Kitabı oku: «Am Ende siegt die Wahrheit», sayfa 3
EIN DONNERWETTER
Aufgebrachte Stimmen rissen Maria aus ihrem Traum. Es dauerte eine Weile, bis sie realisierte, dass sie sich in ihrem Zimmer und nicht tanzend im Dorfsaal befand. Sie setzte sich auf, drehte das Licht der Petroleumlampe höher. Regen prasselte gegen die Fensterscheibe. Wie passend, zu ihrer betrübten Stimmung. Sie schielte zu dem Gefäß am Holzboden, in den es im schneller werdenden Rhythmus hineintropfte. Bevor das Wasser überquoll und durch die Holzritzen des Bodens hinuntersickern konnte, musste sie den Topf austauschen.
»Schon wieder Streit!«, murmelte Maria. Auch wenn sie die genauen Wortlaute nicht verstand, erkannte sie ihre Eltern und Andreas. Seit dem Auftauchen von Onkel Alfons schien die Atmosphäre regelrecht vergiftet. Sie fröstelte, dachte an die ungerechte Behandlung des Vaters. Sie zuckte zusammen, als einen Stock tiefer eine Tür knallte.
Maria sprang Bruchteile später aus dem Bett, zog einen Rock und einen Pullover über das Nachthemd. Barfüßig trat sie an das Türblatt, lauschte. Sie hörte jemanden nach oben kommen. Andreas! Sie erkannte ihn an seinen vertrauten polternden Schritten.
»Verdammte Arschlöcher!«, fluchte er im Stiegenhaus und kurze Zeit später fiel dessen Zimmertür krachend ins Schloss.
Maria wich Richtung Fenster ab. Ein gleißender Blitz zuckte am finsteren Horizont entlang, gefolgt von einem Donner, der sie aufhorchen ließ. Schimpft sogar der Herrgott mit uns? Der gesamte Tag war erfüllt von schwülwarmer Luft gewesen, ein Vorbote dieses Gewitters. So spät in der Nacht, fand sie das Tosen und Rauschen besonders unheimlich. Sie klammerte sich an den Vorhang.
Der folgende Blitz erhellte den Hof, zeigte dicke Tropfen, die auf den Knecht Georg herab prasselten. Klatschnass humpelte er über den Platz zwischen Haus und dem Stallgebäude, um zu seiner Unterkunft zu gelangen. Bestimmt kam er geradewegs vom Dorfwirt, hatte dort reichlich Alkohol konsumiert! Georg erzählte ihnen stets, er könnte bloß damit die körperlichen Schmerzen lindern! Dabei tat ihm das Saufen gar nicht gut! Litt zu seinem Handicap am schmerzhaften Gliederreißen, was jedes Glas Hochprozentiges eher verschlimmerte als verbesserte. Aber da hatte er kein Einsehen!
Maria bemerkte, wie Georg gegen die Steinmauer des Stalls torkelte. Er schüttelte sich, schlurfte mit schweren Schritten weiter, bis sie ihn vom Fenster aus nicht mehr sehen konnte.
Ob Georg eher den inneren Schmerz meinte? Den Tod seiner Schwester Anna hatte er nie verwunden. So schrecklich und banal zugleich! Ein eingetretener Dorn in der Ferse war ihr zum Verhängnis geworden. Sie hatte die Gefahr unterschätzt, schwieg über ihre Verletzung, zeigte ihre Wunde erst, als es bereits zu spät war. Die Behandlung schlug nicht mehr an. Ein Wundstarrkrampf raffte sie dahin. Maria erinnerte sich an Annas verkrampften überstreckten Körper. Um die Magd besser umsorgen zu können, wurde sie bei ihnen in der Stube untergebracht. Jeder Laut hatte Qualen in ihr verursacht. Dazu das verzerrte Gesicht, wie zu einem grausigen dämonischen Lächeln, das der Krankheit geschuldet war. Ihre Augen brachten am Schluss nur mehr ein Blinzeln zustande. Anna litt furchtbar. Bis Georg heimlich in die Stube geschlichen war.
Maria zitterte, spürte die ausgekühlten Zehen auf den Holzdielen. »Dabei wollte ich bloß auf die Toilette gehen. Das Murmeln aus der Stube ließ mich innehalten und durch das Schlüsselloch spähen. Da sah ich, wie Georg schluchzend nach dem Kissen griff, um es in Annas Gesicht zu drücken.« Er hatte es nicht aus Wut oder Zorn getan, sondern erlöste sie vor der unmenschlichen Qual. Nie würde sie diesen Anblick vergessen! Wieso vermochten die Ärzte nicht, Anna bei der Krankheit zu helfen?
Ein Blitz fuhr in der Nähe ein, fast zeitgleich donnerte es. Die Gewitterfront lag über ihnen. In Marias Ohren rauschten Georgs damaligen verzweifelten Klagen. Seitdem betäubte er sich mit Alkohol, bis er nicht mehr der deutschen Sprache mächtig war. Es verwunderte sie, dass er dennoch Nacht für Nacht nach Hause fand, in die Baracke neben dem Stall, in der sein Schlafplatz lag.
Ob die Eltern von der Sterbehilfe wussten? Von ihr hatte es nie jemand erfahren! Ich hätte an seiner Stelle vermutlich ebenso gehandelt!, dachte Maria nicht zum ersten Mal. Für Anna gab es keine Rettung. Trotzdem war mit diesem Tag etwas in Georg zerbrochen, was nie mehr heilen würde. Andreas hatte recht. Es war eine schreckliche Zeit, in der sie seit Jahren lebten!
Plötzlich fasste jemand an ihre Schulter. Marias Herz schien einen Schlag auszusetzen. Ein leiser Schrei entwich aus ihrer Kehle. Ehe sie sich umdrehte, vernahm sie Andreas’ amüsiertes Lachen im Ohr. Sie hatte ihn nicht kommen hören.
»Keine Sorge, ich bin’s. Ich weiß doch, welche Angst du vor Gewittern hast.«
Maria atmete erleichtert auf. »Ich dachte schon, es wäre Vater.«
»Sie sind so seltsam, nicht erst seit heute.« Andreas rieb sich nachdenklich die rechte Wange.
»Hat er dich auch geschlagen?«
»Ja.« Er schluckte. »Dich ebenso?«
Maria nickte. Sie nahm auf ihrem Bett Platz, steckte die klammen Füße unter die Bettdecke. Erneut fuhr ein Blitz über den Himmel, erhellte für kurze Zeit die Nacht und das Schlafgemach, gefolgt mit einem tiefen Donnern, der in ihrer Brust nachhallte.
Andreas legte fürsorglich einen Arm um die zitternde Schwester. »Ich weiß zwar, dass sie von Markus nicht begeistert sind. Aber so übertrieben haben sie noch nie. Und ich verstehe es nicht. Vor dem Krieg war das nachbarschaftliche Verhältnis in Ordnung. Was ist passiert?«
»Hast du jemals mit Markus darüber gesprochen, was der Grund sein könnte?«
»Er weiß es nicht. Und er legt ohnehin keinen Wert auf andere Meinungen. Der Krieg hat ihn etwas eigenbrötlerisch gemacht. Dennoch bin ich froh, ihn zu meinem Freund zu haben. Manchmal ist es, als wäre er mein großer Bruder. Jakob war auch immer ruhig und besonnen, findest du nicht?«
»Ich kann das nicht beurteilen, dafür kenne ich Markus nicht gut genug!« Maria rückte ein Stück ab.
»Was ist los mit dir? Hab ich etwas Falsches gesagt?«
Schuldbewusst nagte Maria an ihrer Unterlippe, sie vermisste die geschwisterliche Geborgenheit. »Verzeih, aus mir spricht meine dumme Eifersucht. Ich fühl mich ausgeschlossen, und bin neidisch auf deine Freiheiten, die mir als Mädchen verwehrt bleiben. Vielleicht hab ich auch ein Stück weit Sorge, dass ich dir weniger wichtig bin. Obwohl, das stimmt nicht. Jetzt bist du hier, wegen mir und meiner absurden Ängste.«
Andreas schwieg ein paar Momente. »So schlimm? Ja sicher, was frage ich so blöd.« Sein Blick wirkte sanft. »Was ist mit Dorli? Gehst du nicht manchmal zu ihr?«
»Die hat nur mehr Augen für ihren Briten, James heißt er«, presste Maria hervor. »Seit Vater davon weiß, hat er mir verboten, sie zu besuchen. Aber es wäre ganz gleich, auch wenn er es erlauben würde, ich will in eine junge Liebe nicht hineinplatzen.«
»Falls du möchtest, nehme ich dich das nächste Mal zu Markus mit. Er hätte nichts dagegen. Er mag dich.«
Maria schüttelte abwehrend den Kopf. »Er ist dein Freund. Ich wäre nur das fünfte Rad am Wagen. Das will ich nicht. Besser ist es, ich schnappe mir Pfarrer Ludwigs Bücher, um sie zu studieren, dann komme ich nicht auf so dumme Gedanken.«
»Lehn nicht gleich ab. Glaub mir, Markus kann sehr nett sein. Aber was mach ich da?« Andreas grinste. »So wie ich ihn anpreise, könnte man glatt meinen, ich möchte dich mit ihm verbandeln.«
Maria stob mit klopfendem Herzen auf.
»Lass dir gesagt sein, Schwesterlein. Von allen Männern, die ich im Umkreis kenne, würde ich ihn am liebsten an deiner Seite wissen. Erzähl das bloß niemals Vater und Mutter, sonst bin ich enterbt.«
»Für eine Verbindung bedarf es eines Einverständnisses auf beiden Seiten«, meinte sie ausweichend. »Manchmal frage ich mich, ob unsere Eltern aus Liebe geheiratet haben.«
»Geheiratet wird wegen der gegenseitigen Absicherung«, warf Andreas unromantisch ein. »Mutter war eine Magd, brachte ihre Schönheit mit ein, wobei auch die nur mehr in Nuancen vorhanden ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie je miteinander geturtelt haben. Du?«
»Nein. Du hast recht, Mutter sieht mittlerweile alt und abgearbeitet aus.« Maria schaute durch das Fenster nach draußen. Das Wetter war ihr nicht geheuer. »Weißt du, weshalb Onkel Alfons hier war?«
»Ach, der.« Andreas versteifte sich.
»Er hat uns Geschenke mitgebracht«, plauderte sie eifrig weiter. »Hast du deines aufgemacht?«
»In hundert Jahren nicht!«
»Sei nicht so. Ich finde die Sachen schön. Noch nie hab ich einen derart weichen Stoff in meinen Händen gehalten. Fühl mal, das blaue Kleid hängt dort über dem Stuhl.«
»Er will uns damit kaufen.« Andreas wirkte ernst, trat an ihre Seite. »Es reicht schon, wenn sich die Eltern von ihm kaufen lassen.«
Ein Blitz zuckte durch die Nacht, ließ Maria erschrocken hinausspähen. »Schau mal! Der Bach führt kaum Wasser, obwohl es aus allen Kübeln schüttet! Eigenartig, was hat das zu bedeuten?«
»Du hast recht. Verdammt! Wir müssen sofort raus und nachsehen, was da los ist!«
»Weshalb denn?« Maria blickte ihn verständnislos an. War ihr Bruder verrückt geworden, bei dem Wetter das sichere Haus zu verlassen? Nicht einmal einen Hund würde man hinausjagen! Sie schielte zu dem Gefäß auf dem Boden. Viel Platz war darin nicht mehr übrig. Bestimmt waren die Töpfe in den anderen Räumen inzwischen ebenso randvoll. Hastig zog sie die Schuhe an, wollte zu dem Gefäß greifen.
»Lass das! Dafür ist jetzt keine Zeit!«
Maria gab bei Andreas’ Entschlossenheit ihren Widerstand auf. Ein Donner ließ die Glasscheiben vibrieren. Das Unwetter hing nach wie vor direkt über ihnen. Der Bruder hämmerte gegen die Tür des Elternschlafzimmers. »Ihr müsst raus! Das Wasser hat sich irgendwo gestaut!«
»Dafür wird Vater dich erschlagen! Es ist längst nach Mitternacht, du weißt, wie heilig ihm sein Schlaf ist!« Entsetzt drückte sich Maria an die Wand.
»Du missratene Brut, stör mich nicht!«, grollte Adam aus dem Inneren.
»Beruhig dich, dein Herz!«, vernahmen sie Margarethes beschwichtigende Worte.
»Verdammter Grantler.« Andreas wich ab.
»Mutter, bitte schaut doch selbst!«, rief Maria mit besorgter Stimme.
»Los Maria, mach schon!« Der Bruder sah vom Treppenabsatz zu ihr herauf, hielt eine Jacke für sie bereit.
Sie rannte die Stufen hinunter, hatte kaum genug Zeit, um in die Ärmel hineinzuschlüpfen, da zerrte Andreas sie weiter vor die Tür. Die Tropfen prasselten hart herab, sie wurden eingehüllt von einem Tosen und Knarren. Die Luft wirkte nebelig, es war unheimlich.
»Oben muss irgendetwas den Bach verlegt haben!«, schrie Andreas aus Leibeskräften, um den Lärm zu übertönen.
»Ist das schlimm?«
Der Bruder nickte ernst. »Unterschätze nicht die Kraft eines Wassers, das habe ich in der Mühle beim Sägewerk mehrfach erlebt.« Einmal, da hatte er noch gar nicht lange dort gearbeitet, rissen verkeilte Baumstämme tiefer Löcher in die Gebäude. Sie waren wie Geschosse gewesen, die im näheren Umfeld alles zerstörten. Die Aufräumarbeiten und Instandsetzungen hatten über vier Monate gedauert. Zum Glück wurde damals niemand von ihnen verletzt.
Andreas umklammerte die Hand der Schwester. Gemeinsam liefen sie los. Nach wenigen Schritten waren beide bis auf die Haut durchnässt, die Jacken schafften es nicht, den Regenflutmassen standzuhalten. Sie kletterten nacheinander einen Hang hinauf. Maria rutschte ab, die Erde hatte sich in Schlamm verwandelt. Sie krallte sich mit ihren Fingernägeln tief in den Boden hinein, fasste nach einem Wurzelgeflecht, hangelte sich daran empor. Andreas streckte ihr die Hand entgegen, zog sie mit einem Ruck auf die Anhöhe.
Maria hauchte ein leises Dankeschön. Sie war völlig außer Atem. Indes deutete ihr Bruder Richtung Berg. Sie mussten weiter hinauf, wollten dem fehlenden Wasser im Bach auf den Grund gehen. Ihr Herz klopfte wild vor Anstrengung und Panik. Sie zuckte bei den Blitzen aufs Neue zusammen. Die Luft flirrte, wirkte wie elektrisch aufgeladen, während der Regen nicht nachließ. Sie folgte Andreas, vertraute ihm. Zudem wollte sie in der Finsternis keinesfalls zurückbleiben!
»Da vorne sind Bäume verkeilt!«, brüllte Andreas.
Es knackste furchteinflößend. Unwillkürlich suchte Maria Schutz bei ihrem Bruder, verbarg sich hinter dem breiten Rücken, spähte zaghaft nach vorne zur Barriere. Sie schluckte, als sich ein Stamm drehte. Die Blockierung schien nachzugeben. Dahinter hatte sich ein See gebildet. Um zu erkennen, wie groß er war, dafür reichten die kurzaufhellenden Blitze nicht aus. Ein weiteres Holz löste sich. Der Wall begann gefährlich zu schwanken. »Oh mein Gott!« Maria vergrub die Fingernägel im Oberarm des Bruders.
»Wir müssen weiter rauf, sonst erwischt es uns!« Er packte sie bei den Schultern, schob sie den Hang hinauf.
Das nächste Ächzen folgte, die Barriere brach, entließ Tausende Liter Wasser.
Maria stolperte. Andreas zog sie hoch, schleifte sie mit.
Sie strauchelte und sackte auf den Boden. Ein stechender Schmerz schoss von ihrem Fuß aus durch den Körper. »Ich kann nicht mehr!«
Ihr Bruder hob sie auf, brachte sie die letzten Meter in Sicherheit, während das Wasser unter ihnen hinwegdonnerte und einen breiten Graben der Verwüstung zog. Bäume wurden wie Zahnstocher mitgerissen und durch die Gegend geschleudert.
Marias Blick fiel auf das elterliche Haus, das durch einen grellen Blitz erhellt wurde. »Mutter! Vater!« Im flackernden Schein sah sie die Wassermassen auf das Haus zustürzen. Ein Baum durchdrang die Bretterwand. Der Dachstuhl sackte in sich zusammen. »Wir müssen ihnen helfen!« Sie sprang auf, doch der Schmerz in ihrem Knöchel ließ sie direkt in Andreas’ Arme fallen.
»Bleib, wir können nichts tun!« Verzweifelt umklammerte er sie. »Wir müssen warten, bis es vorbei ist. Oder willst du sterben?«
Maria schluchzte. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen. Das Prasseln wurde weniger, während sich der Wind verstärkte, die Gewitterwolken vorantrieb. Sie bibberte vor Angst, Kälte und Betroffenheit. Das lange Haar, das sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, klebte an den Wangen. War das ein Rufen? Ihr Kopf ruckte hoch, verwirrt blickte sie sich um. Das Wasser gurgelte. Nein, der Sturm hatte ihr einen Streich gespielt! Da vermochten keine anderen Geräusche durchzudringen! Sie wimmerte. »Wie lange noch?«
Andreas strich besänftigend über ihren Rücken, während sich die Zeit des Wartens wie eine Ewigkeit dehnte.
»Jetzt können wir nachsehen.« Andreas stupste seine Schwester an. Das dunkle Grau war deutlich heller geworden, die Regenfront mit den Wolken weitergezogen, sodass sich der Mond groß und rund präsentierte. »Komm, ich helfe dir.« Er stützte Maria.
Sie biss die Zähne zusammen, und versuchte, den Schmerz auszublenden. Vor ihnen lagen Furchen, tief in die Erde gegraben, so wie es der größte Pflug nicht zu tun vermochte. Sie kamen bloß langsam voran. Vom Pfad, den sie zuvor gegangen waren, gab es nur mehr ein kleines Teilstück. Sie kämpften sich gemeinsam Richtung Elternhaus vor. Andreas half seiner Schwester, um über Wurzelstöcke, abgerissene Baumstämme und Geäst zu klettern.
»Mutter? Vater?«, rief Maria von weitem. Niemand antwortete. Die nächtliche Schwärze ging in ein Morgengrauen über, gab nach und nach das Ausmaß der Zerstörung preis. Der Dachstuhl befand sich nicht mehr auf seinem Platz. Die Wände des Bauernhauses erinnerten Maria an eine Pappkartonschachtel, in sich verschoben und zusammengepresst, so, als ob jemand darauf getreten wäre. Die Holzruine stand dicht an der Seite des Stalls, der unversehrt wirkte. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte man denken können, die beiden Gebäude wären von vornherein zusammengebaut gewesen.
Dort, wo sich vormals die Küche befunden hatte, klaffte ein riesiges Loch. Am Essplatz lagerte ein großer Stein, der Maria überragte. In diesem Raum gab es kein Weiterkommen. Matsch und Schlamm standen knöchelhoch. Über ihnen löste sich ein Brett, Maria schrie erschrocken auf. Es hatte sie zum Glück verfehlt.
»Wir müssen einen anderen Zugang suchen!« Andreas zog sie hinaus. Ein paar aufgebrachte Hühner liefen gackernd umher. Aus dem Stall vernahmen sie die Unruhe der Tiere. Es erklang das verängstigte Muhen der Kühe, Schweine grunzten, und die Hufschläge der Pferde donnerten gegen die Mauern und Holzwände.
Andreas entdeckte eine Öffnung, verschwand im zerstörten Haus.
»Sei vorsichtig!«, rief Maria hinterher. Sie humpelte suchend weiter. Vorne war kein Durchkommen, sie musste es an der Hinterseite probieren, wollte die aufgeschreckten Tiere herausholen! Sie schwankte gefährlich, die Füße versanken im Schlamm. Tapfer kämpfte sie sich voran. Jeder Schritt war, als ob sich eine Nadel in ihre Ferse bohren würde, doch sie stoppte nicht. Maria bog um die Ecke.
»Mutter! Vater!« Sie horchte. War da eine männliche Stimme? »Georg, bist du’s?!«
Statt einer Entgegnung flog die kleine Stalltür auf, die zum Mistplatz führte. Panisch stürmten die Tiere heraus. Maria strauchelte, fiel in den Matsch und schrie entsetzt auf.
Wenige Augenblicke später war Andreas an ihrer Seite. »Was ist los?«
Unweit entfernt ragte eine Hand aus dem Dreck heraus. Ein goldener Ehering prangte am Finger! Das musste Mutter sein! Vater trug keinen Ring!
Andreas löste sich als Erster aus der Erstarrung, griff nach der Hand, wollte sie herausziehen. »Ich schaff’s nicht!« Wie von einem Sog wurde der menschliche Leib zurückgehalten. Er kniete nieder, versuchte sie, mit den Händen auszugraben.
Maria rappelte sich auf, bemerkte Georg, der zu einem Baumstamm hinkte.
»Oh Gott, da liegt der Vater! Begraben unter dem Baum!«, stieß sie aus.
Georgs bedauerndes Kopfschütteln zeigte, dass es keine Hilfe mehr gab. Der Knecht eilte weiter zu Andreas, um ihn zu unterstützen!
»Hol Wasser!«, wies der Bruder Maria an.
Wasser? Natürlich – um Mutter vom Dreck zu befreien! Ihr Blick fiel auf die Holzbaracke des Knechts, die das Unwetter unbeschadet überstanden hatte, was sie den dicken Mauern des Stallgebäudes verdankte. So rasch es ihr schmerzendes Bein zuließ, humpelte sie darauf zu. Maria langte nach dem Wasserkrug. Sie schleppte ihn zurück, während der Schlamm den schlaffen Körper mit einem schmatzenden Geräusch freigab.
Maria begann hektisch mit dem Wasser das Gesicht der Mutter zu waschen, fingerte Dreck aus dem halboffenen Mund, spülte ihn frei.
»Sie ist tot«, bemerkte Andreas.
»Nein! Komm, atme! Bitte!« Maria rüttelte die Mutter.
Weit aufgerissene Augen schauten starr durch sie hindurch. Zu spät! Schluchzend saß Maria im Dreck, bis sie den leeren Blick nicht länger ertrug und mit zittrigen Händen Mutters Augenlider schloss. Inzwischen hatte Andreas den Hengst eingefangen. Schweigend spannten er und Georg das Pferd ein, um Vater zu befreien und den Baumstamm wegzuziehen. Gemeinsam schafften sie die toten Eltern zu dem Ahornbaum. Scheu drückte Maria auch dem Vater die Lider zu. Zeitlebens hatte er keine freundlichen Gesten für sie übriggehabt, sodass sie selbst im Tod kaum wagte, ihn anzufassen. Schluchzend breitete sie eine Decke über die beiden aus. Sie sind tot! Tot!!!
Andreas’ Hand lastete schwer auf ihrer Schulter. So nichtig kamen ihr im Moment der absurde Streit und die Meinungsverschiedenheiten vor. Wie eine Ironie des Schicksals floss der Bach einträchtig plätschernd dahin. Die Sonne blitzte hinter der Bergkuppe hervor. Doch das plattgedrückte Gras zu den Seiten und das Durcheinander zeugten von der Naturgewalt, die vor kurzem getobt hatte.
»Mutter – Vater – ruht in Frieden.«
UNGEWISSE ZEITEN
Dezember 1947
Maria stand am Friedhof vor dem Grab ihrer Eltern, blickte auf den hellen Marmorstein. Sie schlug ein Kreuzzeichen und las in Gedanken das Todesdatum von Adam und Margarethe Schneider: 27. Juli 1947. Sechs Monate waren seit dem Unglück vergangen, und ihre Verletzung am Knöchel war längst ausgeheilt. Schnee bedeckte die Gräber, Grabsteine und Kreuze. Bloß die Pfade dazwischen waren ausgetreten. Ein eisiger Wind zog zwischen den Friedhofsmauern hindurch, schauerte ihren Rücken hinab. Maria klappte den Mantelkragen hoch, begann eine stumme Zwiesprache mit den Eltern.
Morgen ziehen wir im neuen Haus ein! Es ist größer als das alte. Stellt euch vor, wir sind sogar am Stromnetz angeschlossen! Einfach den Schalter umlegen, und schon ist es hell. Ein Zauberwerk der neuen Zeit! Die letzten Möbel für die Einrichtung wurden vorgestern geliefert. Vier Pferde haben das schwere Gespann hinaufgezogen. Onkel Alfons hat kräftige Kerl dazu beauftragt, um alles in den Räumen aufzuteilen. Auch Andreas hat mitgeholfen. Widerwillig, ihr kennt ihn ja. Heute Abend packe ich unsere Habseligkeiten zusammen. Viel ist es ja nicht. Aber Mutter, dein Spiegel bekommt einen Ehrenplatz! Er ist das einzige Stück, das fast unbeschädigt das Unwetter überstanden hat. Nur die obere linke Ecke ist ausgebrochen. Wenn ich ehrlich bin, freue ich mich, dem alten engen Schuppen und der provisorischen Kochstelle zu entkommen. Kalt ist es dort. Kaum vorstellbar, dass Georg und seine Schwester Anna über Jahre da drinnen gehaust haben. Dabei gibt es inzwischen eine zusätzliche Wand, damit das Innere weniger auskühlt.
Maria blies wärmende Luft zwischen ihre Hände, die sich trotz Fäustlinge eisig anfühlten. Wenigstens ging es Georg gut. Andreas hatte den Knecht erst unlängst besucht, der bei einer Base im Nachbarort untergekommen war und am dortigen Hof bei den anfallenden Arbeiten half. Maria vermisste ihn und sein freundliches Wesen. Sie hätte sich gewünscht, dass er bleiben könnte, aber da war mit Alfons nicht zu reden. Der wollte junge starke Kerle, die Leistung brachten. Die neuen Knechte, die der Onkel aufgenommen hatte, schliefen in einer Scheune im Ort. In der Früh fuhren sie mit einem Karren hoch, und am Abend, nach getaner Arbeit, ging es mit dem selbigen zurück. Mirko, Alfons’ rechte Hand, würde künftig statt Andreas und ihr in die Baracke einziehen. Zudem gab es eine Stalldirn. Burgi war für das Melken zuständig und half im Garten. Doch Wäsche machen, das Haus sauber halten und kochen fielen in Marias Tätigkeitsbereich.
Mutter, wie hast du das geschafft? Ich bewundere dich, wie du tagein, tagaus alles gemacht hast, während ich an der Schule tätig war. Leider kann ich als Betreuerin nicht mehr zurück, unabhängig wegen der fehlenden Zeit, sondern die Stelle wurde anderweitig besetzt.
Im Frühjahr will Alfons den Bach verlegen lassen, damit so ein Unglück kein weiteres Mal passieren kann. Andreas tut sich schwer darin, dass der Onkel das Sagen hat. Nun, es ist nicht alles schlecht. Ohne ihn würden wir dumm dastehen, hätten nicht einmal ein Dach über dem Kopf.
Maria atmete tief durch. Die Mauern des Stalls waren heil geblieben, doch der Holzaufbau wurde neu gemacht. Zudem gab es an der Hinterseite jetzt eine große Werkstatt, die sich gut im alten Bau einfügte. Darüber lag ein weiterer Raum, den Alfons für sich beanspruchte, noch war er kahl und unmöbliert. Sie schüttelte traurig den Kopf. Warum habt ihr uns nicht vorgewarnt, wie schlimm es um den Hof steht? Die Belege der Bürgschaft sind eindeutig! Wie konntet ihr solche Schulden anhäufen? Das verstehe ich nicht. Unabhängig unseres Alters, wie soll Andreas die jemals tilgen? So bleibt Onkel Alfons gewiss über Jahre Bürge und Vormund zugleich! Ich weiß nicht, wie lange ich es schaffe, Andreas zu beschwichtigen. Ständig gibt es Streit. Ich bin mir sicher, dass sich das auch Onkel Alfons bald nicht mehr bieten lässt. Bitte, legt dort oben ein gutes Wort ein, damit das Ganze nicht eskaliert!
Maria faltete die Hände zum Gebet, murmelte zum Abschied ein Vater unser, bekreuzigte sich und drehte ab, um den Heimweg anzutreten. Die neuen Stiefel, die Onkel Alfons ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, hielten mollig warm. Der Schnee knirschte unter den Fußsohlen. Von oben herab tanzten Schneeflocken. Sie musste sich beeilen, sonst war es finster, ehe sie ihr Zuhause erreichte.
Maria schritt an hohen Schneewechten vorbei. Über Monate waren nach dem Unwetter die Straßen saniert und die Schlammmassen entfernt worden. Nun lag darüber ein weißer Mantel. Sie hielt kurz inne. Da drüben am Ufer hatte Frau Schaffers Haus gestanden! Das Gebäude war mitsamt der Bewohnerin von den Fluten mitgerissen worden. Sie gehörte zu den fünf Toten, die das Unwetter im Sommer gefordert hatte, und wurde bis zu dem heutigen Tag nicht gefunden.
Hinter Maria erklang das Brummen eines Wagens. Jemand hielt an ihrer Seite.
»Oh, the Schneider-Girl! So alone? Come in«, deutete der Soldat am Steuer, wollte, dass sie bei ihm einstieg. Seine Stimme klang seltsam. Lauernd?
Maria erschauerte. »Walter.« Sie erkannte den früheren Verehrer. Die Uniform saß akkurat. Unter der Kappe sah sie etwas von seinem roten Haar, auf den Wangen zeigten sich zahllose Sommersprossen. Sie schaute sich um, konnte niemanden sonst entdecken. »No, thanks«, brachte sie hervor. Entschlossen ging sie weiter.
Walter fuhr im Schritttempo nebenher. »Come on. It’s kalt«, vermischte er das Englische mit dem Deutschen. »Bring dich home.«
Maria schüttelte abwehrend den Kopf. »Ich bin das Gehen gewöhnt!« Ihr wurde bange. Wenn Andreas doch an meiner Seite wäre! Sie beschleunigte die Schritte. Ihr heißer Atem dampfte sichtbar von ihrem Gesicht weg.
Walter gab Gas, überholte sie. Die kurze Erleichterung, die sie durchflutete, erstarb, als er wenige Meter vor ihr abbremste und ausstieg. »Come on!« Es klang wie ein Befehl.
Da raschelte es im Wald. Maria schrie erschrocken auf. Hatte Walter dort einen Kameraden postiert?
Ein Mann sprang auf die Straße. Markus! Andreas’ Freund marschierte auf sie zu. »Verzeih, ich bin spät dran.« Er küsste Maria vor Walters Augen auf den Mund, schlang besitzergreifend den Arm um sie, wandte sich an den Briten. »Danke Kamerad, Maria befindet sich nun in guten Händen. Wenn die Nächte länger werden, weiß man nie, wer sich auf den Straßen herumtreibt und schwache Frauen erschreckt. Ich hab ihr mehrfach gesagt, dass sie nicht alleine in der Dämmerung unterwegs sein soll. Schon gar nicht auf diesem abgelegenen Weg.« Markus seufzte. »Wieso hast du nicht gewartet? Wir müssen uns an der Weggabelung verpasst haben.«
»Ich, ich … entschuldige«, stotterte Maria.
Walters Wangenmuskeln zuckten. »No problem, I stör euch not longer.«
Markus hielt die bebende Maria in seinem Arm, bis der Brite mit dem Wagen gewendet hatte und sich nicht mehr in Sichtweite befand. Erst dann gab er sie frei. »Alles gut bei dir?«
»Danke«, hauchte sie. Ihre Beine fühlten sich wacklig an, während ihre Lippen heiß brannten. Das war mein erster Kuss! Von Markus!
»Mein Überrumpeln tut mir leid. Aber ich musste eingreifen, bevor der Kerl dich noch dreister aufgefordert hätte, in seinen Wagen zu steigen, was du offenbar nicht wolltest.«
»Wie kommt’s, dass du …« Hat er mich geküsst, um mich zu retten? Hätte er das bei jeder Frau getan?
»Ich bin beauftragt, den Wald in der Gegend zu durchforsten. Ein Baum hat sich bei einem anderen aufgehängt, den konnte ich unmöglich stehen lassen. Bin erst vor kurzem damit fertig geworden. Zum Glück war ich noch in der Nähe.«
Maria nickte.
»Nun komm. Wenn ich darf, begleite ich dich das restliche Stück. Nicht, dass der Kerl noch einmal umdreht.«
»Das ist ein Umweg für dich.« Ihr Herz pochte. Dieses Mal nicht, weil sie Angst hatte.
»Hast du Sorge, ich könnte dir etwas antun?«
»Nein!« Hastig setzte sie sich in Bewegung. »Es fühlt sich bloß eigenartig an. Andreas spricht so oft von dir, dass du vertraut wirkst, obwohl du strenggenommen ein Fremder für mich bist. Noch nie haben wir alleine miteinander so viel am Stück gesprochen.«
Markus lachte. Es war tief und herzlich zugleich. »Stimmt. Dann sollten wir schleunigst Gesprächszeit nachholen.«
Der Schnee fiel dichter, als sie einträglich Seite an Seite durch diesen stapften.
»Wie geht es dir mit dem Onkel? Andreas tut sich ja schwer mit ihm.«
»Es ist unbestritten für uns alle eine immense Umstellung. Wobei, schimpfen kann ich nicht. In Wahrheit ist es uns in materiellen Dingen noch nie so gut gegangen.«
»Dennoch fühlt sich Andreas um sein Erbe gebracht, und will dem auf dem Grund gehen.«
»Hoffentlich verrennt er sich nicht. Immer Streit und Kampf, ich bin es leid. Meine Versuche, ihn zu beschwichtigen, fruchten nicht. Bitte, sei ihm weiterhin ein Freund. Ich habe das Gefühl, dass er auf dich eher hört. Für ihn bist du wie ein großer Bruder, so wie es einst Jakob für uns war.«
Markus musterte sie. »Letztlich habe ich im Krieg gelernt, dass man weniger Freunde hat, als man denkt. Doch für die richtigen und wahren würde ich mein Leben geben. Da schließe ich Andreas und dich mit ein.«
»Danke, das ist sehr nett von dir. – Wie war der Krieg? So schrecklich, wie man sich erzählt?«
»Schrecklicher. Es hat uns alle zu Verlierern gemacht, unabhängig davon, welcher Seite man angehörte. Verluste gab es überall. Häuser kann man aufbauen, aber ein Leben, das erlischt, bleibt für ewig erloschen.«
Maria ging nachdenklich weiter. Die Wolken am Himmel dämpften das Tageslicht, brachten stattdessen schwarz-graue Punkte hervor, die in der Luft tanzten.
»Guck nicht so traurig.«
»Das kann ich nicht verhindern.«
»Dein Bruder Jakob war ein feiner Kerl.«
Ihr Kopf ruckte zur Seite. »Hast du ihn so gut gekannt?«
»Besser als du denkst. Wir gehörten in den letzten Kriegsmonaten derselben Einheit an.«
»Oh, aber … Andreas hat das nie erwähnt.«
»Er weiß es nicht.«
Verwirrt schüttelte Maria den Kopf. »Du bist erst später nachgerückt, da gab es keine Briefe mehr von Jakob!«
Markus schwieg.
»Hat … hat er mit Absicht nicht mehr geschrieben?«