Kitabı oku: «Im Schatten des Feldmarschalls: Geschichten aus dem Powder-Mage-Universum», sayfa 3
DAS MÄDCHEN VON HRUSCH AVENUE
Zehn Jahre vor den Ereignissen aus »Blutschwur«
Vlora hatte vor, ein Gewehr zu stehlen.
Die eine Sache, die Vlora wirklich glücklich machte, war es, auf den flachen Dächern der Büchsenmachereien in Adopest zu sitzen und dabei zuzusehen, wie die Büchsenmacher ihre Gewehre und Musketen in der Gasse hinter Hrusch Avenue testeten.
Wenn die Rauchwolke von dem Schwarzpulver zwischen den Gebäuden emporstieg und zu ihrem Aussichtsplatz herüberwehte, füllte der Geruch von Schwefel ihre Nasenlöcher, und sie fühlte sich konzentriert und voller Energie. Einmal hatte sie versucht, es Amory, der Schulleiterin ihres Internats, zu erklären, aber Amory hatte es als kindisches Hirngespinst abgetan.
Und obwohl sie nur zehn Jahre alt war, wollte Vlora so ein Gewehr haben.
Amory würde das selbstverständlich niemals zulassen. Sie ließ Vlora nie etwas haben.
Vlora wusste, dass es falsch war, zu stehlen, aber sie musste ein Gewehr haben. Sie musste es abfeuern und den Rückstoß des Gewehrkolbens an ihrer Schulter spüren und fühlen, wie das Schwarzpulver ihre Lungen füllte. Sie sehnte sich nach der Musik eines Schießpulverknalls in ihren Ohren.
Manchmal ließen die Büchsenmacher eine Muskete ein paar Momente lang unbeaufsichtigt, während sie in ihre Werkstatt gingen, um mehr Pulver oder Kugeln zu holen. Vlora wusste, dass sie nur auf den richtigen Moment warten musste, um eine zu stibitzen. Sie könnte in die Gasse laufen, sich eine Waffe schnappen und dann damit die Straße hinunter wegrennen, bevor irgendjemand sie erwischen konnte.
Musketen oder Gewehre waren zu groß, zu sperrig. Sie konnte sie nicht unter ihrem Rock verstecken, und auf der Straße würde sie sicherlich jemand aufhalten – vielleicht sogar einer der Bullenbeißer-Zwillinge. Und im Internat hatte Vlora kein Versteck, das groß genug wäre für eine Muskete. Wenn Amory die Muskete fände, würde Vlora tief im Schlamassel stecken.
Vlora würde eine Pistole stehlen müssen.
Sie schlich sich aus ihrem Versteck und überquerte das flache Dach über den Werkstätten, dann kletterte sie das alte, kupferne Abflussrohr hinunter in die darunterliegende Gasse. Sie ging zur Hauptstraße und schlenderte den steinernen Bürgersteig entlang, der vor den Läden und Werkstätten von Hrusch Avenue verlief.
Die Straße war voller Menschen, und das Stimmenwirrwarr der Menge wurde überlagert vom Klappern der Hufeisen auf den Pflastersteinen. Die Lehrlinge der Büchsenmacher saßen vor den Läden und präsentierten die Waren ihrer Meister: gravierte Jagdgewehre oder Duellpistolen für den Adel, einfache Musketen mit Eichenholzschaft für die Soldaten, Donnerbüchsen für die Bauern vom Land.
Vlora ließ ihre Augen über die Waffen wandern. Entlang des Bürgersteigs von Hrusch Avenue waren Dutzende von Modellen ausgestellt und warteten nur darauf, dass sie sich jemand schnappte. Es waren nur zu viele Leute unterwegs. Irgendjemand würde Alarm schlagen, und sie würde keine Zeit haben, in der Menge unterzutauchen, bevor sie …
Ihr Blick blieb an der Mündung der schmalen Gasse hängen, die hinter die Läden und Werkstätten von Hrusch Avenue führte. Zwei straßenköterblonde Jungs saßen auf leeren Pulverfässern neben der Gasse. Sie waren beide etwa vierzehn Jahre alt, hatten runde, fast identische Gesichter und Stupsnasen und beobachteten den vorbeiziehenden Trubel mit zusammengekniffenen Augen, die Verachtung vorspielen sollten.
Die Bullenbeißer-Zwillinge.
Hrusch Avenue gehörte den Bullenbeißer-Zwillingen. Oder zumindest wollten sie, dass das die ganzen Waisen und Gassenkinder glaubten. Niemand bettelte oder stahl auf der Hrusch Avenue ohne die Erlaubnis der Bullenbeißer-Zwillinge, und wenn sie einen alleine erwischten, prügelten sie einen windelweich.
In der Schule hatte Vlora ein paar Kinder flüstern hören, dass die Bullenbeißer-Zwillinge mal eine Waise getötet und die Leiche in die Kanalisation geworfen hatten.
Sie hielt an, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und tat so, als würde sie eine Pistole in dem Schaufenster betrachten. Sie hoffte, dass sie sie nicht bemerkt hatten.
»Hey!«, hörte sie eine vertraute Stimme rufen. »Die kleine Prinzessin!«
Einer der beiden Zwillinge – er nannte sich »Zünder« und war erkennbar an der Narbe über seinem Auge – sprang von seinem Fass und kam auf Vlora zu. Sein Bruder »Kugel« folgte ihm auf dem Fuß.
Vlora spürte, wie ihr Herz wie wild zu klopfen anfing. Bei so vielen Leuten auf der Straße würde ihr sicherlich jemand zu Hilfe kommen, wenn sie schrie …
Amory hatte immer gesagt, dass es dumm sei, sich auf die Hilfe anderer zu verlassen.
Vlora entschied, dass Amory vielleicht dieses eine Mal recht hatte. Sie rannte los, quer über die Straße. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Zünder ihr hinterherrannte.
Sie lief vor einer Kutsche vorbei und dann unter einem Fass hindurch, das von zwei Männern getragen wurde. Als sie die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatte, sprintete sie in freier Sicht der Zwillinge den Bürgersteig entlang und rannte dann wieder auf die Straße. Sie versteckte sich zwischen zwei Karren, die mit Kisten voller Musketen für die adronische Armee beladen waren, und wartete.
Es dauerte nicht lange, bis die Bullenbeißer-Zwillinge an ihrem Versteck vorbeigelaufen waren.
Sie wartete ein paar Sekunden, dann kam sie hervor und rannte die Straße in die andere Richtung hinunter. Sie würden früher oder später bemerken, dass Vlora sie ausgetrickst hatte, und wieder zurückkommen.
Vlora rannte vor ein Pferd, das im leichten Galopp in der Mitte der Straße entlanglief. Sie wollte das Pferd zwischen sich und den Bullenbeißer-Zwillingen haben, damit es ihnen die Sicht versperrte.
Das Pferd erschreckte sich und riss seinen Kopf von ihr weg, dann bäumte es sich mit lautem Gewieher auf. Vlora stürzte vor Schreck zu Boden, als die Hufe donnernd auf die Pflastersteine aufschlugen, und der Reiter bemühte sich nach Kräften, sein Tier unter Kontrolle zu behalten.
»Verdammte Pisse!«, fluchte der Mann und riss heftig an den Zügeln, um das Pferd zu einer Seite zu lenken. »Verfluchte Gossenratten.« Er lehnte sich im Sattel vor, und Vlora hatte nur einen Augenblick Zeit, um ihren Arm zu heben, bevor seine Reitgerte auf sie herabfuhr.
Das schmale Ende der Gerte schnitt ihr den Arm der Länge nach auf, und sie stieß einen Schrei aus. Der Mann hob seinen Arm, um noch mal zuzuschlagen, aber sein Pferd buckelte und zwang ihn, sich mit beiden Händen festzuhalten, um nicht abgeworfen zu werden.
Vlora sprang auf und rannte mit tränenüberströmtem Gesicht davon, um in der Menge unterzutauchen. Ihr Arm war schon bald blutrot, und ein stechender Schmerz zog sich von ihrer Handfläche bis zum Ellenbogen.
Am Ende der Straße hielt sie inne und schaute zurück. Sie trocknete ihre Tränen lange genug, um nach dem Mann Ausschau zu halten, der sie geschlagen hatte. Er befand sich immer noch in der Mitte der Hauptstraße und fluchte lautstark, während er versuchte, sein Pferd wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er trug eine feine Reitjacke und hatte ein flaches, breites Gesicht, das von Pockennarben übersät war. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um sich das Gesicht einzuprägen.
Vlora ließ Hrusch Avenue und den Geruch von Schwarzpulver und verrauchten Werkstätten hinter sich; sie überquerte die Brücke über den Fluss Addown und betrat die Altstadt, wo sich hohe Häuser mit ihren verwahrlosten Backsteinfassaden um die engen Straßen scharten. In einem dieser Häuser lebte Vlora mit einem Dutzend anderer Mädchen und der Schulleiterin Amory.
Amory wurde fuchsteufelswild, als sie das Blut auf Vloras Schuluniform sah. Sie säuberte und vernähte die Wunde, dann schlug sie Vlora mit einem Stock, den sie über dem Kamin aufbewahrte, und schickte sie ohne Abendessen ins Bett.
Als Vlora einschlief, dachte sie an die Pistole, die sie stehlen wollte, und überlegte, dass sie sie vielleicht an Amory ausprobieren sollte – obwohl sie wusste, dass sie das niemals tun würde.
Am nächsten Morgen wurde Vlora vom Geräusch ihres knurrenden Magens geweckt. Sie wartete darauf, dass die Kirchenglocke sieben Uhr schlug, denn sie wusste, dass sie sich eine weitere Tracht Prügel einhandeln würde, wenn sie Amory zu früh störte.
Vlora hatte sich gerade angezogen, als sie hörte, wie jemand mit Nachdruck an die Eingangstür des Internats klopfte.
Sie öffnete die Tür des Schlafsaals einen Spalt und gab dabei Acht, keines der anderen Mädchen im Zimmer zu wecken.
»Kommen Sie herein, Sir«, antwortete Amory auf die warme Baritonstimme eines Mannes.
Wer stattete ihnen zu so früher Stunde einen Besuch ab? Das Internat öffnete seine Türen nur selten vor elf Uhr. Vlora schlich sich den Flur entlang und achtete darauf, die knarrenden Dielen zu vermeiden, bis sie den Treppenabsatz erreichte, von dem aus sie in den Aufenthaltsraum im Erdgeschoss blicken konnte.
Amory saß mit dem Rücken zu Vlora. Ihr gegenüber saß ein älterer Gentleman mit dunklem Haar, strengen Zügen und kalten, dunklen Augen. Er trug eine schwarze Jacke mit Schößen, eine perfekt gebügelte Hose und ein weißes Hemd mit umgeschlagenem Kragen. In einer Hand hielt er einen Zylinder, und ein Gehstock lag auf seinem Schoß.
Vielleicht ein Verehrer? Früher kamen beinahe jede Woche Männer vorbei, um Amory zu sehen. In letzter Zeit empfing sie jedoch nur ein oder zwei Männer im Monat, und immer sagte sie ihnen, dass ihre Verpflichtungen gegenüber den Mädchen es ihr unmöglich machten, zu heiraten.
Vlora hatte verpasst, wie der Mann sich vorgestellt hatte, aber sie hörte, was er als Nächstes sagte: »Ich bin hier, um mich nach einem Mädchen zu erkundigen.«
»Nach einem Mädchen?«, wiederholte Amory etwas verwirrt.
»Ja. Sie ist etwa so groß«, er hielt seine Hand in die Luft, »zehn Jahre alt, dunkles Haar. Ein Freund von mir hat mich darüber informiert, dass sie sich in Ihrer Obhut befindet.«
Vlora spürte, wie ihr Herz kurz aussetzte. Keines der anderen Mädchen in ihrem Alter hatte dunkles Haar. Er konnte nur sie meinen.
»Sie meinen doch nicht etwa Vlora?«
»Ja, das war ihr Name.«
Vlora versuchte sich daran zu erinnern, irgendwelchen Fremden ihren Namen genannt zu haben, und ihr fiel ein, dass da ein Mann mit dunkler Haut und einem gutmütigen Lächeln gewesen war, der auf der Straße vor dem Internat mit ihr gesprochen hatte. Er hatte nach ihrem Namen gefragt und wo sie wohnte. Aber das war Monate her. Gab es eine Verbindung zwischen dem Mann von damals und dem Gentleman mit den kalten Augen?
Amory winkte ab, als sei Vlora nicht weiter von Bedeutung. »Sie ist mein Mündel, Sir. Eigentlich ein Mündel des Staates. Ihr Vater war ein Na-Baron aus dem Norden Adros. Ihre Mutter starb bei der Geburt, und ihr Vater starb verarmt Anfang dieses Jahres. Niemand aus ihrer Familie wollte sie aufnehmen, und dem Königshaus war es zuwider, ein Kind mit adligem Blut ins Waisenhaus zu schicken. Mir wird eine kleine monatliche Pension dafür ausgezahlt, dass ich mich um ihre Ausbildung und Erziehung kümmere.«
Vlora wusste, dass Amory dabei ein selbstmitleidiges Lächeln im Gesicht trug. Das war immer so, wenn sie über Vlora sprach.
»Es gibt niemanden, der sie aufnehmen würde?«, fragte der Gentleman mit den kalten Augen. »Wirklich niemanden?«
»Leider nein«, sagte Amory. »Nun, sie hat mich, aber sie ist ein undankbares Kind, und deshalb … «
»Ich möchte sie kaufen.«
»Wie bitte?«
»Ich kann sehen, dass Sie das Mädchen sehr lieben, aber ich bin mir sicher, dass Sie sich von ihr trennen würden – für eine angemessene Summe.« Der Mann zog ein Scheckbuch aus seiner Brusttasche und schlug es auf.
Vlora schlich auf Zehenspitzen zurück zu ihrem Schlafsaal. Sie hatte genug gehört. Der Mann wollte sie kaufen, und sie wusste, was das bedeutete. Die Äbtissin der Kresim-Abtei, wo ihre Mutter beerdigt worden war, hatte ihr eingebläut, sich von alten Männern und ihren Perversionen fernzuhalten.
Sie sammelte ihre wenigen Spielsachen zusammen – ein Holzpferd, ein Bilderbuch, das ihrer Großmutter gehört hatte, und einen Ball aus fatrastanischem Gummi – und wickelte sie zusammen mit einigen Kleidungsstücken in ihr Bettlaken ein. Sie brauchte ein paar Momente, um das Fenster des Schlafsaals zu öffnen, ohne dabei Lärm zu machen. Die ganze Zeit über konnte sie die gedämpften Stimmen der Erwachsenen durch die Wand hören.
Eines der anderen Mädchen hob den Kopf vom Kissen und fragte, wo Vlora hinginge. Vlora bedeutete ihr, still zu sein. Sie schlüpfte mit dem zusammengeknoteten Laken über der Schulter durch das Fenster des Schlafsaals und kletterte hinunter zur Straße.
Vloras Mutter lag auf dem Friedhof am Talien-Platz begraben. Der Friedhof gehörte zu einer Abtei, die im Viertel auf der anderen Seite des Flusses lag, direkt nördlich von Hrusch Avenue. Es war nicht das erste Mal, dass Vlora aus dem Internat weglief, seit ihr Vater gestorben war. Die Priesterinnen in der Abtei waren immer sehr nett, sie stellten ihr ein Feldbett zum Schlafen bereit und brachten ihr warmes Brot am Morgen. Als Vlora der Äbtissin von der Unterhaltung zwischen Amory und dem Gentleman mit den kalten Augen berichtete, wurde ihr gesagt, dass sie so lange bleiben konnte wie nötig.
Die Äbtissin hatte Amory noch nie besonders gemocht.
Vlora fing an, ihre Morgen mit der Äbtissin zu verbringen und mit ihr die Kresim-Evangelien zu studieren. Die Nachmittage verbrachte sie auf den Dächern der Büchsenmachereien von Hrusch Avenue und schaute den Büchsenmachern dabei zu, wie sie ihre Musketen testeten.
Es war keine Woche her, dass sie von Amory weggelaufen war. Sie war an ihrem üblichen Platz, von wo aus sie Ausschau hielt nach einer Gelegenheit, eine Pistole zu stehlen, als sie sah, wie die Bullenbeißer-Zwillinge Hrusch Avenue entlangschlichen.
Sie sah sofort, wer ihr Ziel war. Der Junge sah aus, als sei er zehn oder elf Jahre alt. Er hatte schwarze Haare und ein ernstes Gesicht, und er ging alleine mit zwei Büchern unter dem Arm den Bürgersteig vor den Büchsenmachereien entlang. Er trug eine Schuluniform mit einer kurzen Hose, die bis zu den Knien reichte, und langen Socken, die fast bis zur Hose gingen.
Er kam ihr bekannt vor, und Vlora meinte, ihn bereits ein- oder zweimal auf Hrusch Avenue gesehen zu haben.
Sie rief ihm eine Warnung zu, die aber im Lärm der Stadt unterging. Der Junge wirkte tief in seine Gedanken versunken.
Die Bullenbeißer-Zwillinge näherten sich ihm von hinten. Beide wogen mindestens zehn Kilo mehr als der Junge und überragten ihn um einige Zentimeter. Zünder kam von rechts, schlug dem Jungen die Bücher aus der Hand und verpasste ihm dann eine Ohrfeige. Kugel lachte, nahm die Bücher und warf sie auf die Straße.
Der Junge wirbelte mit einem entsetzten Gesichtsausdruck herum.
Vlora kannte diesen Blick, sie hatte ihn schon bei unzähligen unfairen Prügeleien gesehen. Sie ahnte, was als Nächstes passieren würde: Er würde das Gesicht verziehen und anfangen, zu weinen, und die Zwillinge würden ihn zu Boden schubsen und so lange treten, bis sie das Interesse verloren hatten.
Aber der Junge holte aus und schlug Zünder mit der Faust auf die Nase.
Zünder taumelte überrascht nach hinten und hielt sich das Gesicht. Der Junge wich nicht zurück; er hatte die Hände an seinen Seiten und fletschte wütend die Zähne. Kugel sprang auf ihn zu, packte ihn an der Hüfte und warf ihn zu Boden. Der Junge trat und schlug um sich, aber er hatte keine Chance.
Vlora konnte es nicht glauben. Jemand bot den Bullenbeißer-Zwillingen die Stirn. Und zwar kein Erwachsener, sondern jemand in ihrem Alter! Sie rutschte das Abflussrohr hinunter und hielt nur kurz inne, um einen gesplitterten Musketenschaft aufzuheben, der in den Dreck geworfen worden war.
Zünder schaute zu, wie sein Bruder mit dem kleineren Jungen rang, und stachelte sie beide an. Er drehte sich gerade noch rechtzeitig zu Vlora um, dass sie ihm den alten Musketenschaft zwischen die Augen rammen konnte. Er sackte auf dem Bürgersteig zusammen.
Vlora trat Kugel mit dem Fuß in die Rippen. Sie brauchte zwei weitere Tritte, um den zweiten Zwilling von dem Jungen runter zu bekommen. Vlora packte den Jungen an der Hand und zog ihn auf die Füße.
»Meine Bücher!« Der Junge riss sich von ihr los und rannte auf die Straße. Er wich dem Verkehr aus, um seine Bücher aus dem Dreck aufzulesen. Als er zurückkam, rappelte sich Kugel gerade wieder vom Boden auf.
»Komm mit«, sagte Vlora.
Sie verließen Hrusch Avenue und tauchten in den unzähligen Nebenstraßen von High Talien unter, bevor Vlora sich wieder sicher fühlte.
»Warum haben die mich angegriffen?«, fragte der Junge, als sie vor einer Bäckerei anhielten, um Luft zu schnappen.
Vlora klopfte sich etwas Dreck vom Saum ihres Kleides. »Weil du kleiner bist. Weißt du etwa nicht, wer die Bullenbeißer-Zwillinge sind?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Wie heißt du?«, fragte Vlora.
»Taniel.«
»Ich bin Vlora.«
Er war ein bisschen größer als Vlora; er hatte ein schmales Gesicht und kurz geschorenes Haar, wie ein Soldat. Sie bemerkte, dass seine Knöchel verschrammt waren und er ein blaues Auge hatte, das schon lange vor der Prügelei mit den Bullenbeißer-Zwillingen da gewesen sein musste.
Das war nicht seine erste Rauferei.
Der Junge wischte sich seine blutige Nase ab, und Vlora merkte sofort, dass die Aufregung für ihn anscheinend verflogen war. Seine Augen wirkten gelassen, und abgesehen davon, dass er etwas außer Puste war, war sein Atem ruhig. Er warf einen Blick zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, so als würde er darüber nachdenken, für eine zweite Runde zurückzugehen.
»Die Bullenbeißer-Zwillinge haben auf Hrusch Avenue das Sagen«, erklärte Vlora. »Sie legen sich mit jedem an, der kleiner ist als sie. Außer mit den Lehrlingen der Büchsenmacher. Dafür sind selbst die zu klug.«
Taniel schnaubte. »Niemand hat auf Hrusch Avenue das Sagen«, sagte er. »Nicht mal die Armee. Das sagt mein Papa.«
»Na ja, dein Papa ist wahrscheinlich viel größer als die Bullenbeißer-Zwillinge.«
»Er würde sie windelweich prügeln, auch wenn sie erwachsen wären.« Taniel reckte sein Kinn in die Luft. »Mein Papa gewinnt alle seine Kämpfe.«
Vlora schmunzelte. Er war nicht der Erste, der das behauptete.
Taniel behielt sein Kinn oben, und seine Augen forderten sie auf, sein Wort infrage zu stellen. Er schaute sie einen Moment lang an, dann blickte er hinunter zu seinen Büchern. Sie waren voller Dreck, und der Einband des einen Buches war eingerissen. Er blätterte sie traurig durch, und Vlora erhaschte einen Blick auf gelöste Arithmetik-Aufgaben und Kohlezeichnungen von Bäumen und Tieren.
»Tut mir leid, dass sie deine Bücher kaputt gemacht haben«, sagte Vlora.
»Ist nicht das erste Mal, dass sie jemand in den Dreck geworfen hat.« Taniel klang deprimiert. »Ich werde sie morgen vor dem Unterricht sauber machen müssen.« Plötzlich besserte sich seine Laune. »Mein Papa hat mir Geld fürs Abendessen gegeben. Er …« Taniel hielt kurz inne, um die Augen zu verdrehen. »Er hat eine Besprechung mit meiner neuesten Erzieherin. Möchtest du dir ein Hörnchen mit mir teilen?«
»Gerne«, sagte Vlora.
Drei Tage später kam Taniel wieder, begleitet von einem anderen Jungen. Der andere Junge hatte langes, rotbraunes Haar und war ein wenig größer und hatte etwas breitere Schultern als Taniel. Aus ihrem Versteck über Hrusch Avenue sah Vlora sie kommen und kletterte hinunter, um sie zu treffen.
»Das ist mein Bruder, Borbador«, stellte Taniel den anderen Jungen vor. »Du kannst ihn Bo nennen. Er ist ein guter Kämpfer. Er wird uns helfen, falls die Bullenbeißer-Zwillinge auftauchen.«
Bo streckte ihr eine Hand entgegen, und Vlora schüttelte sie. Es kam ihr sehr erwachsen vor.
Plötzlich erhellte ein Lächeln Taniels dunkle Miene. »Mein Papa hat mir beigebracht, wie man kämpft. Er sagt, man soll nie einen Kampf anfangen, von dem man weiß, dass man ihn nicht gewinnen kann.«
»Tust du aber trotzdem«, sagte Bo.
Taniel schniefte und warf Bo einen Blick zu. »Bo ist nicht wirklich mein Bruder. Er ist mein bester Freund, aber er wohnt bei uns. Bo war im Waisenhaus. Er ist ein Straßenkind wie du, obwohl er jetzt nicht mehr auf der Straße lebt.«
»Oh.« Vlora spürte, wie ihre Wangen rot wurden. »Ich bin kein Straßenmädchen.«
»Bist du nicht?«
»Meine Eltern waren …« Sie hielt inne und erinnerte sich daran, wie die anderen Kinder sie immer »kleine Prinzessin« nannten, wenn sie ihnen erzählte, dass ihre Eltern adlig gewesen waren. »Meine Eltern sind tot. Ich wohne in einem Mädcheninternat, aber ich bin weggelaufen.«
Taniel nickte ernst. »Erzieherinnen und Lehrer sind alle gleich«, sagte er. »Ich mag keine Erzieherinnen. Alle paar Wochen haben wir eine neue.« Er und Bo warfen sich einen unergründlichen Blick zu. »Warum bist du weggelaufen?«
Vlora wollte es gerade erklären, als sie über Taniels Schulter hinweg jemanden entdeckte. »Schnell«, sagte sie, »hier hinein.«
Sie schlüpften in die nächste Gasse, und Taniel warf einen vorsichtigen Blick auf die Straße. »Sind es die Bullenbeißer-Zwillinge?«
»Nein«, sagte Vlora. »Ein Adliger.« Sie streckte ihren Arm so aus, dass Taniel den langen Schnitt sehen konnte, der entlang ihres Armes verlief. Sie hatte immer noch Schmerzen, wenn sie ihren Arm bewegte, und es fing gerade erst an, zu verheilen. »Er hat mir das angetan, als ich sein Pferd erschreckt habe.« Der bloße Gedanke daran machte sie wütend.
»Wer davon?«, fragte Bo.
Vlora zeigte auf einen Mann, der in der Mitte der Hauptstraße ritt. Sein pockenvernarbtes Gesicht würde sie so leicht nicht vergessen.
Er ritt auf einem anderen Pferd als letztes Mal und trug eine weiße Uniform mit goldenen Epauletten. An seiner Hüfte hing ein Schwert. Er hatte breite Schultern, und sein blondes Haar steckte unter einem gold-weißen Zweispitz.
»Das ist Baron Fendamere«, sagte Taniel.
»Du kennst ihn?«
»Ich habe ihn schon mal gesehen. Mein Papa kennt ihn.«
»Ist dein Papa ein Adliger?« Vlora musterte Taniel. Er wirkte nicht wie der Sohn eines Adligen. Die Söhne von Adligen stromerten nicht alleine durch die Stadt.
»Nein, er ist ein Pulvermagier. Er mag keine Adligen.«
Vlora wusste nicht, was ein Pulvermagier war. Bevor sie nachfragen konnte, fuhr Taniel fort.
»Papa sagt, unter den Adligen von Adro gibt es niemanden, der grausamer ist als Baron Fendamere. Siehst du das Schwert an seiner Hüfte? Papa sagt, dass er ein not… not…«
»Notorischer«, murmelte Bo ihm zu.
»… ein notorischer Duellant ist. Er kämpft gegen jeden, wenn er kann. Papa sagt, dass der Baron bei einem Feldzug in Gurla Frauen und Kinder zum Spaß getötet hat.«
Vlora bemerkte einen dampfenden Haufen Pferdemist auf den Pflastersteinen in der Nähe.
»Wollen wir ihn mit Kacke bewerfen?«
Die Jungs sagten Ja; sie hoben jeder eine Handvoll Mist auf und folgten Fendamere, der im langsamen Galopp die Straße entlangritt.
Vlora duckte sich hinter zwei Fässer und drehte sich zu ihren Komplizen. »Bereit?«, fragte sie.
Die beiden Jungs nickten; sie kamen aus ihrer Deckung hervor, und jeder von ihnen zielte und warf seinen Haufen. Bo warf daneben, während Taniel die weiße Uniformjacke des Barons traf und Vloras Haufen mit einem Schmatzen gegen den Nacken des Barons klatschte.
Der Baron wirbelte mit einem Brüllen auf den Lippen herum, aber Taniel rannte schon über die Straße. Vlora folgte ihm auf den Fersen, und Bo lief ihnen hinterher.
»Könnt ihr klettern?«, fragte Vlora außer Atem. Ohne eine Antwort abzuwarten, bog sie in eine Gasse ab. »Hier entlang!«
Sie kletterte ihr Abflussrohr hinauf zu dem Dach über Hrusch Avenue. Taniel und Bo folgten ihr.
Sie versteckten sich eine Weile und schauten zu, wie der Baron unter ihnen auf der Straße wütete. Er trat Pulverfässer und Verkaufsstände um und verfluchte diese verdammten Gossenratten. Er suchte überall nach ihnen und holte sogar einige Lehrlinge dazu, bevor er endlich aufgab und sich davonmachte.
Bo verzog sich kurz darauf, er murmelte irgendwas von einem älteren Mädchen, mit dem er sich treffen wollte.
Nachdem Bo gegangen war, führte Vlora Taniel zu ihrem Versteck über der Gasse, wo die Büchsenmacher ihre Musketen testeten. Die Gasse war leer, aber der Geruch von Schießpulver hing noch in der Luft und verschaffte Vlora ein glückliches Gefühl.
Sie warfen Stücke von kaputten Tonziegeln vom Dach und hörten zu, wie sie in der Gasse unter ihnen zersplitterten.
Vlora erinnerte sich daran, was Taniel vorhin über seinen Vater gesagt hatte. »Was ist ein Pulvermagier?«, fragte sie.
»Das weißt du nicht?« Taniel holte aus und warf ein Ziegelstück über die Gasse hinweg; es landete auf dem abgeschrägten Dach des Gebäudes gegenüber und rollte hinunter, bis es in einer Regenrinne stecken blieb.
»Natürlich weiß ich, was das ist«, sagte sie. »Ich habe nur einen Witz gemacht.«
»Oh.«
Sie wartete ein paar Momente, dann fühlte sie sich schuldig, dass sie gelogen hatte. »Nein, eigentlich weiß ich das nicht. Ich wollte nur nicht, dass du mich für dumm hältst.«
»Nun«, sagte Taniel. »Jeder sollte wissen, was ein Pulvermagier ist.«
Vlora schaute hinunter auf ihre Hände. Er musste sie wirklich für dumm halten.
»Also, deswegen erzähle ich es dir jetzt, meine ich«, fuhr Taniel fort. »Ein Pulvermagier ist jemand, der Schießpulver mit der Kraft seiner Gedanken beeinflussen kann«, sagte Taniel. »Er kann es einatmen und schmecken, und es macht ihn stärker und schneller als normale Menschen. Ein Pulvermagier kann eine Kugel über große Distanzen schießen, sogar über mehrere Meilen!« Taniel lehnte sich vor und flüsterte verschwörerisch. »Pulvermagier können sogar Privilegierten-Magier töten.«
Bis zu diesem Punkt hatte Vlora die Geschichte genossen. Sie drehte sich weg und verschränkte die Arme.
»Was ist?«, fragte Taniel.
»Du hältst mich doch für dumm.«
»Tu ich nicht.«
»Tust du. Niemand kann Privilegierten-Magier töten.«
»Doch, Pulvermagier. Haben sie auch schon.«
»Das ist nicht wahr.«
»Ist es doch! Ich schwöre es.«
»Woher willst du das wissen?«
»Mein Vater ist einer, und er hat schon Privilegierte getötet. Und eines Tages werde ich auch ein Pulvermagier sein.«
Vlora glaubte es immer noch nicht. Privilegierte waren die mächtigsten Leute in den Neun. Sie konnten mit einem Fingerschnipsen ganze Städte dem Erdboden gleichmachen. Wer sollte einen von ihnen töten können? Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, jemanden so Mächtiges wie einen Privilegierten zu töten, als ihr plötzlich ein Geistesblitz kam.
Sie lehnte sich dicht an Taniel heran. »Kann eine Frau ein Pulvermagier sein?«, fragte sie flüsternd.
»Aber klar. Meine Mama war auch eine Pulvermagierin. Als sie noch … am Leben war.«
Vlora versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. Sie rückte näher an die Dachkante heran, sodass ihre Füße hinunterbaumelten. »Wenn ich groß bin, werde ich eine Pulvermagierin.«
»Das kannst du nicht«, sagte Taniel.
»Wieso nicht? Du hast doch gesagt, Frauen können auch Pulvermagier sein.«
»Manche Frauen. Nur Leute mit dem richtigen Talent können welche werden. Papa sagt, dass das sehr selten ist.«
Vlora schniefte. »Ich will eine Pulvermagierin werden.«
»Tut mir leid.«
Sie saßen eine Zeit lang still da, bis Taniel sich aufrappelte. »Ich sollte nach Hause gehen. Ich habe morgen Schule.«
»Danke, dass du mit mir den Baron mit Kacke beworfen hast«, sagte Vlora.
Taniel lächelte sie an. »Lass uns das bald wieder tun.«
In der nächsten Woche fand Amory Vlora.
Vlora war in Bakerstown. Sie hatte eine Zwanzig-Krana-Münze auf der Straße gefunden und hatte vor, eine Pastete zu kaufen, die sie sich mit Taniel und Bo teilen wollte. Sie hatte die Münze in der Hand und ihr Gesicht gegen das Schaufenster der Bäckerei gepresst, damit sie sich die ganzen Köstlichkeiten genau anschauen konnte.
Jemand packte sie am Ohr und zog sie nach hinten.
Vlora spürte, wie sie ein Gefühl der Angst durchströmte. Hatten die Bullenbeißer-Zwillinge sie gefunden? Oder vielleicht der grausame Baron?
Sie wurde herumgedreht und starrte in die Augen der Schulleiterin.
Ihr hellbraunes Haar, das normalerweise geglättet und mit einer Schleife nach hinten gebunden war, war offen und wehte im Wind. Ihre zusammengekniffenen Augen starrten Vlora an, ihre Wangen waren rot, und ihre Mundwinkel zeigten steil nach unten.
»Du dummes Mädchen«, bellte Amory sie an.
Vlora hatte sie noch nie so wütend gesehen.
Amory hielt sie immer noch am Ohr. Sie schüttelte sie fest.
»Das tut weh«, beschwerte sich Vlora.
»Soll es auch«, sagte Amory. »Und das ist erst der Anfang. Diese Woche wirst du jeden Abend eine Tracht Prügel kriegen. Erinnerst du dich an das letzte Mal, als du weggelaufen bist? Ich habe dir gesagt, dass ich dich einen Monat in den Keller sperren werde, und das meinte ich auch so.«
Vlora versuchte, sich loszuwinden, aber Amory hielt sie weiter am Ohr fest. »Sie haben nicht vor, mich einzusperren. Sie wollen mich verkaufen.«
»Dich verkaufen?«, fragte Amory. »Warte, was ist das hier?« Sie griff sich Vloras Hand und zwang sie auf, sodass die Zwanzig-Krana-Münze zum Vorschein kam.
»Das ist meine!«
»Jetzt nicht mehr«, sagte Amory und steckte die Münze in die Tasche. »Die hast du wahrscheinlich gestohlen, du kleine Göre. Die behalte ich jetzt für den ganzen Ärger, den du mir beschert hast. Jetzt komm mit, und zwar ohne einen Aufstand zu machen.«
»Nein.«
»Nein? Du willst wohl, dass ich dir auf offener Straße den Hintern versohle! Versuch gar nicht erst, wegzulaufen«, sagte sie, als Vlora sich losreißen wollte. »Ich weiß, dass du in der Abtei am Talien-Platz übernachtest. Es gibt keinen Ort, an dem du dich verstecken kannst.«
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