Kitabı oku: «Stehaufmenschen», sayfa 2

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Sepp Margreiter bewältigte als Querschnittgelähmter mit dem Handbike die Großglockner-Hochalpenstraße (1) und sattelte als Skilehrer auf den Monoski um (2). Freunde bringen ihn noch einmal auf einen Berggipfel (3) und auch die Musikerkollegen nahmen ihren Sepp im Rollstuhl wieder mit offenen Armen auf (4).

Fotocredit: 1 und 3 Toni Silberberger



ADI SPANNINGER
JAHRGANG 1940

Wie viele Schicksalsschläge kann ein Mensch ertragen, ohne daran zu zerbrechen? Diese Frage hat sich Adi Spanninger nicht nur einmal im Leben gestellt. Als Vierjähriger verlor er seinen Vater, später starb ein Bruder bei einem Unfall und wenige Wochen später eine Schwester durch einen Blitzschlag. Und Adi Spanninger wurde viele Jahre später noch einmal vom Schicksal schwerst getroffen. Der Blitztod schlug in der Familie ein zweites Mal zu, und das auf grausamste Weise: Adi Spanninger verlor dabei seinen eigenen Sohn. Dass ihn trotzdem der Lebensmut nie verlassen hat, schreibt Spanninger seinem unerschütterlichen Glauben zu.

„Es tut mir gut, dort zu sein, wo er den letzten Atemzug getan hat“

Schon als Kind muss Adi Spanninger tapfer sein. Er wächst während des Zweiten Weltkrieges in der Oststeiermark auf und erlebt zahlreiche Bombenalarme. „Ich bin mit meinen jüngsten Geschwistern unter dem Kittel der Mutter im Keller gekauert. Aber gezittert haben wir trotzdem, vor Kälte und vor Angst.“ Die Kinder hören in ihrer Höhle aus Stoff die Bomben fallen und getrauen sich kaum zu atmen, bis das Gedonner der U-52 wieder abgezogen ist.

Doch die klarste Erinnerung hat Adi an den Tag, als die Mutter ihre große Kinderschar anheißt, sich vom Vater zu verabschieden. „Der Vater verlässt uns für immer“, sagt sie, er hat eine so schwere Lungenentzündung, dass es zur damaligen Zeit keine Heilung gibt und er stirbt. Die Kinder beten auf dem Friedhof für den Vater, große Trauer liegt dann auf dem kleinen Bauernhof, der gerade genug abwirft, um die 14 Kinder zu ernähren, die in den letzten 20 Jahren geboren worden sind, alle 18 Monate eines.

„Wie das die Mutter dann gemacht hat, weiß ich nicht, aber wir hatten immer zu essen“, erinnert sich Adi. Die Mutter ist eine sehr starke, gottesfürchtige Frau, die es dauerhaft schafft, ihre Kinder alleine durchzubringen. Und nicht nur ihre eigenen. Eines Tages findet sie in der Nähe des Bauernhauses ein weggelegtes Neugeborenes, das sie zu sich nimmt und wie ihr eigenes Kind aufzieht. Und es werden noch zwei weitere Pflegekinder dazukommen, Kinder, die kein Zuhause haben und die keiner haben will. „Hedwig, nimm du sie, du kannst das“, sagt der Pfarrer, und die Hedwig nimmt auch sie auf und hat dann für nicht weniger als 17 Kinder alleine zu sorgen.

Die starke Mutterfigur ist prägend, für Adi genauso wie für die anderen Geschwister. „Sie hat nie gejammert und nie einen Unterschied zwischen uns Kindern gemacht, alle waren wie ihre eigenen, ganz genau gleich. Wir empfinden das bis heute alle als großes Geschenk und sind auch immer noch in Kontakt“, sagt Adi Spanninger. Auch wenn nicht mehr viele der Geschwister am Leben sind. „Meine Mutter musste bis zu ihrem eigenen Tod insgesamt sieben ihrer Kinder selbst auf den Friedhof begleiten, hinter ihren Särgen hergehen, das war schon sehr hart für uns alle, aber besonders für sie“, erinnert sich Adi.

„Die Mama hat immer verlangt, dass wir alles gemeinsam machen, dass wir zusammenhelfen, dass wir uns mögen und verstehen, anders wäre es auch gar nicht machbar gewesen“, erinnert sich Adi, „der Vater hat ja an allen Ecken und Enden gefehlt.“ Die Kinder müssen schon früh am Hof mithelfen, am Feld das Heu einbringen, beim Dachdecken Handlanger sein, kleine Reparaturen bewerkstelligen. Jeder hat seine Aufgabe.

Diese Ordnung wird zum ersten Mal jäh durchbrochen, als ein Bruder von Adi tödlich verunglückt, von einem Moment auf den anderen ist er nicht mehr da. Die Erinnerung an den Tod des Vaters kommt bei allen wieder hoch, die ganze Schar steht fassungslos am offenen Grab. Und eine Schwester, Maria, sagt: „Hermann, ich komm auch nach.“ Adi kann nicht glauben, was er hört, auch wenn ihm klar ist, dass irgendwann jeder da unten liegen wird. Nur Wochen später wird er diesen Satz von Maria als Vorahnung werten. Denn die Schwester wird von der Feldarbeit nicht mehr lebend zurückkommen – sie wird von einem Blitz getroffen und ist auf der Stelle tot.

„Meine Mutter hat immer gesagt, man muss nicht verzweifeln, es kommt eine Hilfe von oben, es gibt eine höhere Gewalt, tuts nie aufgeben und glaubts daran, das Leben muss weitergehen, auch wenn es noch so tragisch ist“, erzählt Adi Spanninger. Er hat damals die Elektrikerlehre längst abgeschlossen und ist zum Arbeiten ins Ausland gegangen. „Natürlich hatten wir damals auch Träume. Und die Schweiz war gerade in der Nachkriegszeit ein Paradies, da gab es gut bezahlte Arbeit für alle, die etwas leisten wollten.“

Viele sind nach ein paar Jahren mit einer schönen Summe ersparten Geldes aus der Schweiz in die Heimat zurückgekommen. Doch Adi verschlägt es woanders hin. Als der Zug einmal beim Heimfahren mit einem Defekt in Tirol hängenbleibt, bleibt auch Adi hängen – für immer. Er sieht, dass für ein riesiges Kraftwerksprojekt Mitarbeiter gesucht werden, und so arbeitet er künftig im Kaunertal und lernt hier auch seine spätere Frau kennen.

„Ich bin ins Gasthaus ihrer Eltern gekommen, wo sie gearbeitet hat, und es war wirklich Liebe auf den ersten Blick“, erzählt Adi Spanninger mit einem Lächeln. „Meine Mutter war zwar traurig, dass ich nicht mehr in die alte Heimat zurückkehre, aber meinem Glück wollte sie auch nicht im Wege stehen.“ Adi und seine Lydia heiraten und gründen eine Familie, Sohn Günther und Tochter Manuela kommen zur Welt.

„Wir hatten ein anstrengendes Leben. Der Hausbau, meine Arbeit als Werkmeister auf Großbaustellen in ganz Österreich, meine Frau hat inzwischen zu Hause die ganze Familie und die Zimmervermietung geschupft“, erzählt Adi Spanninger, „aber wir waren immer sehr glücklich und auch stolz darauf, was wir geschaffen hatten und wie gut sich die beiden Kinder entwickelten. Beide hatten dann gute Berufe, Günther hat sogar in einem internationalen Konzern Karriere gemacht und uns drei Enkel geschenkt.“

Gleich zu Beginn seiner Pension renoviert Adi Spanninger eine alte, baufällige Kapelle nahe seines Wohnhauses. Es ist eine Dankbarkeitskapelle, in der man zum heiligen Martin betet, ihm dankt für alles, was gut gelaufen ist im Leben. Unzählige Arbeitsstunden hat Adi investiert und das Kleinod aus dem 17. Jahrhundert von Grund auf saniert. „Der heilige Martin ist mir wichtig, hier bin ich oft gesessen und hab danke gesagt, wenn ich wieder gesund heimgekommen bin oder wenn in der Familie alles gut war, ich weiß ja von früher, dass das alles nicht selbstverständlich ist.“

Dann kommt der Tag, der Adi Spanninger vor die härteste Prüfung seines Lebens stellen sollte.

Sohn Günther, mittlerweile 46 Jahre alt und wie er selbst ein begeisterter Wanderer, ist am Berg unterwegs, um für ein kirchliches Jubiläum ein Bergfeuer zu entzünden. Es zieht ein Gewitter auf und ist fast schon wieder weitergezogen, da geschieht das Unfassbare: Günther wird – wie einst Adis Schwester – von einem Blitz getroffen.

Seine Stimme wird fast tonlos, wenn Adi davon erzählt, wie er den Hubschrauber kreisen sah da oben, wie die Schwiegertochter angerufen und gesagt hat, der Günther sei am Berg und sie könne ihn nicht erreichen, und wie schließlich die Notärztin zu Adi gesagt hat, der Blitz sei vom Nacken durch den ganzen Körper gefahren. Sein Günther war auf der Stelle tot, er hat nichts mehr gespürt. „Und ich musste dann nach Hause gehen und meiner Frau klarmachen, was mit unserem Sohn passiert ist, es war einfach schrecklich.“

Acht Jahre ist das Unglück jetzt her, welches das ganze Tal erschüttert hat. Doch Adi und Lydia sind ihrem Sohn immer noch so nahe, als wäre er noch unter ihnen: „Wenn ich irgendetwas Elektrisches arbeite und nicht mehr weiterkomme, dann frag ich ihn, und der Günther hilft immer.“

Fast erinnert es ein wenig daran, wie Adi sonst die Heiligen anruft, die er alle sehr verehrt, die heilige Barbara, den heiligen Martin, den heiligen Antonius, die Muttergottes von Kaltenbrunn.

„Da oben ist es passiert, da auf diesem Bergrücken“, sagt Adi und zeigt hinauf. „Ein Blitz, fast wie aus heiterem Himmel.“ Von ihrer Küche aus sehen Adi und Lydia hinauf zu der Stelle, an der ihr Sohn sein Leben lassen musste – und sie schauen oft hinauf, jeden Tag, wenn der Schnee fällt, wenn die Sonne scheint und wenn es im Frühling wieder grün wird. „Ich war sicher schon hundert Mal oben und hab bei seinem Marterl eine Kerze angezündet. Solange ich gehen kann, werde ich das tun. Es tut mir gut, dort zu sein, wo er den letzten Atemzug getan hat“, sagt Adi Spanninger, der von vielen Menschen immer wieder dieselbe Frage gestellt bekommt: Wie es das gibt, dass er immer noch an den lieben, guten Gott glauben kann, bei all dem Leid, das über seine Familie gekommen ist. „Man fragt sich schon, ja hilft uns der Herrgott denn überhaupt nicht mehr, aber wenn ich denke, was ich selbst in meinem Leben für Glück gehabt habe im Untertagebau, da hätte jeden Tag etwas sein können. Oder wenn ich denke, was der Günther davor schon Glück gehabt hat, dass er nicht schon lange davor gestorben ist, das darf man alles nicht vergessen.“

Auch wenn Günther schon Jahre tot ist – vergessen wird er nie sein. Gerade wurde sein Enkelkind geboren, der Urenkel von Lydia und Adi – und die beiden sind sich sicher: Auch da hat der Herrgott tatkräftig mitgewirkt.

Von seinem Vater Adi hat Günther Spanninger (1/ 2) die Liebe zu den Bergen übernommen, und in den Bergen wurde er durch einen Blitzschlag getötet. In der Pension hat Adi Spanninger eine Kapelle aus dem 17. Jahrhundert renoviert (3). Kraft geben ihm Spaziergänge mit seiner Frau Lydia (4).

Fotocredit: 4 TVB Tiroler Oberland-Kaunertal, Foto Martin Lugger



ZUHAL SOYHAN
JAHRGANG 1965

Wenn man Zuhal Soyhan als Moderatorin im Fernsehen oder auf der Bühne sieht, ist das für viele außergewöhnlich, für manche vielleicht sogar gewöhnungsbedürftig. Die Journalistin sitzt wegen ihrer Glasknochenkrankheit im Rollstuhl. Mit drei Jahren wird Zuhal in der Türkei von einem Erdbeben verschüttet und mit rätselhaften Knochenbrüchen nach Deutschland gebracht. Ohne ein Wort Deutsch zu verstehen muss sie unter Fremden leben und wird schließlich in die „Landesanstalt für krüppelhafte Kinder“ eingeschult. Heute sagt sie: „Dieses Erdbeben war für mich trotz allem ein Riesenglück, denn heute führe ich genau das Leben, das ich mir erträumt habe.“

„Die Größte bist du ja nicht gerade, aber du bist ein Gesamtkunstwerk“

Zuhal Soyhan ist eine überaus fröhliche Person. Sie ist schlagfertig, witzig und geistreich. „Ich bin jetzt auch schon ein paar Tage auf der Welt und ich habe mich mit meiner Behinderung ganz klar arrangiert, aber es ist bestimmt ein großes Paket“, sagt sie über ihr bisheriges Leben, das ihr mehr als nur ein paar Stolpersteine in den Weg gelegt hat.

Bis zum Alter von drei Jahren gilt Zuhal als vollkommen gesund. Sie lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste. Bei einem Erdbeben im Jahr 1969 stürzt das Haus der Familie ein und das kleine Mädchen wird unter den Trümmern begraben. Erst sieben Stunden später kann Zuhal geborgen werden, und alle halten die Dreijährige für tot. Sie wird aufgebahrt und nach muslimischem Ritus gewaschen – da schlägt Zuhal plötzlich die Augen wieder auf und beginnt zu brüllen.

Dass die Dreijährige das schwere Erdbeben überlebt hat, zeigt schon früh ihre zähe Natur. Zuhal erleidet durch die herabstürzenden Trümmer zahlreiche Knochenbrüche. Als diese nicht normal heilen wollen und sich die Knochen stattdessen wie Wachs verformen, stehen die Ärzte vor einem Rätsel.

In ihrer Verzweiflung lässt die Familie die kleine Zuhal nach Deutschland bringen, wo ein Onkel als Gastarbeiter lebt. Aber auch dort ist die sehr seltene Glasknochenkrankheit noch relativ unbekannt. Sie gilt als eine erst spät erforschte Krankheit, die Betroffene heute lieber als „Behinderung“ definiert sehen, da sie durch eine Genmutation entsteht. Hauptmerkmal ist das Fehlen eines bestimmten Kollagens, das zu einer abnorm hohen Knochenbrüchigkeit führt. Oft bleibt es in den ersten Jahren unerkannt, dass Kinder sogenannte Glasknochen haben.

Für Zuhal ist es also ein riesiges Glück, dass sie nach dem Erdbeben nach München kommt. Sie wird in ein Krankenhaus gebracht – drei Jahre alt, mutterseelenallein: „Meine Eltern haben mich dort abgeliefert und sind gegangen. Und dann lag ich mit 15 Kindern in einem riesigen Schlafsaal. Ich konnte die Sprache nicht, also habe ich auch nicht gewusst, was da um mich herum passiert. Aber ich war offensichtlich immer schon ein vernünftiges Kind, und meine Eltern haben gesagt, das muss jetzt so sein, die machen dich wieder gesund, das musst du jetzt aushalten.“ Zuhal ist folgsam, aufmerksam und klug, und so dauert es nicht lange, bis sich bei der kleinen Patientin der Schalter umlegt und sie Deutsch anstatt Türkisch spricht: Ich bin eines Tages aufgewacht und hab gesagt: „Ich hätte bitte gerne Tee.“

Aber wie ist das für ein kleines Kind auszuhalten, ohne Eltern, ohne Geschwister, in einem Land fern von daheim? Statt daheim bei Mama sogar in einem riesigen Schlafsaal und jahrelang durchgehend im Krankenhaus? Und kein Trost von den Eltern bei so vielen Operationen und Schmerzen?

„So schlimm war das rückblickend gar nicht“, sagt Zuhal. Es seien alle so lieb mit ihr gewesen – und die Geschichten dieser Zeit sind von viel Einfühlsamkeit und Mitgefühl getragen, vielleicht sogar von Mitleid. Zuhal ist jedenfalls schnell der Liebling aller Schwestern.

Auch die gefürchtete Schwester Euphrosyne mit den Bartstoppeln hat ein Herz für die Kleine aus der Türkei: „Die war ganz korpulent und hat mich immer so an ihren dicken Busen gedrückt, dass ich mir gedacht habe, jetzt stirbst du, ich hab zwar ein Erdbeben überlebt, aber das ist jetzt zu viel für mich“, erinnert sich Zuhal lachend. Dass ihr die Schwester nach den Operationen Bier einflößt, offenbar ein geheimes bayerisches Hausmittel gegen die Übelkeit, zählt für Zuhal zu den liebenswerten Erinnerungen aus dieser Zeit.

Wie auch jene Weihnachten, die sie ganz allein ohne andere Kinder in dem großen Krankenhaus verbringen musste. Da kam eine Schwester und schob ihr ein riesengroßes Puppenhaus in den Schlafsaal. Es hatte Licht und eine Badewanne, in die man sogar Wasser einlassen konnte. Und Zuhal durfte tagelang allein damit spielen. „Das Krankenhaus war wirklich mein Zuhause geworden“, sagt sie, „und ich war das Maskottchen der Station.“

Bis zum neunten Lebensjahr kann Zuhal Soyhan noch gehen, zumindest mit einem Gehwagen, dann sind ihre Beine aufgrund der Glasknochenkrankheit so verformt, dass auch die Ärzte in München nichts mehr machen können. Zuhal bewegt sich von nun an im Rollstuhl fort. Auch im Rückblick auf diesen Moment kommt bei ihr keine Bitterkeit auf: „Ich habe mir gesagt, o. k., laufen ist nicht mehr, dann rollen wir halt. Das ist wahrscheinlich auch so meine Haltung: Die Dinge annehmen, wie sie halt kommen, und wenn ich sie nicht ändern kann, dann ändere ich meine Haltung zu diesen Dingen. Das ist aber etwas, das ich mein ganzes Leben lang immer schon gemacht habe, wenn etwas für mich wichtig gewesen ist. In diesem Fall: Gehen wird total überbewertet. Gemütlich sitzen und dahinrollen ist auch schön“, erklärt Zuhal, wie sie mit den dunklen Momenten immer wieder zurechtgekommen ist.

Besuch von den Eltern aus der Türkei bekommt Zuhal nur selten, mehr hätten sie sich gar nicht leisten können. Weil Zuhal noch viele Knochenbrüche erleiden wird und viele Operationen anstehen, ist ihr Lebensweg klar vorgezeichnet: Sie soll und darf in Bayern bleiben.

Allerdings muss sie hier die einzige Schule besuchen, die jungen Menschen wie ihr damals offensteht, die „Landesanstalt für krüppelhafte Kinder“. Das ist für das Mädchen dann doch ein Schock: In all den Jahren im Krankenhaus sieht sie, wie die Kinder um sie herum wieder gesund werden, doch hier ist alles anders. Alle sind mehrfach schwerstbehindert, können nicht sprechen, nichts eigenständig tun – und mittendrin sitzt die aufgeweckte Zuhal in ihrem Rollstuhl. Dieses Erlebnis hat Zuhal zwar kein Trauma versetzt, aber ihr zum ersten Mal im Leben die Grenzen und Möglichkeiten verschiedener Leben vor Augen geführt: „Ich dachte mir, die sind ja alle viel ärmer dran. Ich war ja immer beweglich, ich konnte überallhin, konnte die Arme heben, konnte selber essen, und dann sehe ich so viele Kinder, die das nicht können.“

Zuhal fühlt schon damals große Dankbarkeit, dass sie diese und nicht eine andere Form der Behinderung hat. Auch wenn ihr bis zur Pubertät rund hundert Mal Knochen brechen werden. Sie halten einfach nicht viel aus, bei Zuhal hat schon die Anspannung durch einen schlechten Traum für einen Bruch des Oberschenkelknochens ausgereicht. Die Schmerzen sind jedes Mal so heftig wie bei einem gesunden Menschen mit starken Knochen, da gibt es keinen Unterschied.

Die Schuljahre in der „Krüppelschule“ lässt Zuhal über sich ergehen, geduldig, aber faul. Heute würden Pädagogen sagen, das Mädchen ist eindeutig unterfordert mit dem Lehrstoff, der dem der damaligen österreichischen Sonderschule ähnelt. Aber in den 1970er-Jahren, Lichtjahre von Inklusion entfernt, wird der jungen Frau mit den Glasknochen nicht viel zugetraut: Telefonistin vielleicht oder Hinterglasmalerin, das kann man beides im Rollstuhl ausführen.

„Ich will diese Berufe keinesfalls abwerten, aber irgendwie hat es da bei mir Klick gemacht“, erinnert sich Zuhal. Sie beschließt, sich nicht mehr von ihrer Behinderung ausbremsen zu lassen. Und sie will sich nicht einmal mehr die Zeit geben, darüber nachzudenken: „Jetzt bist du halt da, du Behinderung, wir versuchen, uns zu arrangieren, aber mein Fokus liegt darauf, das Leben einer normalen jungen Frau zu führen.“ Zuhal formuliert damals einen kühnen Wunsch: „Ich will das Abitur nachmachen, studieren und Journalistin werden.“ Das entlockt dem Herrn vom Arbeitsamt zwar nur ein müdes Lächeln, aber die staatliche finanzielle Unterstützung erhält Zuhal Soyhan dennoch – die ehrgeizige junge Frau mit der Glasknochenkrankheit, die nur 1,30 Meter groß ist, dafür aber ausgestattet mit einem riesenhaften Selbstbewusstsein.

Und Zuhal geht ihren Weg. Sie macht das Abitur, den Führerschein („Man stelle sich vor, damals musste ein körperbehinderter Mensch noch zum Psychologen, der meinte zuerst, ich sei psychisch zu instabil!“) und ein Studium der Politikwissenschaft. Auch die Deutsche Journalistenschule München absolviert sie ohne Probleme und kommt über ein Ferialpraktikum zum Fernsehen, wo sie bis heute erfolgreich als Redakteurin tätig ist und bei der ARD auch immer wieder eigene Fernsehsendungen moderiert. Damit wird Zuhal Soyhan zu einer Vorkämpferin für die Inklusion behinderter Menschen – ganz selbstverständlich, indem sie immer wieder darauf besteht, nicht an ihrer Behinderung gemessen zu werden.

„Ich muss schon zugeben, dass ich auch sehr angestachelt war, das zu machen, weil mein damaliger Märchenprinz mich nicht wollte“, lacht Zuhal Soyhan rückblickend. „Ich habe fünf Jahre gelitten wie ein Hund. Ich bin über den Status der guten Freundin nie hinausgekommen, weil ich dem Beuteschema der Kerle nicht entsprochen habe. Da hatte ich schon Tiefpunkte in meinem Leben.“

Im Rückblick aber relativiert sich für die meisten Menschen vieles, so auch für Zuhal. Die alten Lieben sind vergessen, die frühen Wunden geheilt und die eigene Biografie hat sie stark gemacht. Nur einmal noch hat die türkischstämmige Frau das Gefühl, jetzt bricht alles über ihr zusammen, und das durchaus im Wortsinn. Genau 30 Jahre nach dem folgenschweren Erdbeben, bei dem sie als Kleinkind verschüttet wurde, ist sie zufällig auf Besuch bei ihrer Familie in der Türkei. Und mitten in der Nacht, nach einer ausgiebigen Feier, bebt erneut die Erde, die Möbel fliegen durchs Zimmer, das ganze Haus wackelt und neigt sich Richtung Erdboden. „So hat dein Leben angefangen, und so endet es jetzt wohl hier“, denkt Zuhal damals, „so schließt sich der Kreis.“ Dann packt sie jemand am Arm und trägt sie aus dem Haus.

Bei diesem Erdbeben im Jahr 1999 zählt die Türkei über 20.000 Tote.

„Ich habe sechs Wochen lang nichts mehr geredet: Ob ich nicht wollte oder nicht konnte, kann ich heute nicht mehr sagen. Aber es war wohl eine Verarbeitung des Ganzen. Es gab auch in unserer Familie Tote, darunter zwei Kinder. Das ist alles etwas, das man besser nicht erlebt, das muss man nicht erleben.“

Ihren wahren Seelenmenschen hat Zuhal damals noch nicht getroffen und sie rechnet auch nicht mehr damit, einen Partner zu finden. Doch eines Tages erzählt ihr eine Freundin von der magischen Kraft der Wünsche und rät ihr zu einem „Wunsch ans Universum“. Zuhal zimmert sich nach einigem Zögern ihren Traummann und bestellt ihn beim Universum: einen intelligenten Menschen, der auf eigenen Beinen steht, der Zuhal so schätzen kann, wie sie ist, und der ihr Wesen erkennt.

„Der ist dann tatsächlich gekommen“, lacht Zuhal, „allerdings habe ich bei meinem Wunsch die örtliche Eingrenzung vergessen, so sind wir vierzehn Jahre jedes Wochenende die 200 Kilometer zwischen Stuttgart und München gependelt, auch noch, als wir schon verheiratet waren. Mittlerweile leben wir aber gemeinsam in München.“

Warum ihr Mann sich nicht hat abschrecken lassen von ihrer Behinderung? „Kennengelernt haben wir uns im Internet, da hat man gewisse Vorteile, weil man zuerst auf einer ganz anderen Ebene kommuniziert. Zuerst die Sprache, dann das Optische, bis dahin hat man hoffentlich schon einige Meter gutgemacht. Als ich ihm meine Behinderung geoffenbart habe, meinte er nur: Die Größte bist du ja nicht gerade, aber du bist ein Gesamtkunstwerk.“

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