.
Mit blauen Flecken hat noch niemand einen beschwingten Roman geschrieben.

Was mit dem Kopf passiert, wenn man den Körper vergisst
Der Körper als Kopfwehdossier
Noch nie hat der Mensch so wenig mit den Händen und so viel mit dem Kopf gearbeitet. Man könnte regelrecht meinen, der Körper wäre in erster Linie dafür da, das Gehirn von A nach B zu tragen.
Aber von einem Vehikel, dessen Vorhandensein man nur zu gern vergisst, solange es reibungslos funktioniert, hat sich der Körper in den letzten Jahren immer mehr zu einem alles beherrschenden Thema entwickelt. Qualitätszeitungen widmen neuen Ernährungstrends ganze Seiten, und in den Feuilletons wimmelt es nur so von populärwissenschaftlichen Titeln, die erklären, wie sehr Gehirn oder Darm unser Verhalten bestimmen. Auch im Alltag stolpert man ständig über Superfoods, Yogastudios und Vitaminläden und wird gleichzeitig links und rechts von Leuten überholt, die iPhones um den Oberarm geschnallt haben. Diese sollen den Körper beim Sport überwachen.
Trotzdem habe ich nicht unbedingt das Gefühl, dass wir deswegen besser mit unserem Körper umgehen – ja ich glaube sogar, dass wir uns ihm immer mehr entfremden.
Aufgrund meines eigenen Burn-outs habe ich mich gefragt, ob etwas an unserer kollektiven Einstellung zum Körper ein Ausbrennen unseres Geistes eher befördert.
Burn-out – was ist das eigentlich?
«Einer von sieben Arbeitnehmern leidet unter Burnout-Symptomen», so das Zentrale Amt für Statistik (CBS) der Niederlande im November 2015. Das sind eine Million Niederländer.
Obwohl Uneinigkeit über die genaue Definition herrscht, wird mit «Burn-out» im Allgemeinen eine geistige Erschöpfung bezeichnet, die zu anhaltenden emotionalen, kognitiven und psychosomatischen Beschwerden führt. Das Masloch Burn-out-Inventar (MBI), der bei Weitem gebräuchlichste Test für die Diagnose eines Burn-outs, nennt emotionale Erschöpfung, Zynismus und Ineffizienz als Kriterien. Der Spezialist Wilmar Schaufeli schreibt, dass relativ wenig über die Ursachen eines Burn-outs bekannt ist und erwähnt in diesem Kontext keinerlei körperliche Aspekte. Es handelt sich um eine psychische Störung, die wenn überhaupt körperliche Folgen haben kann.
Wissenschaftler sehen einen Zusammenhang zwischen der Zunahme von Burn-outs und dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Vereinfacht gesagt: Je weiter entwickelt, je liberaler und je privatisierter die Wirtschaft eines Landes ist, desto größer ist der Bevölkerungsanteil mit stressbedingten Beschwerden. Diese Beschwerden treten in einem immer früheren Alter auf. Laut den Zahlen des CBS ist die Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen am stärksten betroffen; fünfzehn Prozent von ihnen laufen Gefahr, sich ausgebrannt zu fühlen. Ansonsten scheinen Frauen häufiger und früher mit Burn-out-Symptomen zu kämpfen als Männer.
Als ich mich mit dem Thema Burn-out beschäftigte, fielen mir zwei Dinge auf: Erstens dass es ein allgemeiner Trend ist, der meist mit individuellen Lösungen bekämpft wird (mit einem Sabbatical, mit neuen Hobbys oder Lavendelöl). Zweitens dass es als geistige Störung gilt: Es ist die überspannte Psyche, die dem Körper Herzrasen und undefinierbare Schmerzen beschert.
Der Stress, der zu einem Burn-out führt, kann verschiedenste Ursachen haben: eine hohe Arbeitsbelastung, Beziehungsprobleme, Geldsorgen und vieles mehr. All das lasse ich hier außen vor. Die körperlichen Folgen eines Burn-outs scheinen bei der Diagnostik und allgemeinen Beschreibung weniger wichtig zu sein als die psychischen, und von körperlichen Ursachen ist erst recht nicht die Rede.
Doch genau das fehlte mir bei der üblichen Aufzählung, nämlich die Rolle des Körpers. In den Monaten, in denen ich mit mehr oder weniger unbrauchbaren Gliedmaßen und einem Gehirn von der Größe einer Walnuss in einem Sessel am Fenster saß und überlegte, wie es nur so weit hatte kommen können, kam mir der Gedanke, dass mein Körper vielleicht mehr ist als eine bloße Anzeigetafel, die angibt, was in meinem Kopf schiefgelaufen ist. Wäre ich auch in diesen Zustand geraten, wenn ich von Anfang an anders mit meinem Körper umgegangen wäre?
Warum Burn-outs heute ein größeres Problem sind denn je
Im Vorfeld hätte ich das niemals für möglich gehalten. Es ist schließlich nicht so, dass ich mich nicht wohl in meiner Haut gefühlt hätte – ich war vielmehr gar nicht mehr richtig darin anwesend. Ich kümmerte mich kaum um mein Äußeres, und Diäten fand ich unsinnig. Wenn ich mir über eines nicht den Kopf zerbrechen wollte, dann über meinen Körper: Darüber nachzudenken war nur was für eitle Fitnessfuzzis. Für mich gab es bloß «entweder oder», entweder Proust oder Proteinshakes, und da fiel mir die Entscheidung nicht schwer.
Die Vorstellung, dass man sich zwischen Geist und Körper entscheiden muss, hat der Philosoph Damon Young schön beschrieben. In seinem Buch How to Think About Exercise führt er das Stereotyp des hirnlosen Fitnesshelden auf Platon zurück, für den der Geist das schlechthin Wahre war (den Körper empfand er bloß als bedrückend), außerdem auf René Descartes, der allem Körperlichen genauso misstraute. Nimmt man dann noch zweitausend Jahre Christentum dazu – Passagen wie «Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen», Römer Kap. 8, Vers 8 – oder besser gesagt dessen von Stoizismus und der Philosophie der Aufklärung geprägte, anti-sinnliche Interpretation –, hat man es mit einem fest verankerten Dualismus zu tun.
Die Trennung von Körper und Geist ist also wahrhaftig nicht neu. Sehr wohl neu sind dagegen das steigende Bildungsniveau und der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft, in der manuelle Arbeit zunehmend von geistiger Arbeit verdrängt wird und technischer Fortschritt körperliche Arbeit und körperlichen Kontakt stets überflüssiger macht – Entwicklungen, die diesen Dualismus laut Young extrem befördern.
Unzufrieden mit dem eigenen Körper
Ebenfalls neu ist das Ausmaß, in dem wir mit unserem Körper unzufrieden sind. The Oxford Handbook of Psychology of Appearance behauptet, dass «zwischen 55 und 75 Prozent der Frauen mit ihrem Körper unzufrieden sind.» In diesem Handbuch steht auch, dass mehr als die Hälfte der britischen jungen Frauen zwischen sechzehn und einundzwanzig eine Schönheitsoperation in Erwägung ziehen, und dass 59 Prozent der fünf- bis achtjährigen Mädchen gern dünner wären. Seit einigen Jahren spricht man sogar von normative discontent: Dieser Begriff besagt, dass Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen keine Ausnahme, sondern die Regel ist – und das nicht mehr nur bei Frauen.
Forschungen haben gezeigt, dass diese Unzufriedenheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark zugenommen hat. Psychology Today führte beispielsweise 1972, 1985 und 1996 aufsehenerregende Studien durch: Waren 1972 noch 23 Prozent der (amerikanischen) Frauen und 15 Prozent der Männer mit ihrem Körper unzufrieden, waren es 1996 schon 56 beziehungsweise 43 Prozent.
Mind over matter
Dieser Dualismus und diese Unzufriedenheit schlagen sich auch in der wachsenden Anzahl von Schönheitsoperationen und Essstörungen nieder. Vor allem Magersucht ist als extreme Variante von mind over matter (Geist über Materie) bekannt. In ihrem bahnbrechenden Buch Der goldene Käfig aus dem Jahr 1978 fasste die Psychoanalytikerin Hilde Bruch das Ideal ihrer Patienten mit der Formulierung «Geist über Körper» zusammen. Sie zitiert eine Patientin wie folgt: «Mein Körper wurde zum sichtbaren Symbol reiner Askese und Ästhetik (…) Alles wurde sehr intensiv und hoch intellektuell, doch absolut unantastbar … Man hat das Gefühl, außerhalb seines Körpers zu stehen.»
Bruch schreibt: «Viele erleben sich und ihren Körper als getrennte Einheiten, voneinander, und sie halten es für die Aufgabe des Geistes, den aufsässigen und verachteten Körper zu kontrollieren.» Und kurz darauf: «In diesem Vorstellungsrahmen erscheint es als höchste Tugend, keinem körperlichen Begehren mehr nachzugeben.» Jedes Bedürfnis nach Nahrung wird also aufs Äußerste geleugnet. «Hunger ist nicht die einzige Forderung des Körpers (…) der Müdigkeit nicht nachzugeben, wird als gleich hoch eingeschätzt (…) Der Körper und seine Forderungen müssen jeden Tag, jede Stunde und jede Minute unterjocht werden.» In einem Pro-Anorexia-Blog schrieb neulich ein Gast: «Ich trainiere mein Gehirn dahingehend, Hunger als angenehmes, fast euphorisches Gefühl wahrzunehmen, und das hilft enorm!» Der Titel dieses Threads? «Mind over matter».
Seit Erscheinen des Buches Holy Anorexia von Rudolph M. Bell aus dem Jahr 1985 werden Stimmen wie die von Hilary Mantel laut, die sagen, dass religiöse Askese und Magersucht grundlegende Gemeinsamkeiten aufweisen. Dazu zählt auch die Abscheu gegenüber allem Fleischlichen und eine heldenhafte Rhetorik über den Kampf, bei dem das höhere Gut (der Geist) das niedrigere (den Körper) züchtigen muss.
Natürlich besteht zwischen «Sich nicht wohl in seiner Haut fühlen» und «Nur im Kopf leben wollen» kein eindeutiger Zusammenhang. Ursache und Wirkung sind unmöglich exakt voneinander zu trennen. Aber beide Phänomene verweisen auf ein wachsendes Unbehagen gegenüber dem eigenen Körper.
Wenn man mit etwas unzufrieden ist, versucht man in der Regel, etwas daran zu ändern, oder aber man wendet sich ab. Ist Ersteres der Fall, kann man versuchen, dem mit Hilfe von Photoshop herbeifantasierten Idealbild durch eine Schönheitsoperation oder Crash-Diät nachzueifern. Trifft Letzteres zu, beschließt man, dass nur der Geist dem wahren Ich entspricht und ignoriert den Körper überwiegend. In beiden Fällen lautet die Devise jedoch: Mind over matter.
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