Kitabı oku: «Sandy - Entwurzelt zwischen den Kontinenten»

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Bridget Sabeth

Sandy - Entwurzelt zwischen den Kontinenten

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein tödliches Geheimnis

Die Entführung

Ottawa – Die Flucht

In den Slums

Ein neuer Abschnitt

Eine zweite Familie

Keine Perspektive?

Freunde

Pläne

Das Warten hat ein Ende

Auf nach Österreich

Offenbarungen

Die Suche

Herr Schmied

Erinnerungen

Rückkehr in die neue Heimat

Epilog

Impressum neobooks

Ein tödliches Geheimnis

Sandy

Entwurzelt zwischen den Kontinenten

Bridget Sabeth

Könnte ich bloß etwas tun! Tim begutachtete Sandras angespanntes Gesicht. Ihre traurigen gequälten Augen wirkten dumpf, peinigten ihn selbst. Mühsam unterdrückte er ein Aufseufzen und rückte ein Kissen zurecht.

Er mochte die gemüt­liche, dunkelbraune Rattan-Garnitur mit den beigen Auflagen. Sie chillten gerne gemeinsam in der Gartenlaube. Dieser Ort war längst zu einer fixen Komponente bei ihren Treffen geworden. Am heutigen Tag schaffte es die vertraute Umgebung nicht, die aufgestauten Emotionen zu besänftigen.

Sandy saß auf dem Sofa, während er gegenüber auf einem Sessel Platz genommen hatte. Sie starrte stumm vor sich hin, wie abgedriftet.

Bestimmt denkt sie an ihr altes Leben in Österreich. An jene Zeit, in der sie behütet aufwachsen durfte. Es ist nicht fair, dass von einem Tag auf den anderen ihr Leben aus den Fugen geraten musste! Man hat ihr die Familie, Freunde sowie die vertraute Umgebung genommen! Tim strich sich über die schweißnasse Stirn. Dennoch bin ich froh, dass wir uns gefunden haben!

Hell durchflutete der Sonnenschein den Innenraum, hatte diesen spürbar erwärmt. In der Mitte des Tisches stand ein feucht beschlagener Wasserkrug. Es war abnorm heiß. Sandy hielt hingegen die Beine angewinkelt fest umschlungen, als würde sie frieren.

»He, ab heute bist du achtzehn. Als Österreicherin somit volljährig. Ich bin bereits gespannt, welche Überraschungen Helen und David für dich besorgt haben. Die Feier wird bestimmt schön werden«, versuchte Tim fröhlich zu klingen.

Sandra schaute auf. »Ich bin ein U-Boot. Kaum jemand weiß, von woher ich komme und was mit meiner Ursprungsfamilie passiert ist. Kannst du mir da verübeln, dass ich meine Geburtstage hasse? Ich mache das ganze Theater bloß mit, um Helen und David nicht zu enttäuschen. Das weißt du«, stieß sie bitter aus.

»Und jedes Jahr hoffe ich darauf, dass der Schmerz in dir nachlässt.«

Bedrückt senkte Sandy den Kopf, trotzdem bemerkte Tim die einzelne Träne, die sich aus ihrem Augenwinkel gelöst hatte.

»Süße.« Er erhob sich aus dem Sessel, setzte sich an ihre Seite, strich eine widerspenstige Strähne hinter ihr Ohr zurück. Meine Sandy … Sanft küsste er ihr Haar, atmete den unvergleichlichen Duft ein, der ihn an eine Blumenwiese erinnerte. Seit dem vorigen Jahr hatten sich seine Gefühle gewandelt, sich intensiviert. Statt der kleinen Schwester, so wie ich sie anfangs gesehen habe, sind wir Liebende geworden.

»Seit über fünf Jahren, einem Drittel meines Lebens bin ich hier. Da draußen …« Sandy brach ab, unwillig schüttelte sie den Kopf. »Noch immer bin ich keinen Schritt weiter.«

»Ohne dich wäre es langweilig, mir würde definitiv etwas fehlen.«

Sandys Augen flackerten wehmütig auf. »Du bist das Beste, was mir passieren konnte. Doch meine Entführung ist so präsent in mir. Ich träume fast jede Nacht davon. Manchmal wirkt es, als wären es zusammengewürfelte Bruchstücke aus einem Horrorfilm. Und dann ist da Kurt … mein Onkel, wie ein Dämon …« Sie atmete hörbar durch, stierte vor sich auf den braunen Dielenboden, als Suche sie dort Halt in ihrer Rastlosigkeit.

Tim langte nach Sandys Hand, spürte ihr Zittern. Zärtlich fuhr er mit seinem Daumen über die Haut.

»Wenn ich wüsste, wo mein Bruder ist. Lebt er überhaupt noch? Wir waren eine normale Familie, dachte ich zumindest.« Sandra zog die Hand zurück. »Ich vermisse sie … Sie alle … So sehr … Nach wie vor.« Abrupt sprang sie auf, ging ein paar Schritte, schaute unschlüssig im Raum umher.

»Sandy«, krächzte Tim. Seine Kehle fühlte sich ausgetrocknet an. Er griff nach dem Glas Wasser auf dem Tisch und trank einen großen Schluck.

Hilflos zuckte Sandra mit den Schultern. Sie trat ans Fenster, lehnte sich an die Holzvertäfelung, wanderte gedanklich in jene Zeit zurück, in der sie entwurzelt worden war. Durchlebte die Minuten, Stunden, Tage, Wochen und Monate, die sie noch jetzt – nach Jahren – quälten.

 Leoben, Mai 2013

Mary stand rastlos in der Küche. Sie konnte es nicht fassen, was vorhin ihr Mann Manfred erzählt hatte! Kurt ist da! Sein Bruder, ihr Peiniger! Unbehelligt war er im Institut an den Mitarbeitern vorbeigekommen, um Manfred dort aufzusuchen. Beim Gedanken daran zog sich alles in ihr zusammen, es tobte in ihr ein Orkan aus Angst, Furcht, Entsetzen und schlimmen Erinnerungen.

Kurt war seit jeher dreist und skrupellos! Bestimmt wollte er damit zeigen, dass er vor nichts und niemandem Angst hat, er nach seinen eigenen Gesetzen lebt! – Und verdammt, warum erkennt Manfred nicht den Ernst der Lage?! Kurt will die Formel für dubiose Machenschaften. Da bin ich sicher! Ob er Drogengeschäften nachgeht? Das ist das Naheliegendste. Mit ehrlicher Arbeit wäre er niemals in Amerika zu Reichtum gekommen, zumindest hat Manfred das angedeutet.

Die Formel, an der ihr Mann forschte, wurde als Meilenstein in der Krebstherapie gehandelt. Es gab Interesse seitens der Pharmaindustrie. Doch vor wenigen Wochen, mit dem Tod seines Kollegen Markus, hatte Manfred die Arbeit an den Forschungen eingestellt. Aus dem angrenzenden Bad erklang indes sein ausgelassenes Pfeifen. Wie schafft er es, so mühelos die Begegnung mit dem Bruder zur Seite zu schieben?

»Autsch!«, fluchte Mary, als heißes Nudelwasser emporspritzte. Rasch drehte sie die Temperatur vom Herd herunter, sah auf die Uhr. Zwei Minuten, dann müssten die Spaghetti al dente sein.

Ihre Gedanken wirbelten weiter durcheinander. Mary kannte solche Kerle, wie Kurt, zur Genüge aus ihrer Zeit in England, an die sie sich ungern erinnerte. Sie war ohne Eltern aufgewachsen, von einem Heim ins nächste gereicht worden. Als Teenager hatte sie bemerkt, dass sie ihren Körper gewinnbringend einsetzen konnte. Zumindest schien ihr diese Option besser, als mit Drogen zu dealen oder kriminell zu werden.

Anfangs hatte sie geglaubt, es wäre leicht verdientes Geld, in einem Etablissement anzuschaffen. Ich hab mich so geirrt!, haderte sie mit ihrem alten Leben. Ich verkaufte meinen Körper und die Seele, bin schwanger geworden, habe einen Sohn geboren. Eine Abtreibung wäre die einfachere Variante gewesen. Aber das wollte ich zu keinem Zeitpunkt! Um den Kleinen und mich selbst zu ernähren, bin ich weiter dem Gewerbe nachgegangen. Kolleginnen, die frei hatten, kümmerten sich unterdessen um mein Baby. So hab ich Manfred getroffen ...

Mary erinnerte sich an seine traurigen grauen Augen, in die sie sich gleich verguckt hatte. Zusammengesunken war er im Etablissement gesessen, als hätte er sich verlaufen. Nie ist es ihm um Lust, Sex oder Gier gegangen, sondern um Nähe. Jedes Wort seinerseits öffnete mein Herz ein Stückchen mehr. Als er mich fragte, ob ich mit ihm nach Österreich käme, wollte ich es nicht recht glauben. Nicht einmal, als er meinen kleinen einjährigen Bengel gesehen hat, machte er einen Rückzieher. Er schloss Mario in sein Herz, als wäre es sein eigenes Kind.

»Ist das Mittagessen fertig?«

Mary zuckte erschrocken zusammen. Manfred kam zur Tür herein, geduscht und umgezogen.

»Mist! Die Nudeln!« Sie schüttete die Spaghetti ins vorbereitete Sieb, ließ kaltes Wasser darüber laufen. »Bestimmt sind sie zu weich!«

Manfred trat heran, kostete. »Sie schmecken hervorragend.«

»Schwindler.« Mary seufzte. Mit zittriger Hand vermengte sie die Pasta mit der roten Fleischsoße. Da nahm Manfred ihr den Kochlöffel ab, zog sie in seine Arme.

»Du musst ihm die Formel geben, vielleicht lässt er uns dann in Ruhe«, brach es aus ihr hervor.

»Ich soll mich allen Ernstes von ihm kaufen lassen?!«

»Du unterschätzt ihn.«

Er schob sie eine Armlänge zurück. »Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst. Aber Kurt wird weder eine Chance erhalten, sich erneut an dir zu vergehen, noch werde ich es zulassen, dass er uns anderweitige Schwierigkeiten macht.«

»Wie willst du das verhindern? Hast du deine Bedenken mit der heißen Dusche abgewaschen?«

»Die Polizei ist informiert. Es war gut, dass du dich seinerzeit durchgerungen hast, ihn anzuzeigen. Sie haben versprochen, sich gleich der Sache anzunehmen«, sprach er ernst.

»Die Polizei!«, stieß Mary verächtlich aus. »Sie hat ihn damals nicht gefasst, und wird es nun genauso wenig tun. Und wo ist sie, deine Polizei?« Mary trat ans Fenster, blickte hinaus. »Nirgends zu sehen!«

In Manfred drängte ein alter Groll nach oben. »Mir ist der Gedanke zutiefst zuwider, er könnte mit meinen Forschungsergebnissen seinen dunklen Machenschaften nachgehen. Verstehst du das nicht?«

»Kurt hat dir eine Million Euro geboten! Er geht niemals ohne die Formel!«

»Vielleicht war es bloß ein Bluff seinerseits, um mich zu ärgern. Wenn er schlau ist, befindet er sich längst auf den Rückweg nach Nordamerika.«

»Du bist naiv. Deine Lüge, dass du alle Aufzeichnungen zerstört hast, glaubt er dir niemals! Und was ist mit deinem Kollegen – mit Markus? Du hattest von vornherein ein ungutes Gefühl, dass sein Tod ein gewaltsamer war! Oder hältst du es nun doch für möglich, dass er sich selber den goldenen Schuss gesetzt hat?«

»Er war niemals drogenabhängig, trank weder Alkohol noch rauchte er!«

»Siehst du! Und genau deshalb hast du alle Daten vom Rechner gelöscht und die Aufzeichnungen versteckt.«

Manfred ächzte. »Ja, und das ist ein weiterer Grund dafür, weshalb Kurt um keinen Preis die Formel von mir erhalten wird. Höchstens über meine Leiche.«

Mary taumelte entsetzt. Sie stützte sich auf der Arbeitsplatte in der Küche ab.

»Tut mir leid, das war ein blöder Spruch.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sei ehrlich zu dir selbst. Wenn du nicht zwischendurch essen, schlafen oder dich kultivieren müsstest, würdest du vierundzwanzig Stunden am Stück im Institut verbringen. Ich verstehe dich, denn niemand hätte erwartet, dass du als Kind die Hodenkrebserkrankung überleben könntest. In deinem Körper befanden sich zahllose Metastasen. Deswegen hast du dich der Forschung verschrieben. Wir – als Familie – kommen erst viel später. Jeder Tag ist für dich wie ein Gewinn, ohne Angst, es könnte irgendwann vorbei sein. Du wirkst im Gegenzug aufs Neue erstaunt, dass es dich nach wie vor gibt.«

Manfred betrachtete Mary. Trotz der harten Worte schaute sie nicht anklagend, sondern eher besorgt aus. Er wusste, dass sie das Liebste beschützen wollte, was sie besaß: die Kinder und ihn.

Er liebte Mary, weil sie ihn verstand, wie kein Mensch jemals zuvor. Sie hatte längst durchschaut, dass er ein Workaholic war, ein Besessener in seinem Tun. Mary unterstützte ihn, wie bei der Erziehung der Kinder, dem Haushalt, den Einkäufen, irgendwelchen Behördengängen … Tausend Dinge, die wie Kleinigkeiten wirkten, aber ohne sie, wäre er in seinen Forschungen nicht dort angelangt, wo er sich gegenwärtig befand.

Ich war vor Jahren so knapp davor, aufzugeben. Mit der Forschung ging es nicht voran, fühlte mich ohne Liebe einsam. Damals, in England, da hatte ich eine tiefe depressive Phase. Ich wollte für ewig verschollen bleiben, der Heimat den Rücken kehren, habe ernsthaft über Suizid nachgedacht. – Mary hat mich aufgeweckt, mir meinen Kampfgeist zurückgegeben. Durch sie hab ich erkannt, dass es an mir liegt, wie ich das Leben gestalte. Mit ihrem Rückhalt sowie der Fürsorge wirkte auf einmal alles so leicht. Ich habe mein Glück gefunden und gelernt, Dankbarkeit zu empfinden!

»Wenn du es hier für zu gefährlich hältst, solltest du mit Sandy ein paar Tage weggehen«, warf Manfred ein. »Entspannt euch in einer Therme, bis wir sicher sind, dass Kurt fort ist, oder die Polizei ihn gefasst hat. Mario befindet sich ohnehin in Graz. Doch ich lasse mich nicht vertreiben, ich bin nicht mehr der kleine Junge, den Kurt einst einschüchtern konnte.«

»Bildest du dir etwa ein, dass er als dein älterer Bruder auf dich Rücksicht nehmen würde?«

Von draußen erklang das Schließen der Haustür. Manfred öffnete den Mund, um seiner Frau zu antworten, aber Mary wehrte ab. »Psst. Wir reden später weiter. Sandy ist da.« Entschieden drückte sie ihn Richtung Esszimmertisch.

»Mhm, Spaghetti!«, rief Sandy voller Begeisterung, als sie schnuppernd ins Esszimmer lief. Sie ließ ihre Schultasche achtlos in eine Ecke plumpsen. »Mein Lieblingsessen! Hey Paps, wie schön, du bist da! Noch dazu unter der Woche.«

»Nimm Platz.« Mary rang sich zu einem Lächeln durch, auch wenn in ihr das vorherige Gespräch nachhallte.

»Ist grad nicht viel los im Institut«, entgegnete Manfred, legte die Zeitung zur Seite, in der er keine Zeile gelesen hatte. »Wir haben nur mehr auf dich gewartet.«

»Nun bin ich ja da.« Hungrig ließ Sandy sich auf dem Stuhl nieder.

Mary stellte den Topf mit Nudeln in der Mitte des Tisches auf einer Korkplatte ab, aus dem sie sich bedienten.

Die gemeinsamen Mahlzeiten gehörten für Sandra zu den Höhepunkten der Woche. Ihr Vater musste oft lange im Institut arbeiten, um seiner Forschertätigkeit nachzugehen, deswegen sah sie ihn meist selten. Am Tisch fehlte ihr acht­zehnjähriger Bruder Mario, der mit einem Jura-Studium in Graz begonnen hatte. Er jobbte nebenher als Kellner, um zusätzlich Geld zu verdienen. Somit hatte sich seine Zeit zu Hause drastisch reduziert. Er kam meist nur an den Wochenenden kurz heim.

Zudem gab es einen weiteren Grund für seine Abwesenheit, der war weiblich, blond und langbeinig: ein hübsches Mädchen namens Petra. Erst unlängst hatte Sandra ein Foto von Marios Flamme als Hintergrundbild auf seinem Handy entdeckt.

Bitte, sag vorerst nichts den Eltern. Es ist noch alles ziemlich frisch und neu für mich, hatte er gebeten. Sandy blieb nicht unbemerkt, dass Mario absolut in das Mädchen verschossen war. Seine Augen bekamen einen besonderen Glanz, den sie nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Sandra lächelte. Sie würde sicher nicht ausplaudern, dass ihr großer Bruder bis über beide Ohren verliebt war, auch wenn es ihr schwerfiel.

»Ich bin im Turnunterricht von allen am weitesten gesprungen«, erzählte Sandy zwischen zwei Bissen. Erwartungsvoll schaute sie ihren Vater an.

»Aha«, brummte der gedankenverloren.

»Hallo, Erde an Vater. Du hörst mir ja gar nicht zu!« Trotzig schob sie die Unterlippe nach vorne.

»Dein Vater hat zurzeit einiges um die Ohren. Sei ihm bitte nicht böse«, griff ihre Mutter besänftigend ein.

»Was nun? Im Institut wohl kaum, sonst wäre er ja nicht daheim. Hat er ja selber gesagt!«, meinte Sandra bockig. Was ist los? Warum sind beide so komisch?

»Entschuldige, mein Kleines.« Manfred suchte den Blick seiner Tochter. »Ich bin sehr stolz auf dich. Es tut mir leid, wenn ich es nicht immer zeige.«

»Schon gut.« Sandy klang versöhnter. Sie aß von ihren Nudeln. Die schmecken heute auch weicher und pampiger als sonst. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann Mama das letzte Mal ein Gericht misslungen ist. Sie kocht normalerweise hervorragend.

Manfred verstrubbelte Sandys braunes kurzes Haar.

Das hat er lange nicht mehr gemacht! Sandra schluckte irritiert. Sämtliche Alarmglocken schrillten in ihr. Sie fühlte die veränderte Stimmung, die sich in jeder Pore ihres Körpers auszubreiten schien. »Bist du traurig?«

»Mach dir keine Sorgen«, wich ihr Vater aus.

»Stimmt irgendetwas nicht?«

Ihre Eltern wechselten untereinander Blicke aus, die Sandy kannte, wenn sie etwas angestellt hatte. Momentan war ihr Gewissen diesbezüglich rein. »Was ist los? Jetzt sagt schon!«, beharrte sie dickköpfig.

Ihre Eltern schwiegen nach wie vor.

»Ich bin kein kleines Kind mehr. Wenn es wichtig ist, sollte ich darüber Bescheid wissen!«

Manfred räusperte sich, legte das Besteck zur Seite. »Über gewisse Dinge solltest du tatsächlich Bescheid wissen. Zur Sicherheit. Aber du darfst es niemandem erzählen. Und wenn ich niemandem sage, dann meine ich niemandem!« Seine Stimme klang schärfer als beabsichtigt.

»Ein Geheimnis für mich allein?!« Sandy rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her. Wieso zur Sicherheit?

»Höre deinem Vater genau zu! Bitte«, mahnte Mary.

Augenblicklich saß Sandy still, langte zur goldenen Kreuzkette, die um den Hals baumelte. Der Schmuck war ein Erbstück ihrer Ur-Großmutter und zugleich eine Art Talisman. Mama wirkt so angespannt! Ein fröstelnder Schauer ergriff Sandy. Sie rieb sich die Unterarme, wurde von einer neuen Woge gefüllt mit Unbehagen überrollt.

»Dein Onkel Kurt ist im Land. Er hat mich im Institut aufgesucht, und es gab Streit«, erklärte ihr Vater missmutig.

»Onkel Kurt?«, wiederholte Sandra, »den kenne ich nur von einem Foto. Lebt der nicht irgendwo in Amerika?«

»So ist es.« Manfred unterdrückte ein Stöhnen. »Kurt hat in Erfahrung gebracht, dass wir eine Formel für ein neues Medikament entdeckt haben, eine Art Droge. Du weißt, was das ist, oder?«

Sandy nickte. »Wir hatten erst letztens ein Referat über das Suchtverhalten und die zer­störerischen Auswirkungen von Drogen. Weshalb entwickelst du so etwas?«

Eine tiefe Querfalte bildete sich auf Manfreds Stirn. »Das war nicht beabsichtigt. Es ist kein Geheimnis, dass das Flavonoid Wogonin unterstützend in der Krebstherapie eingesetzt wird. Es entstammt aus dem Helmkraut. Ich habe eine Zusammensetzung gefunden, die für Krebskranke zum Heilmittel werden könnte. Es ist mir gelungen, die positive Wirkung der Pflanze zu vervielfachen. Die Versuchsreihen an den Mäusen und Ratten sind vielversprechend. Vor allem wäre dieses Mittel ebenso für Kinder oder Schwangere geeignet, sowie bei Menschen, deren Immunsystem geschwächt ist.«

»Das klingt doch gut.«

»Ja, an sich schon«, bemerkte Manfred gedrückt. »Die Dosis gehört allerdings abgestimmt, auf Alter, Größe und Gewicht. In der Therapie wird die Lösung injiziert, also gespritzt. So kann sich die volle Wirkkraft entfalten. Das Mittel reichert sich in der Blutbahn an, gelangt zum Tumor, schädigt diesen, bis er zerfällt. Zweckentfremdet stellt es jedoch eine Gefahr dar. Dem Helmkraut wird eine ähnliche Wirkungsweise wie dem Marihuana nachgesagt. Und was passiert, wenn es mit anderen Pflanzenextrakten, wie dem Aztekensalbei, kombiniert wird, daran möchte ich gar nicht denken.«

»Meinst du damit Nebenwirkungen, oder wie das heißt?«, hakte Sandra nach.

»Ja. Drogen machen abhängig. Durch die konzentrierte Form des Mittels kommt es zu einem rascheren und intensiveren Drogenrausch. Das zeigt sich in psychischen Veränderungen wie: Wahnvorstellungen, Halluzinationen … Dabei haben manche schon gedacht, sie könnten fliegen. Was dann ein Flug in den Tod war. «

Sandy schluckte betroffen. In der Klasse hatten sie beim Referat die Folgen einer Abhängigkeit näher erörtert. Es von ihrem Vater zu hören, mit diesem Vibrieren in der Stimme, war etwas ganz anderes.

»Zu hohe Dosen wirken negativ auf den Körper«, fuhr Manfred fort. »Der Kreislauf kann zusammenbrechen, oder es kommt zu Fieber, das in weiterer Folge zu einer Austrocknung, einer sogenannten Dehydration führt. Das erhöht das Risiko von Herzrhythmusstörungen. Auch die können tödlich sein. Deswegen darf so ein Mittel nur unter Aufsicht und mit entsprechender Indikation eingenommen werden! Süchtigen ist das egal. Der Körper sowie der Geist gaukeln ihnen vor, dass sie diese Substanz benötigen, brauchen immer höhere Dosen. Dafür tun manche Menschen alles: Verkaufen sich, die eigene Familie, Freunde …«

»Du … du sprichst doch von einem Medikament und nicht der Pflanze? Muss das nicht ein Arzt verschreiben?«

Manfred lächelte bitter. »Stimmt, es ist auch noch nicht zugelassen. Doch jeder, der die Formel, das nötige Wissen, Equipment oder Geld besitzt, kann die Substanz theoretisch herstellen. Vielleicht gab es einen Insider-Tipp … Zumindest ist die Drogenmafia darauf aufmerksam geworden.«

»Du meinst Onkel Kurt, oder?«, kombinierte Sandra, obwohl es in ihrem Kopf von den ganzen Informationen regelrecht surrte.

Ihr Vater nickte.

»Wie kann er davon wissen?«

»Er ist böse!«, stieß Mary haltlos aus.

»Böse?«, echote Sandy verständnislos. Statt einer Erklärung registrierte sie, wie ihre Mutter die Lippen zu einem dünnen Strich zusammenpresste, während ihre Augen verräterisch nass glänzten. Hat sie Angst? Sie ist ganz blass!

Manfred sprach hastig weiter. »Im Wald, unweit von der Höhle entfernt, steht der neue Hochsitz. Wir sind vor einem Monat daran vorbeigegangen.«

»Ich weiß, welchen du meinst. Du hast Herrn Schmied beim Bau geholfen.«

»Stimmt. Die linke Seitenwand ist doppelt eingezogen, dahinter befindet sich ein Hohlraum. Dort sind in einer blauen Folie meine Aufzeichnungen über die Formel versteckt. Falls deiner Mutter oder mir irgendetwas passieren sollte, bitte ich dich, die Unterlagen zur Adresse zu bringen, die auf dem Umschlag steht. Du darfst sonst mit niemandem darüber sprechen. Es schon gar nicht Kurt erzählen!«

»Wovon redest du da? Du hast gesagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll!« Sandys Stimme überschlug sich, ihre Emotionen fuhren Achterbahn. Fuck, was ist los? Diese besorgten Blicke der Eltern! Ich verstehe kaum, was Paps mir da erklärt! Es klingt nach Gefahr! »Was ist mit Mario? Weiß er davon?«

»Kleines, das ist für den Notfall gedacht«, beschwichtigte Manfred. »Deine Mutter möchte mit dir für ein paar Tage wegfahren, bis sich alles beruhigt hat. Wenn Mario hier ist, weihen wir ihn ein. Bis dahin bleibt es unser Geheimnis.« Ihr Vater versuchte, sie aufmunternd anzulächeln. Das misslang gründlich, wirkte stattdessen verzogen und grimassenhaft.

Sandra stierte unglücklich auf ihren halbgefüllten Teller Spaghetti. Lustlos stocherte sie in dem mittlerweile kalt gewordenen Lieblingsessen herum. Sie registrierte rote Soßen­spritzer am weißen Tellerrand. »Was ist mit deinen Kollegen in der Forschungsabteilung? Können die nicht mehr mit diesen Infos anfangen? Warum gibst du sie denen nicht weiter, sondern versteckst sie?«

»Du weißt, dass Markus vor zwei Wochen gestorben ist«, sprach Manfred mit brüchiger Stimme.

Obwohl es wie eine Feststellung klang, nickte Sandy.

»Es war eine Über­dosis. Nicht wegen der neuen Substanz aus dem Helmkraut, falls du dich das fragst. – Ich vermute … Nein, eigentlich bin ich mir sicher, dass jemand nachgeholfen hat. Deshalb traue ich zurzeit keinem. Auch niemandem im Institut.«

»Oh!« Sandys Augen weiteten sich entsetzt. Das ist neu! Gibt es zwischen Markus, den Drogen und dem Auftauchen von Kurt einen Zusammenhang? Das kann kein Zufall sein! Bin ich in einem Krimi? Oder ist das ein absurder Traum? Sandy zwickte sich in den Unterarm. Der Schmerz bewies ihr, dass sie sich im Hier und Jetzt befand. Ihre Zunge fühlte sich unnatürlich lahm an. Sie scheute sich davor, ihre Fragen auszusprechen.

Wann habe ich die beiden derart down erlebt? Bei Ur-Oma Annelieses Tod vor zwei Jahren … Sandra dachte an die alte Dame. Sonntags, nach dem Gottesdienst, waren die Besuche bei ihr in der Pflegeeinrichtung ein Fixum gewesen. Zuvor hatte die Ur-Oma bei ihnen im Haus gelebt. Bevor sie zur Belastung wurde, ist sie ausgezogen. Oma hat sich selber um einen Platz im nächstgelegenen Seniorenheim gekümmert, stand eines Tages mit gepackten Taschen in der Tür. So leer ist das Haus anfangs ohne sie gewesen.

Sandy erinnerte sich an das lebendige Strahlen von Ur-Omas blauen Augen. Sie vermisste die Geschichten, die meist von früher handelten. Sie war im Krieg aufgewachsen, in einer Zeit voller Entbehrungen. Für Ur-Oma Anneliese bedeutete Glück, etwas zum Essen sowie ein trockenes Plätzchen zum Schlafen zu haben. Derart bescheiden war sie auch als alte Dame gewesen, klagte nie.

In den Monaten vor Ur-Omas Tod wurde sie merklich schwächer, sie schlief die meiste Zeit. Immer öfter bin ich ferngeblieben, traf mich lieber mit meinen Freundinnen. Auf einmal ist sie nicht mehr dagewesen … Sondern irgendwo da oben … Bei den Großeltern von Mum und Paps, die ich nie kennengelernt habe … Der Sarg wurde in die dunkle Erde hinabgelassen.

Sandy gruselte es. Sie schaute auf. »Mama, Papa – ich hab euch lieb«, stieß sie aus.

»Ach, mein Schatz«, Mary schloss sie spontan in die Arme. »Wir lieben dich.«

Manfred erhob sich wenige Momente später, umarmte seine beiden Frauen. Sie hielten einander ganz fest.

Sandy kämpfte mit den Tränen. Mist, irgendetwas stimmt hier mit Sicherheit nicht!, pochte es in ihr.

Vehement klopfte es gegen die Tür, irgendjemand rüttelte daran. »Manfred, mach auf!«, rief eine männliche Stimme mit einem kanadischen Akzent. »Ich weiß, dass du da bist!«

Die drei fuhren auseinander. Sandy entdeckte auf den Gesichtern ihrer Eltern Panik.

»Oh, mein Gott!«, stieß Mary aus und sah sich um. »Du musst dich verstecken!« Sie schob kurzerhand ihre Tochter vorwärts.

»Psst«, zischte Manfred, »hier rein.«

Ihr Vater hielt den Deckel einer Holztruhe auf, die sich im Vorraum befand. Rasch kletterte seine Tochter hinein. Mahnend schaute er sie an. »Sei bitte still, egal was passiert«, sprach er beschwörend, »egal was passiert!«

Zitternd brachte Sandy ein Nicken zustande. Der Deckel senkte sich, tauchte ihre Umgebung in Dunkelheit. Eingepfercht in der Kiste dröhnte der verängstigte Herzschlag in ihren Ohren. Sie konnte kaum atmen. Unweigerlich dachte sie an Ur-Omas Sarg. Hilfe … Hilfe … Nicht auffallen … Ruhig bleiben … Sandra kauerte sich zusammen, und lauschte.

»Na gut«, erklang es, »wenn du nicht aufmachst, dann komme ich eben so rein!« Fast zeitgleich krachte es, das Schloss zerbarst unter der Wucht einer abgefeuerten Kugel. Die Tür schwang auf. Ein Mann trat in die Diele. »Ja, wen haben wir denn da?«

Manfred kannte sein Gegenüber. Optisch ähnelten sie sich mehr, als ihm lieb war: Mit einem Meter siebzig eher klein geraten, schmächtig, mit schmalen Schultern. Man sollte sich nicht von der Optik täuschen lassen. »Kurt«, sprach er angespannt. »Mit Begleitung.«

Neben seinem Bruder standen zwei Kerle, schwarz gekleidet, mit muskelbepackten Armen. Die Gesichter lagen verborgen hinter Masken, wiesen bloß Sehschlitze auf. Kurt machte eine flüchtige Handbewegung. Manfred bemerkte, wie Mary zusammenzuckte. Die beiden Lakaien hielten sich nicht mit ihnen auf, sondern durchsuchten die angrenzenden Räume. Hörbar gingen dabei Dinge zu Bruch.

»Mein kleiner Bruder, ein fantastischer Forscher«, spottete Kurt. »Nach meinem Besuch am Vormittag hätte ich erwartet, dass du dich aus dem Staub machst. Heißt das, du gehst auf das Angebot ein? Wahrscheinlich bist auch du längst der Almosen überdrüssig, und vor allem dieser bescheidenen Hütte.«

»Du irrst dich, und noch weniger kannst du mich einschüchtern! Ich bin hier, um mich dir entgegenzustellen!«

»Falls du es nicht bemerkt hast, ich habe Verstärkung mitgebracht.« Kurt lachte gehässig. »Komm, gib dir einen Ruck. Mein Geschäft ist lukrativer. Eine Million Euro! Was du mit diesem Geld bewirken könntest. Und alles nur für ein paar Notizen von dir.«

Angewidert beobachtete Manfred, wie sich sein Bruder über den teuren Anzug strich, der augenscheinlich maßgefertigt war. Niemals beabsichtigt Kurt, diese lächerlich hohe Summe lockerzumachen. So ein Abschaum, wie er es ist, will ich nie sein! Das schafft kein Geld der Welt! Im Hintergrund wurde hörbar eine Tür aufgebrochen, irgendeine Schublade ausgeleert. Mary stand still neben ihm. Bestimmt hofft sie so wie ich, dass sie Sandy nicht finden werden. »Du kennst meine Antwort und sie lautet: Nein!«, entgegnete er fest.

Kurts Grinsen gefror auf dem Gesicht. »Jeder, der nicht für mich ist, ist gegen mich. Du weißt, was das für deine Familie und dich bedeutet?«

Die maskierten Kerle kamen zurück. »Leer«, kommentierte einer knapp.

»Leer?« Argwöhnisch zog Kurt eine Augenbraue hoch. »Ist Sandra nicht daheim?«

»Nein. Sie übernachtet bei einer Freundin.« Manfred versuchte, das Beben in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Schade. So gerne hätte ich mein eigenes Fleisch und Blut gesehen.« Kurt zog eine Zigarre aus der Innentasche seines schwarzen Jacketts hervor. Dabei entging ihm nicht der gehetzte Blick, den Mary ihrem Mann zuwarf. Ist Sandy doch im Haus? Versteckt? Haben meine Leute nicht gründlich genug gesucht?

Kurt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, entzündete seine Brasil. Er paffte ein paar Rauchwolken in die Luft, die langsam emporstiegen und sich im gesamten Raum mit einem süßlich-würzigen Aroma ausbreiteten.

»Hast du nicht schon genug Kummer über uns gebracht?!«, stieß Mary entrüstet aus. Sie lief in den angrenzenden Essraum, um sich von Sandys Versteck zu entfernen.

Manfred folgte seiner Frau sogleich, zog sie an sich und suchte ihren Blick. Bitte, bleib ruhig, mahnte er sie stumm. In ihren Augen entdeckte er eine tiefe Angst, die ihn wie ein Pfeil schmerzhaft durchbohrte. Verzeih, ich hätte dich beschützen müssen! Euch in Sicherheit bringen, gleich nachdem Kurt im Institut aufgetaucht ist! Du hast recht gehabt, ich hab meinen Bruder unterschätzt. Schon wieder. Schlimmer noch, ich hab nichts aus der Vergangenheit gelernt. Die Formel hat mich blind für all die anderen Dinge gemacht. Und nun ist es zu spät.

Die Lakaien drängten Manfred von Mary weg. Kurt trat näher, langte unter das Kinn seiner Schwägerin, damit sie ihn anschauen musste, blies ihr mitten ins Gesicht. Sie hustete, als der beißende Rauch in ihre Kehle gelangte. Wimmernd drehte Mary sich von ihm weg, schloss verzweifelt ihre Augen. Kurt zwickte ihr grob in die Wange. »Manfred ist kein richtiger Mann. Ihm sind all die Zahlen wichtiger als die fleischlichen Freuden. Dabei gab es einmal Zeiten, da war er diesen nicht abgeneigt, hat er dich doch auf einer seiner Forschungsreisen in einem netten, freizügigen Etablissement in London ge­funden. Und als Anhängsel gab es einen Sohn.«