Kitabı oku: «Sandy - Entwurzelt zwischen den Kontinenten», sayfa 2

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»Hör auf!«, flehte sie.

»Ich finde deinen unüberhörbaren englischen Akzent süß. Weißt du noch damals, als ich es dir richtig besorgt habe? Ich erinnere mich gerne daran zurück, fand dich alleine im Haus vor, frisch aus der Badewanne gestiegen, so ahnungslos … Zuerst dachtest du, ich wäre Manfred …«

»Lass sie ihn Ruhe!« Unwirsch stieß Manfred seinen Bruder weg. Wenige Momente später wurde er von den beiden Lakaien eisern umklammert, er schaffte es nicht, sich loszureißen.

Höhnisch lachte Kurt auf, trat selbstgefällig heran, versetzte seinem Bruder einen kräftigen Schlag in die Magengegend, traf präzise den Solar Plexus. Manfred blieb die Luft weg, er sackte zusammen.

Mary fiel neben ihrem Mann auf die Knie. »Manfred«, wisperte sie ängstlich.

»Keine Sorge, meine Liebe. Du bekommst auch noch, was dir zusteht«, warf Kurt ein.

Marys Hände zitterten, ein Schluchzer entfloh ihrer Kehle. Sie wich zurück, rappelte sich zittrig an der Wand empor.

»Nun, Bruderherz, wo ist die Formel?«

Manfred kauerte am Boden, erholte sich langsam vom gezielten Hieb. Abwehrend schüttelte er den Kopf.

»Ich will deine Aufzeichnungen!«

Manfred sah schwer atmend zum Bruder empor. Kurts kühle graue Augen musterten ihn scheinbar bis in die letzte Pore hinein. Wie können wir derart einander ähneln, und im Wesen grundverschieden sein? »Ich hab sie … zerstört, an Markus’ Todestag. Du hättest dir etwas Besseres, als eine Überdosis einfallen lassen sollen. Vielleicht einen Autounfall … Darin hast du mehr Übung, zumindest in Österreich.«

»Längst nicht genug! Du hättest damals mit im Wagen sitzen sollen! Nicht nur unsere Eltern!«

Wie bitte? Ich auch!? »Monster!«, stieß Manfred entrüstet aus.

Kurt riss ihn an den Haaren hoch.

Mary schrie auf. Ein Lakai schlug ihr heftig ins Gesicht und brachte sie zum Schweigen. Sie prallte besinnungslos auf den grünen Fliesenboden.

»Mary!«, rief Manfred entsetzt. Er wollte zu ihr, wurde vom zweiten Kerl zurück­gehalten.

»Was findet sie bloß an dir?« Kurt verzog den Mund.

»Das wirst du nie verstehen.«

»Das will ich auch nicht. Glaub mir, Familie spült einen weich. Darauf kann ich verzichten. Dein Freund Markus wollte ebenfalls das große Geld. Er hat leider nicht bedacht, dass ich nie teile. Mit niemandem.« Kurt lachte laut auf. Sein Lachen berührte weder das Herz, noch erreichte es die Augen. »Also, spiel keine Spielchen. Ich kenne dich! Niemals, mein edler Samariter, würdest du eine derartige Entdeckung der Menschheit vorenthalten. Außerdem warst du nie ein guter Lügner.« Sein Gesicht wurde verschlossen und unnahbar. »Ich bin mir sicher, dass du die Formel versteckt hältst. Sandy natürlich auch. Hast du dafür die Zeit genutzt – und bist selber nicht mehr rechtzeitig fortgekommen, um vor mir zu fliehen? Wo befinden sich die beiden Dinge, die ich haben möchte?«

Mary japste, sie war zu sich gekommen. »Bitte, verschone das Mädchen … Bitte …«, bettelte sie im weinerlichen Ton.

Wenn es nur so gewesen wäre … Ich Idiot, hab meine Familie ins offene Messer laufen lassen! Manfred biss sich auf die Lippen. Er schwieg. Abschätzend betrachteten die Brüder einander.

»Sieh dir dein Weib an. Willst du, dass sie länger leidet? Ist das dein Beweis von Liebe?«, höhnte Kurt.

»Du hast keine Ahnung davon, was Liebe bedeutet«, entgegnete Manfred rau. Ich ebenso wenig, sonst hätte ich nicht die Forschung an die erste Stelle meines Lebens gerückt. Nun ist es zu spät, diesen Fehler umzukehren.

»Deine Liebe hat dich dumm und schwach gemacht. Wie fühlt es sich an, zu wissen, dass du weder von Mario noch von Sandy der Vater bist?«

»Mary hat mich zum glücklichsten Mann gemacht.«

»Du bist ein unfruchtbarer Waschlappen! Sag, wie lebt es sich mit einem leeren Sack zwischen den Beinen?«

In Manfreds Gesicht zuckte ein Muskel. »Darüber hast du dich bereits in der Schule köstlich amüsiert. Jedem erzählt, dass ich ein Eunuch wäre.«

»Meine Stichelei hat dich erst zur Forschertätigkeit getrieben. Deswegen hast du daraus eine wahre Affinität entwickelt. Der große Manfred Berger überlebte knapp seine Krebserkrankung, und durch seine herausragende Leistung wird er nun zum Heiler für Abertausende von Menschen. Bruder, mir kommt das Kotzen.«

»Ach, ist der Artikel in Kanada erschienen?«

Kurt prustete los. »Überschätz dich nicht. Dein Freund Markus war so nett, ihn mir zu­kommen zu lassen.«

»Markus, niemals! Das glaube ich nicht!«

»Bist du dir so sicher?«

Manfred ließ den Kopf hängen. Markus? Ich hab ihm vertraut. Hat er tatsächlich …? Er wollte den Gedanken nicht weiterverfolgen. Das hat keine Relevanz mehr. Am besten wäre es gewesen, wenn niemand außer mir irgendwelche Details der Forschung gekannt hätte. Dann würde Markus noch leben und ich – wir – nicht dem Tod ins Auge blicken. Wäre ich bloß nie Forscher geworden … Kaum wahrnehmbar schüttelte Manfred den Kopf. Ein absurder Gedanke. Ich will Leben retten, wollte nie etwas anderes! Deshalb werde ich Kurt die Formel nicht wie auf einem Präsentierteller servieren. Niemals könnte ich es verantworten, dass weitere Menschen durch meine Schuld ihre Existenz aufs Spiel setzen, süchtig werden oder schlimmer noch: sterben …

Mary fuhr sich über die Wange, sie spürte eine schmerzhafte Schwellung am Jochbein. Sie schluckte. Vorsichtig zog sie sich an der Holzkommode empor, fühlte ihre schwammigen Beine, die sie kaum zu tragen schienen. Keinesfalls werde ich kampflos sterben … Oder mich stundenlang quälen lassen!

Sie lehnte an der Kommode, spürte im Rücken die Lade, in der die Messer lagerten. Die maskierten Kerle hielten ihre Waffen schussbereit. Einer zielte auf Manfred, der andere in ihre Richtung. Mary erinnerte sich an die schier endlosen Stunden, als Kurt sie brutal vergewaltigt hatte. Seine kalten durchdringenden Augen blieben unvergessen, waren in ihr wie eine Säure eingebrannt.

Ohne Manfreds Beistand wäre ich tot, hätte mich ins Jenseits befördert, um die Erniedrigung zu vergessen. Wahllos kombinierte und schluckte ich sämtliche Medikamente, die ich finden konnte … Sogar noch eine alte Schachtel eines Schlafmedikaments der Ur-Oma gab es in den Tiefen einer Lade. Dass sie abgelaufen war, spielte keine Rolle. Manfred hat mich rechtzeitig entdeckt, seinen Finger in meinen Rachen gesteckt. Ich erbrach den Großteil der geschluckten Tabletten.

Wie ich ihn anfangs dafür gehasst habe! Doch als mein kleiner Sohn mit tränennassem Gesicht mich am Krankenbett besuchen kam, wusste ich, dass ich mich nicht heimlich aus dieser Welt fortstehlen darf. Viele schöne Jahre haben Manfred und ich miteinander verbracht. Nach außen hin, denn im Hintergrund lauerte die Gefahr, schwelte in mir wie ein Geschwür mit der Gewissheit, dass Kurt wiederkommen würde. In all der Zeit ist Mario ein junger Mann sowie Sandra ein bildhübsches Mädchen geworden. Nur Sandys Augen erinnern mich manchmal an Kurt. Auch wenn sie weniger kühl und berechnend, sondern wissbegierig und voller Lebenslust sind. Kurt darf nicht gewinnen!

Mary schaute zum Lakaien, der sein Augenmerk auf die anderen Männer gelegt hatte. Jetzt! Ihre Finger tasteten nach der Lade, das achtsame Öffnen ging im Geräusch ihres heftigen Atems unter. Mit der Klinge voraus stürzte sie auf den Kerl. Sie traf ihn am Oberarm.

Mit einer raschen Bewegung entwendete der Gegner ihr das Messer. Blut tropfte von ihm herab. »Schlampe!«

»Nein! Was tust du?« Manfred kämpfte gegen seinen Peiniger.

»Sag ihm kein Wort … Kein Wort … Ich liebe dich, Manfred … Ich liebe dich!« Sie trat dem Lakaien zwischen die Beine. Der Kerl gab sie mit einem lauten Stöhnen abrupt frei. Mary stolperte und schlug hart am Boden auf. »Um Gottes willen!«, kreischte sie, als eine Hand ihren Knöchel erfasste und sie grob zurückzog.

Eine große Pranke legte sich auf ihre Stirn, drückte den Kopf an seinen breiten Brustkorb, und der Stahl durchtrennte ihre Haut am Hals. Der Schmerz war ein kurzes Aufflackern im Gehirn, ehe sie mit einem gurgelnden Laut auf die Fliesen prallte. Ein metallischer Ton erklang. Das Medaillon, das auf einer Kette um ihren Hals gebaumelt hatte, kullerte zur Seite.

»Bist du verrückt, mein schönes Druckmittel!« Aufgebracht warf Kurt seine Zigarre achtlos auf den Boden.

»Mary! Mary!« Manfred riss sich los, er stürzte zu ihr hin. Hilflos hob er Marys Kopf. Ihr Blick ging starr nach oben. Obwohl er ihre Wärme fühlte, war kein Leben mehr in ihr. Seine Hände wurden vom Blut besudelt, das unaufhörlich aus der Wunde schoss. Ihre Kehle und die Halsschlagader waren durchtrennt. Ungläubig starrte er sekundenlang die rote Flüssigkeit an, die sich um ihn herum ausbreitete. Jäh fuhr er empor, stürzte sich in seiner Wut auf Kurt. »Mörder!«

Manfred war kein ausgebildeter Kämpfer, sondern ein Forscher. Mühelos ging der maskierte Kerl dazwischen, nahm ihn erneut in seine Gewalt, ehe er Kurt richtig getroffen hatte. Manfreds Beine sackten unter ihm weg. Er kniete auf dem Boden, starrte auf seine tote Frau, während er an den Armen fixiert wurde.

»Eigentlich wollte ich länger mit Mary spielen. Dennoch, allein für ihre Anzeige, damals bei der Polizei, hat sie den Tod verdient. Wir werden diese Farce hier besser abkürzen, es fängt an zu nerven. Ich gebe dir eine letzte Chance. Wenn du mir die Formel verrätst, verzichte ich auf Sandy.« Kurt grinste. »Das ist fair, oder?«

»Sandy ist nicht hier, und die Aufzeichnungen sind zerstört!«, spie Manfred heftig aus.

Kurt packte seinen Bruder an dessen Hemdkragen. »Glaub mir«, zischte er bedrohlich, »dein Widerstand mag dir im Moment edel vorkommen, aber ich kenne Alternativen, die mich für dein absurdes Schweigen entschädigen werden!«

»Alternativen, welche Alternativen?«, flüsterte Manfred verwirrt.

»Deine Tochter. Ähm … meine Tochter, zum Beispiel.«

»Die ist nicht da!«

»Hast du eine Ahnung, wie viel Geld gewisse Männer mir für eine kleine Jungfrau bieten?«

Manfred biss sich auf die Unterlippe. Bald schmeckte er sein eigenes Blut auf der Zunge. »Du willst Sandy meistbietend verkaufen? Darum geht es dir? Du bist krank!«

»Du kannst also damit leben, oder sollte ich sagen, mit dem Wissen sterben, dass du mit der Forschung deine Familie ins Verderben gestürzt hast?«

Manfreds Blick flackerte wehmütig. Mary lag mit gespenstisch fahlem Gesicht auf dem Boden. Die Blutlache um sie herum hatte sich ausgebreitet, fing an zu stocken. »Du bist ein zu großer Hosenscheißer, um mich eigenhändig umzubringen, da tief in dir die Gewissheit steckt, dass wir Brüder sind.«

Kurt holte aus, schlug Manfred hart ins Gesicht. »Deine Predigt wird dir nicht mehr helfen! Glaub mir, ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass die süße Sandy die richtigen Lektionen lernt. Verlass … dich … drauf! Sie soll auf dieselbe Weise leiden, wie ich als Kind gelitten habe. Und weißt du wieso? Weil ich dich hasse! Du warst stets der gut behütete, kleine Prinz. Sobald du den Mund aufgemacht hast, standest du im Mittelpunkt. Statt dich ausgiebig zu quälen, gefällt mir der Gedanke, dass Sandy bald in meiner Gewalt ist, bedeutend besser. Und ich weiß, dass dich das von allen Dingen am meisten peinigen wird.«

»Sie kann nichts dafür. Sie ist unschuldig!«

»So unschuldig, wie ich einst war!« Kurt stieß ihn weg, strich seine Jacke glatt, als könnte er damit den inneren emporsteigenden Ekel ebenfalls entfernen.

»In Ordnung, ich gebe dir die Aufzeichnungen, alles. Bloß nicht das Mädchen!«

Kurt blickte auf seine goldene Armbanduhr. »Deine Zeit ist abgelaufen. Ich habe kein Interesse mehr daran.«

»Die Formel ist nicht weit entfernt, ein paar hundert Meter …«

»Du willst mich aus dem Haus locken, damit das Mädchen fliehen kann. Glaub mir, egal welches Angebot du in deinen letzten Lebensminuten aussprechen würdest, es wird mich nicht mehr umstimmen.«

»Du vergisst, wie viel du damit verdienen könntest! Ob als Arznei oder für … für deine Drogengeschäfte. Alles, was neu ist, verkauft sich fast von selbst.«

Kurt lachte. »Geld habe ich mehr, als ich in zwanzig Leben ausgeben könnte. Obwohl, vielleicht tröstet es dich, dass ich dir anfangs bloß eines auswischen wollte. Aber hier, in diesem Haus, prasseln so viele Erinnerungen auf mich ein.«

»Du lehnst es ab, um mich weiter zu quälen!«

»Erfasst Bruder, endlich hast du es erfasst!« Kurt trat nah heran.

Verächtlich starrten sie einander an. Sie waren Feinde. Manfred spürte Kurts Atem, der ihm heiß ins Gesicht wehte. Er wich nicht ab. Obwohl sein gesamter Körper schmerzte, versuchte er, sich aufzurichten. Manfred wusste, dass es kein Erbarmen gab. Er konnte höchstens darauf hoffen, dass sie Sandy nicht finden würden. Er liebte das Mädchen wie sein eigenes Kind. Allerdings ist Kurts Jagdinstinkt geweckt, das verheißt nichts Gutes. Und er hat recht, allein daran zu denken, quält mich mehr, als ich jemals in Worte fassen könnte.

»Gib mir das Messer!«, wies Kurt den verletzten Lakaien an, der mittlerweile einen Stoffstreifen aus seinem schwarzen T-Shirt herausgeschnitten und über die blutende Wunde geschlungen hatte.

Kurt umklammerte hart den Griff, setzte die Klinge an Manfreds Hals an. »Übrigens, niemand nennt mich ungestraft einen Hosenscheißer!« Er ritzte die Haut auf, sogleich floss Blut in Rinnsalen aus der kleinen Wunde.

Manfred hielt still, obwohl die Klinge scharf in sein Fleisch schnitt. »Du wirst für alles büßen, dessen bin ich mir sicher.«

»Denkst du, ich hätte mich ganz nach oben gearbeitet, wenn es in meinem Leben Skrupel gäbe?« Kurt lachte freudlos. »Ich bin vielleicht ein kleinwenig aus der Übung. Falls du etwas sagen möchtest, dann sag es jetzt, oder schweige für immer.«

»Weißt du, was ich wirklich bereue? Dir als Kind das Leben gerettet zu haben. Damals hätte ich dich in der eingestürzten Höhle verrotten lassen sollen. Bruder.«

Kurt stach zu. Manfred rang nach Luft, Angst überflutete ihn. Instinktiv wollte er mit den Händen nach oben fassen. Er wurde eisern festgehalten. Noch lebte er, spürte den Schmerz, der durch den Körper raste. Sein Bruder war blass zurückgetreten. Er hielt kein Messer in der Hand, also steckte es in seinem Hals. Unaufhörlich näherte sich die Schwärze. »Hosenscheißer«, presste Manfred mit einem letzten Atemstoß aus.

Der Komplize erledigte den Rest. Mit einer gezielten Bewegung brach er Manfreds Genick. Der Körper fiel nach vorne, zuckte ein paar Mal unkontrolliert.

»Sichert die Ausgänge!«, rief Kurt wütend. Er brauchte einen Augenblick alleine. Die maskierten Kerle folgten sogleich seiner Anweisung. Tief atmete er durch, als die Lakaien den Raum verlassen hatten.

»Warum hast du es dir bloß so schwergemacht?« Kurt kniete neben dem Bruder nieder, strich das aschblonde Haar zurück, das dieselbe Farbe wie seines hatte. »Ja, du hättest mich verrotten lassen sollen. Dann wäre ich Vater und all meinen beschissenen Erinnerungen entflohen. Du wusstest es nicht, oder? Mutter schon. Nacht für Nacht kam der pädophile Arschficker in mein Bett gekrochen und steckte sein Ding in mich rein. Bei dir hat er sich nie getraut. Du warst ja so arm und krank. Mamas Prinz …« Kurt ächzte verstimmt, entdeckte auf dem Boden die Brasil.

Er hob die Zigarre auf, befand sie für gut und entzündete sie neu mit einem Streichholz. Er inhalierte den Rauch und versuchte, seine aufkeimenden Emotionen zu vertreiben. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass Gefühle einen schwach werden ließen. Niemals hätte ich es sonst geschafft, mir als Mister Night einen Namen zu machen. Ich – Kurt – aus einem mickrigen Nest mitten im Herzen Österreichs. Nun bin ich kein Niemand mehr, sondern werde geachtet. Hart habe ich dafür gekämpft.

Kurt verließ den Essraum. Er verschaffte sich einen Überblick der Räumlichkeiten. Seine Männer hatten die Zimmer durchforstet, Matratzen aufgeschlitzt und Wäsche aus den Schubladen befördert. Abfalleimer waren umgedreht, Blumentöpfe zerborsten, Vasen zerschmettert. Bücher lagen verstreut vor den Regalen. Er trat achtlos auf Blüten, Blätter und Erde, kontrollierte jeden Schrank, fand Dokumente, die für ihn ohne Belang waren.

»Formel und Mädchen unauffindbar, ich hätte schwören können …« Achtlos warf er eine Keramikfigur, die er sich nicht genauer besah, auf den Fußboden, wo sie zerschellte. Obwohl … Kurt hielt inne, bemerkte einen am Boden liegenden Reisepass. Er hob ihn auf, öffnete diesen. Sandras Pass! Kurzerhand steckte er ihn ein. Er ging zurück in den Vorraum, da fiel sein Blick auf eine Holztruhe, die mit Kleidungsstücken zum Teil verdeckt war. Hat darin noch niemand nachgesehen? Er eilte darauf zu.

Sandra kauerte in ihrem Versteck. Geschockt, verwirrt … Ihre Faust im Mund, um die aufsteigenden Schluchzer zu dämpfen. Was haben sie gesagt? Mum war in einem freizügigen Eta… Eta irgendwas? Paps soll unfruchtbar, und ich Kurts Tochter sein? Wie konnten meine Eltern mich lieben und umarmen? War Mama deshalb an meinen Geburtstagen oft so bedrückt?

Sandys Körper bebte unkontrolliert. Mit einer Hand umklammerte sie ihre goldene Kette. Die Wangen waren klitschnass von ihren Tränen, über den Rücken rann Schweiß. Durch die feinen Ritzen in der Truhe konnte sie ihre Mutter sehen, die bewegungslos auf dem Boden lag, umgeben von Blut, verdammt viel Blut …

Ringsum klang es so, als würden die Kerle die gesamte Einrichtung des Hauses kurz und klein schlagen. Flieh!, geisterte es durch ihren Kopf. Ich kann nicht! Statt den Deckel anzuheben, schloss sie matt die Augen. Sei still, egal was passiert, formte sie tonlos mit den Lippen die Worte ihres Vaters. Verzweifelt verbarg sie das Gesicht hinter den Händen. Sind mittlerweile Minuten oder Stunden vergangen? Sie sollen verschwinden … Bitte, guter Gott …

Sandy erschrak, als sie über sich ein Geräusch hörte. Nun ist alles aus! Sie rollte sich weiter zusammen, hielt unbewusst den Atem an.

»Wir sollten los, bevor uns jemand entdeckt!«

Nach dem autoritären Klang der Stimme konnte es nur Kurt sein. Er musste unmittelbar neben ihrem Versteck stehen.

»In Ordnung«, kam es zurück.

Sandy schluckte, tiefer Hass schoss empor. Mörder! Sie biss die Zähne zusammen, um nicht laut loszuschreien.

»Also, Abmarsch … Und draußen legen wir ein Feuerchen, um alle Spuren zu verwischen.«

Feuer! Nein! Sandra riss die Augen auf.

Die Entführung

Die Haustür wurde zugezogen, kratzte dabei hörbar über den Fliesenboden. Sandy verharrte horchend. In ihren Ohren rauschte der rasende Puls. Vorsichtig traute sie sich aus ihrem Unterschlupf. Sie schob den Deckel hoch, einige Kleidungsstücke fielen herab, die ihr Versteck getarnt hatten.

Ungelenk kletterte das Mädchen hinaus. Es spürte die Steifheit der Gliedmaßen, bedingt durch die unbequeme Position im Inneren der Truhe. Sandra schluchzte, trocknete ihr Gesicht notdürftig mit dem T-Shirt und hinterließ dunkle nasse Flecken darauf.

»Mama? Papa?«, hauchte Sandy heiser, obwohl ihr bewusst war, dass beide nicht mehr leben konnten. Ich muss sie sehen, aus nächster Nähe, um es zu begreifen. Langsam bewegte das Mädchen sich vorwärts, der Blutlache entgegen. Es erblickte die Eltern, unnatürlich verdreht am Boden, die Augen starr und voller Qual aufgerissen, als würden sie eine stumme Anklage in die Welt schreien.

Sandra stützte sich zittrig an der Wand ab, versuchte, nicht in die blutige Pfütze hineinzutreten, bis ihre Beine den Dienst versagten und sie auf die Knie sank. Sie krabbelte zu ihrer Mutter hin. Zumachen! Zumachen! Sandy ertrug nicht länger dieses Starren, fuhr mit bebender Hand über die Augenlider, um sie zu schließen.

»Kein … kein Wort wird er … erfahren«, brachte sie stockend hervor.

Ein Schatten hinter dem Fenster ließ sie zusammenzucken. Mist! Sie wollen alles abfackeln!, schoss es ihr. Sandys Blick fiel auf Mutters Medaillon, das unter der Kommode hervorlugte. Bebend griff sie danach. Es war aufgesprungen. Sandra sah in der Herzform ein Foto aus einst glücklichen Tagen: ihre Familie, lächelnd, alle vier … vereint.

Sandy drückte es entschlossen zu, löste ihre eigene Goldkette vom Hals, deren Glieder an einen zierlichen geflochtenen Zopf erinnerten. Sie schaffte es, mit zittrigen Fingern das Medaillon aufzufädeln, das neben dem schlichten goldenen Kreuz Platz fand. Mit der Hand umschloss sie das Herzmedaillon mitsamt dem Anhänger.

»Ihr werdet immer bei mir sein«, flüsterte Sandra. Sie rappelte sich empor, hielt kurz inne, bis die schwarzen Punkte vor ihren Augen verschwanden. »Reiß dich zusammen!« Brandgeruch schob sich in ihre Nase. Ich muss hier raus! Vor dem Fenster stiegen erste Rauchschwaden auf.

Hilfe … Hol Hilfe! Sandra griff instinktiv in die hintere Hosentasche, in der sie zumeist ihr Handy verstaut hatte. Leer – Mist! Wo hab ich es hingetan? Sie konnte sich im Wirrwarr ihrer Gefühle nicht daran erinnern. Sandra rannte in den Vorraum, starrte einen Augenblick benommen auf das heillose Durcheinander. An der Wand lugte ein loses Kabel hervor. Sie hatten das Telefon heraus­gerissen.

Zum Nachbarn! Mario anrufen … Polizei! Sandy lief zur Hintertür, riss sie auf, prallte gegen einen Männerkörper.

»Feuer treibt jegliches Ungeziefer aus. Das ist nach meinem Geschmack, läufst mir direkt in die Arme. Weißt du, ich hätte dich aus der Truhe ziehen können, aber es gibt Umstände im Leben, da sollte man nicht den einfachen Weg verfolgen, sondern mit Strategie vorgehen, um den Reiz zu erhöhen.«

Sandra erschauerte. Im ersten Moment dachte sie, es wäre ihr Vater. Dieser eisige Blick … Sie blieb erstarrt stehen. Hart packte Kurt das Mädchen an der Schulter.

»Hilfe!«, rief Sandy aus einem Impuls heraus, obwohl der nächstliegende und einzige direkte Nachbar, Herr Schmied, eine Kehre weiter wohnte, die nicht einsehbar war.

Kurt verschloss ihren Mund fest mit seiner Hand, zog sie ein Stück vom Gebäude weg. Zu den Seiten züngelten Flammen hinauf, begleitet von einem Prasseln, Fauchen und Zischen des Feuers.

»Hör auf, dich zu wehren! Oder bist du so dumm, dass du mit Mary und Manfred verbrennen willst?« Kaum hatte er ausgesprochen, fluchte er. »Au, du verdammtes Biest, du hast mich gebissen!«

Er verpasste ihr eine Ohrfeige. Sandras Kopf flog zur Seite. Deutlich blieben Fingerabdrücke auf der Wange zurück. Tränen füllten ihre Augen, vor Wut und Zorn, nackter Panik und Hass. Sie wollte keine Schwäche zeigen, presste ihre Lippen hart aufeinander, unterdrückte jeglichen Laut.

»Du hast mehr von mir, als ich dachte.«

Niemals!

Kurt zerrte Sandra zu der schwarzen Limousine, die am Straßenrand parkte. Er stieß sie in den Fond des Wagens, zog seine Pistole aus der Tasche und zielte auf das Mädchen.

Niemand bemerkte den Mann, der sich im Schutze eines Baumes verbarg. Er hob kurz die Hand und sein Hund setzte sich erwartungsvoll neben ihn. Der Münsterländer visierte sein Herrchen an, wartete auf ein weiteres Kommando.

Die Kerle sind bewaffnet! Und grad heut hab ich mein Jagdgewehr nicht dabei, haderte Herr Schmied. Erschrocken zuckte er zusammen, als er Manfred sah, der seine Tochter zum Auto schleifte. Seit wann ist mein Nachbar derart grob?

Herr Schmied griff zur Brust, hob den Feldstecher empor, der an einer Schnur um den Hals baumelte, um genauer zu sehen. Die Statur passt, das Aussehen auch … Hab ich mich in Manfred so getäuscht? Über all die Jahre? Und diese vornehme Kleidung mitten am Tag! Sonderbar … Irritiert schüttelte er den Kopf. Die dunkle Limousine war ihm fremd. Vorne hatten die schwarz bekleideten Kerle Platz genommen, einer davon war am Arm verletzt. Manfred saß mit Sandra im hinteren Bereich des Wagens.

Die Flammen loderten stärker werdend an der Fassade des Hauses empor. Rasch prägte Herr Schmied sich die Autonummer ein. Er langte in der Innentasche seiner Jacke nach dem Handy, um die Polizei sowie die Feuerwehr zu verständigen. Während der Wagen losfuhr, setzte er den Notruf ab.

Sandy starrte auf die verdunkelte Trennscheibe, die den vorderen Bereich der Limousine vom hinteren abgrenzte, sodass sie nicht hindurchschauen konnte. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, die Fingernägel gruben sich tief in das eigene Fleisch. Sie wollte schreien, weinen, um sich schlagen … Sandra saß wie erstarrt da. Immer wieder schob sich das Bild der toten Eltern in ihre umherwirbelnden Gedanken. Sie lagen inmitten eines blutigen Sees.

Mussten beide wegen der Formel so grausam sterben? Bin ich die Nächste? Hätten die Kerle mich mitgenommen, wenn sie meinen Tod wollen würden? Was haben sie vor? Die Formel aus mir herauspressen? Etwas anderes? – Hast du eine Ahnung, wie viel Geld gewisse Männer mir für eine kleine Jungfrau bieten?, hörte sie Kurts Stimme gedanklich in ihrem Ohr. Sandra schluckte. Das klang bedrohlich, sehr sogar. Wäre da der Tod nicht besser?

»Endlich sind wir vereint: Vater und Tochter.«

»Mein Papa ist Manfred Berger.«

»Er war ein lausiger Vater, ein viel größerer Narr, konnte nicht einmal seine Familie beschützen.«

»Auf so ein Stück Scheiße, wie du es bist, kann jede Familie verzichten«, wisperte Sandy.

Kurts Hand schnellte vor, quetschte ihre Wangen schmerzhaft zusammen. Seine Augen glitzerten kalt. »Du wirst noch lernen, vor mir Respekt zu haben!«

»Bring mich doch um«, presste Sandy hervor.

»Das kann warten. Stattdessen darfst du dich auf meinen Freund Diego freuen. Der ist ganz vernarrt in hübsche, junge Dinger. Da ich nicht die abnorme Leidenschaft meines Vaters – deines Großvaters – teile, wird er dich bändigen müssen. Dabei bleibe ich im Hintergrund, beobachte und genieße, wie er aus dir ein zahmes Lämmchen macht. Und später wirst du in Marys Fußstapfen treten, die einstigen Kunden in London haben ihren Weggang nach Österreich bestimmt bedauert. Bedanken kannst du dich bei deinem V a t e r! Hätte er sich nicht so geziert, würdet ihr alle noch leben.« Er ließ sie los.

Sandy hielt unbewusst den Atem an. Ein eisiges Beben kroch durch ihren Körper, sie schlang schützend die Arme um sich.

»Manfred meinte, die Formel wäre in der Nähe von eurem Haus? Weißt du davon?« Sein Blick war lauernd.

Kein Wort wird er von mir erfahren! Sandra antwortete nicht, sondern drückte sich tiefer in die Ecke der hinteren Sitzbank.

»Glaub mir Kleine, es kommt der Zeitpunkt, da wirst du zwitschern wie ein Vögelchen. Als Mister Night bin ich der Herrscher über die Abgründe der Menschheit«, höhnte Kurt.

Das Mädchen drehte den Kopf zur Seite. Es blickte zum Seitenfenster hinaus. Die Augen waren auf den Mittelstreifen, einen durchgehenden weißen Strich, der Straße geheftet. In Sandys Kehle steckte ein dicker Kloß, der sie kaum atmen ließ.

»Willst du eigentlich wissen, wo ich dich hinbringe?«

Sie zuckte flüchtig mit den Schultern. Spielt das eine Rolle?

»Sieh mich an!« Erst, als er die Waffe in ihre Seite drückte, kam sie seinem Befehl nach.

»Du begleitest mich nach Kanada. Mir wird momentan dieses Pflaster hier zu heiß.«

Sandra versteifte sich unwillkürlich. Nein! Nein! Nein!

»Dein Pass fiel mir sozusagen vor die Füße. Es schien, als hätte er gewartet, von mir gefunden zu werden«, raunte er ihr ins Ohr. Während sein Lachen stetig lauter wurde, schloss sie gequält die Lider und ihr Körper wurde von stummen Schluchzern gebeutelt.

Kurt betrat mit dem Mädchen das riesige Foyer des Grazer Flughafens. Sandy stoppte, starrte auf die monströsen Glasfronten. Zahlreiche Menschen tummelten sich in der Halle. Sie hätte sich im Augenblick nicht verlorener fühlen können. Der verletzte Kerl war beim Auto geblieben, der andere kümmerte sich um das Gepäck seines Bosses. Kurt umfasste hart Sandras Handgelenk. »Sei brav!«, zischte er ihr zu, »ansonsten knöpfe ich mir deinen Bruder vor.«

Mario darf nichts zustoßen! Weiß er, dass ihr Bruder in Graz ist, hier studiert? Sandra gab keinen Mucks von sich. Fordernd schob Kurt sie weiter. Ihr Kampfgeist hatte sich, irgendwo zwischen ihrem Zuhause und dem Flugplatz, in Luft aufgelöst. Sandy war versucht, ihre Kette zu berühren. Sie unterließ es, spürte die fremde Last des Herzmedaillons, das mit dem feinen Kreuz ihre Haut sanft streichelte. Aber nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass sie bald nicht mehr in Österreich sein würde.

Kurt besorgte die Bordkarten. Nach einer gefühlten ewigen Wartezeit, die sie schweigend verbrachten, begaben sie sich zum Gate 9. »Mach keine Faxen!«, drohte er mit Nachdruck.

Nur mit Mühe konnte Sandra ihre Tränen verbergen. Ich will tapfer sein, ich muss tapfer sein, für Mario. Vielleicht rettet der überhastete Aufbruch das Leben meines Bruders. Bitte. Nichts wünsche ich mir sehnlicher. Außer, lass mich aus diesem Albtraum erwachen! Es war kein Traum. Ihre Hand schmerzte, da Kurt sie wie in einem Schraub­stock hielt.

Der Kontrollabschnitt des Tickets wurde an der Perforierung abgerissen. Ein Mitarbeiter der Fluggesellschaft wünschte einen angenehmen Flug. Sandra sah weder nach links noch nach rechts. Sie ließ sich mitziehen, willenlos, unabhängig davon, in welche Richtung er marschierte.

»Na, mein kleines Fräulein, was möchtest du trinken?«

Verwirrt schaute Sandra auf. Vor ihr stand eine Stewardess in blauer Uniform und lächelte sie an. Bei einem Seitenblick aus dem Fenster bemerkte das Mädchen, dass der Flieger bereits abgehoben hatte. Unter ihnen lag ein Wolkenmeer, ausgebreitet wie ein weißgrauer Teppich. Sie fand in diesem Anblick keinen Trost, denn mit jeder Sekunde entfernte sie sich mit der Boeing weiter von ihrer Heimat.

»Hast du Durst?«, hakte die Frau nochmals nach.

»Ein Wasser«, wisperte Sandy. »Bitte.«

»Ein stilles Wasser oder lieber Soda?«

»Still«, mischte sich Kurt ein. »Sie fliegt heute zum ersten Mal«, erklärte er.

»Ach, da bist du wohl etwas nervös?« Die Frau zwinkerte ihr aufmunternd zu, reichte ihr das gewünschte Getränk.

»Danke«, erwiderte Sandra, doch die Stewardess hatte sich bereits umgedreht, widmete sich den Wünschen der weiteren Fluggäste.