Kitabı oku: «Reiten nur mit Sitzhilfe»
DR. BRIGITTE KALUZA
REITEN NUR MIT SITZHILFE
Die wissenschaftliche Grundlage
einer fast vergessenen Kunst
(Foto: Christiane Slawik)
REITEN NUR MIT SITZHILFEN basiert auf zwei Prinzipien – der gegenseitigen Übertragung von Körperschwingungen zwischen Pferd und Reiter und der gegenseitigen, meist unterbewusst erfolgenden Körperwahrnehmung. Entsprechend wird das Reiten mit Sitzhilfen traditionell auch unterbewusst erlernt, vorzugsweise im Kindesalter durch Üben auf einem als Lehrmeister wirkenden Pferd. Die moderne Naturwissenschaft kann jedoch erklären, wie Reiten nur mit Sitzhilfen funktioniert. Wer die Biomechanik der Körperschwingungen von Pferd und Reiter versteht, kann sich die Kommunikation über Körperwahrnehmung bewusst machen und so das Reiten in Bewegungssymbiose mit dem Pferd auch bewusst erlernen.
Haftungsausschluss
Autor und Verlag haben den Inhalt dieses Buches mit großer Sorgfalt und nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt. Für eventuelle Schäden an Mensch und Tier, die als Folge von Handlungen und/oder gefassten Beschlüssen aufgrund der gegebenen Informationen entstehen, kann dennoch keine Haftung übernommen werden.
Sicherheitstipps
In diesem Buch sind Reiter ohne splittersicheren Kopfschutz abgebildet. Dies ist nicht zur Nachahmung empfohlen. Achten Sie beim Reiten bitte immer auf entsprechende Sicherheitsausrüstung: Reithelm, Reitstiefel/-schuhe, Reithandschuhe und gegebenenfalls eine Sicherheitsweste.
IMPRESSUM
Copyright © 2020 Cadmos Verlag GmbH, München
Covergestaltung: Gerlinde Gröll, www.cadmos.de
Layout und Satz: DAS AGENTURHAUS Werbe und Marketing GmbH
Coverillustration: Brigitte Kaluza
Illustrationen im Innenteil, wenn nicht anders angegeben:
DAS AGENTURHAUS Werbe und Marketing GmbH
Lektorat: Agnes Trosse
Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten.
Abdruck oder Speicherung in elektronischen Medien nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.
ISBN: 978-3-8404-1088-8
eISBN: 978-3-8404-6479-9
Sonderedition Pferdebuchdiscount:
ISBN: 978-3-8404-8526-8
INHALT
VORWORT
NEURONALE STEUERUNG
Das Orchester – Gangmuster-Schaltzentren erzeugen die Körperbewegung
Der Dirigent – das Kleinhirn
Der Komponist – die Großhirnrinde
Der Intendant – das limbische System
Teamarbeit
DIE BIOMECHANIK DES PFERDEKÖRPERS
Einfache Modelle – das Pferderücken-Skateboard
Beine: Federn und Pendel
Der Pferderücken – Hydraulik und Dominosteine
Kraftübertragung – Taumelachsen und Kardanwellen
Die Muskulatur – Motoren und Zündzeitpunkte
Gangarten
Die Rolle von Kopf und Hals in der Balance des Pferdes
Die Ganzkörperschwingung
Die Körperhaltung bestimmt den „Betriebszustand“ des Pferdes
Wendungen
Galopp und die natürliche Schiefe des Pferdes
(Foto: Christiane Slawik)
DIE BIOMECHANIK DES REITENDEN MENSCHEN
Das Grundprinzip des Reitens – Gehen zu Pferd
Eingehen auf die Pferdebewegung – dynamische Muskelspannung
Der Federungsmechanismus der menschlichen Wirbelsäule
Das Schwingungszentrum in der Körpermitte
Einwirken – das Pferderücken-Skateboard fahren
Orientierung im Raum für bewegte Reiter und der 1. Hauptsatz der Sitzhilfen
Der 2. Hauptsatz der Sitzhilfen und verschiedene Sitzweisen
Die Synchronisation des Reiters mit der Galoppbewegung
Wendungen reiten und der 3. Hauptsatz der Sitzhilfen
Sättel
Der Zaum – Kontrolle, Anlehnung oder Kommunikation?
GYMNASTIK FÜR DAS REITPFERD
Der Einfluss des Reiters auf die Ganzkörperschwingung des Pferdes
Takt und Dissoziation
Wendigkeit und Versammlung
Geraderichten und Seitengänge
REITEN UND REITLEHREN
Der Ursprung der Bewegungssymbiose: 5000 v. Chr. – 16. Jahrhundert
Die Entwicklung der Reitlehre in Europa: 16. – 18. Jahrhundert
Reittechnik und Reitsport im 19. und 20. Jahrhundert
Reiten im 21. Jahrhundert – die Zeit ist reif!
LITERATUR
(Zeichnung: Brigitte Kaluza)
VORWORT
Reiten funktioniert nach üblicher Vorstellung so, dass der Mensch auf dem Pferd sitzt und dessen Bewegungen durch Zügel- und Schenkelhilfen lenkt und kontrolliert. So wird Reiten heutzutage unterrichtet. Man kann auf diese Weise in der Tat lernen, wie man auf einem Pferd reitet. Man kann auch ein Pferd dazu ausbilden, auf Zügel- und Schenkelhilfen zu reagieren. Diese Reittechnik wird jedoch immer grobmotorisch wirken. In dieser Reitweise transportiert das Pferd den Reiter auf seinem Rücken und reagiert als dessen Befehlsempfänger.
Einige wenige Prozent der Reiter (oft diejenigen, die es als Kleinkinder gelernt haben) reiten jedoch ganz anders, ohne Schenkel und Zügelhilfen. Diese Reiter bewegen sich gemeinsam mit ihrem Pferd. In der Art, wie sich der Rumpf des Pferdes zwischen Sitz und Oberschenkeln des Reiters bewegt, steckt die gesamte Information über seine Bewegung, Gangart, Tempo, Richtung und Biegung. Aus der Art, wie der Reiter mit seinem Sitz und seinen Oberschenkeln das Pferd „umarmt“ und die Pferdebewegung entweder zulässt, mit seiner eigenen Rumpfmuskulatur verstärkt oder blockiert, erhält das Pferd eine direkte und verständliche Information über die Bewegungswünsche des Reiters. Zügel- oder Schenkelhilfen werden bei dieser Reittechnik nur eingesetzt, falls das Pferd ungehorsam ist, aber auf diese Weise gerittene Pferde reagieren so feinfühlig auf die Körperhaltung des Menschen, dass sie sich ganz ohne Schenkel- und Zügelhilfen in die komplexesten Dressurlektionen führen lassen.
Dieses „Reiten nur am Sitz“ ist erlernbar. Eine Methode zum Erlernen dieser Reitweise ist es, in möglichst frühem Kindesalter auf einem möglichst gut ausgebildeten Pferd die Grundlagen dieser Technik zu erfühlen und sich anschließend im Erwachsenenalter mit dem Repertoire der sinnvollen Lektionen zur Gymnastizierung von Pferden vertraut zu machen. Diese Methode hat eine jahrtausendealte Tradition. Die gesamte Reitliteratur der „alten Meister“ von Xenophon (400 v. Chr.) bis Guérinière (18. Jahrhundert) basiert auf diesem Konzept und setzt voraus, dass ein Reitschüler das „Reiten am Sitz“ auf einem ausgebildeten Pferd erfühlt hat und darauf aufbauend nun sinnvolle Lektionen zur Verfeinerung seiner Fertigkeiten und zur Gymnastizierung seines Pferdes erlernen will. Der überwiegenden Mehrheit der heutigen Reiter mangelt es jedoch an der Grundvoraussetzung, denn wer lernt heute noch das Reiten als Kind auf einem Pferd, das dazu ausgebildet wurde, fein auf den Reitersitz als einzige Hilfe zu reagieren?
Als Konsequenz haben wir heute nur einige wenige Prozent „begabte“ Reiter, die das Reiten nur am Sitz beherrschen und daher Zügel- und Schenkelhilfen lediglich ergänzend zur Betonung ihrer Wünsche einsetzen. Demgegenüber steht die überwältigende Mehrheit der Reiter, die ihre Pferde buchstäblich mit Händen und Füßen bearbeiten und dennoch vergeblich nach dieser Leichtigkeit und Harmonie einer gemeinsamen Bewegung suchen. Auch Unterricht bei „begabten“ Reitern hilft wenig, denn diese können ihre Fertigkeit nicht so mit Worten erklären, dass sie für einen „Unbegabten“ nachvollziehbar wird.
Manolo Oliva (Jahrgang 1965) ist in der Doma Vaquera, der Doma Classica und der Alta Escuela zu Hause und einer der zeitgenössischen Reitmeister, die das Reiten „nur am Sitz“ beherrschen. Aus einem Interview der Zeitschrift „Feine Hilfen“ (Heft 20, Dezember 2016) sind folgende Sätze von ihm zitiert (Oliva, 2016): „Wenn man Reitern sagt, dass sie ihre Hände und Beine nicht benutzen dürfen, finden sie meist von ganz allein ihre Art zu sitzen. Man muss gar nicht mehr sagen. Können Sie mir erklären, wie man ein Fahrrad fährt? Nein, können Sie nicht. Aber jeder meint, anderen erklären zu können, wie sie die Balance auf einem Pferd finden. Das ist der zentrale Fehler. Setzt man ein Kind auf den Rücken eines netten, friedlichen Pferdes und sagt ihm, dass es weder seine Hände noch seine Beine benutzen soll, wird es eine halbe Stunde später das Pferd ohne Probleme nach links und nach rechts steuern können, ohne seine Hände zu benutzen. Warum? Weil das etwas ganz Natürliches ist. Das Kind muss nur lernen, über die Bewegungen des Pferdes seinen eigenen Körper zu spüren.“ In diesem Zitat ist bereits alles Entscheidende über das Reiten „nur am Sitz“ gesagt: Weglassen aller Zügel- und Schenkelhilfen und über die Bewegungen des Pferdes den eigenen Körper spüren. Wenn Sie allerdings zur überwiegenden Mehrheit der erwachsenen „unbegabten“ Reiter gehören, werden Sie allein mit diesem Rat nichts anfangen können und stattdessen viele Fragen haben, zum Beispiel: Wie kann man ein Pferd lenken, indem man seine Bewegungen im eigenen Körper spürt? Warum darf man dabei seine Hände und Beine nicht benutzen?
Die gute Nachricht ist – man kann mithilfe der modernen Naturwissenschaft all diese Fragen beantworten (und selbstverständlich auch erklären, wie man Fahrrad fährt). Ein Blick in die moderne Neurobiologie (Kapitel 1 dieses Buches) erklärt, warum wir unsere Hände und Beine beim Reiten möglichst nicht gebrauchen sollten und was es bedeutet, über die Bewegung des Pferdes den eigenen Körper zu spüren.
Versteht man die Biomechanik der Pferdebewegung (Kapitel 2) und deren Übertragung auf den menschlichen Körper (Kapitel 3), so versteht man auch, wie der Reiter die Bewegung des Pferdes mit seinem Körper „lesen“ und steuern kann. Dieses biomechanische Verständnis und das darauf aufbauende Körpergefühl sind dann die Grundlage einer wirklichen Gymnastizierung des Reitpferdes (Kapitel 4).
Vieles in diesen ersten vier Kapiteln wird fremdartig wirken im Vergleich zur heutigen und historischen Reitliteratur, die auf einer jahrtausendealten Kultur aufbaut. Die Reitmeister der vergangenen Jahrhunderte haben viele Zusammenhänge erfühlt, die sie mit der ihnen verfügbaren Wissenschaft noch nicht analysieren konnten. Sie haben, auf dem Wissensstand ihrer Zeit und orientiert an den damaligen Bedürfnissen, viele didaktische Meisterwerke über die Reitkunst geschaffen. Daher ist der letzte Teil dieses Buches (Kapitel 5) einer Analyse der historischen Reitlehren aus dem Blickwinkel der modernen Biologie gewidmet.
In diesem Buch wird häufig Bezug genommen auf die Körperebenen bei Mensch und Pferd.
(Illustrationen: links: shutterstock.com/BioMedical, rechts: shutterstock.com/decade3d – anatomy online)
(Zeichnung: Brigitte Kaluza)
1
NEURONALE STEUERUNG
Warum ist es sinnvoll, sich mit Neurobiologie und Gehirnfunktion zu befassen, wenn man eigentlich „nur“ besser reiten will? Sehen wir uns noch einmal die Problematik an, die seit Jahrhunderten auf dem Gebiet des Reitens und der Reitlehren besteht: Kinder, die noch zu klein sind, um Erklärungen zu verstehen und bewusst zu verarbeiten, lernen Reiten automatisch, einfach durch Erfühlen auf einem kooperativen Pferd. Reitlehrer, die erklären sollen, wie Reiten funktioniert, sprechen von Schenkel- und Zügelhilfen, aber wenn sich Erwachsene beim Reitenlernen an diese Instruktionen halten, ist das Ergebnis unvollkommen. Der Weg über das bewusste Verarbeiten einer Reitinstruktion führt paradoxerweise zu einem schlechteren Resultat. Der Grund ist, dass unsere Handlungen, unsere Bewegungen und unsere Absichten nicht nur von unserem Bewusstsein gesteuert werden. Unsere Steuerzentrale ist ein Team mit mehreren Mitgliedern, von denen nur eines unser Bewusstsein (mit Sitz in der Großhirnrinde) ist. Reitlehren sprechen unseren bewussten Verstand an, aber leider funktioniert Reiten nicht primär mit denjenigen Körperteilen, die wir bewusst steuern. Daher geschieht das, was wir auch im Alltagsleben bei Teamarbeit beobachten – es kommt nichts Vernünftiges dabei heraus, wenn das Teammitglied, das am wenigsten von der Aufgabe versteht, ständig das große Wort führt.
Sehen wir uns daher zunächst einmal das Team genauer an, das unsere Handlungen steuert. Wir glauben zwar, dass wir unsere Körperbewegungen bewusst steuern können, aber in Wirklichkeit bedient unser Bewusstsein unseren Körper in etwa so, wie wir unseren Laptop oder unser Smartphone bedienen – über eine Benutzeroberfläche, hinter der viele miteinander verschaltete Prozessoren und Programme arbeiten.
Das Orchester – Gangmuster-Schaltzentren erzeugen die Körperbewegung
Die Fortbewegung aller Wirbeltiere wird im Rückenmark von den Gangmuster-Schaltzentren erzeugt. Sie beherrschen die von ihnen gesteuerten Muskelgruppen wie Musiker eines Orchesters ihre Instrumente.
Die eigentliche Bewegungssteuerung, die uns (oder einem Pferd) das Laufen ermöglicht, findet in Gruppen von Nervenzellen statt, die entlang unseres Rückenmarks und im Hirnstamm angeordnet sind. Menschen und Pferde sind Wirbeltiere. Die gemeinsamen Vorfahren aller Wirbeltiere lebten vor etwa 530 Millionen Jahren und sahen ungefähr so aus wie die heute noch existierenden Lampreten: fischähnliche Wesen, die sich im Wasser durch Schlängeln fortbewegen (Abb. unten).
Versteinerung von Myllokunmingia: Das erste Wirbeltier lebte vor ca. 530 Millionen Jahren.
Die heute noch lebenden Lampreten (hier ein Neunauge) ähneln im Körperbau dem Urwirbeltier.
Das Prinzip der neuronalen Bewegungssteuerung stammt vom Ur-Wirbeltier. (Fotos: links: commons.Wikimedia/Degan Shu, Northwest University, Xi’an, China, rechts: shutterstock.com/Andrei Nekrassov)
Das Grundmuster der Fortbewegung aller Wirbeltiere basiert immer noch auf Schlängelbewegungen, auch wenn wir uns nicht mehr im Wasser fortbewegen oder mit dem Bauch auf dem Boden wie eine Schlange kriechen, sondern inzwischen Beine haben. Vierbeinige Wirbeltiere (dazu zählen auch Menschen, auch wenn wir normalerweise nur noch auf den Hinterbeinen laufen) haben zwei Gruppen von Nervenzellen im Rückenmark, die die Fortbewegung steuern, eine im Bereich der Lendenwirbel (für die Hinterbeine) und eine im Halsbereich (für die Vorderbeine oder Arme). Diese Gruppen von Nervenzellen erzeugen das zentrale Bewegungsmuster und heißen daher in der wissenschaftlichen Literatur „Central Pattern Generator“ oder abgekürzt CPG, da Englisch die internationale Sprache der modernen Naturwissenschaft ist. Auf Deutsch könnte man sie als „Gangmuster-Schaltzentren“ bezeichnen (Abb. Seite 16).
Wir kennen heute die genaue Verschaltung einzelner Nervenzellen in diesen Schaltzentren und wissen daher, wie das Prinzip der Fortbewegung funktioniert (Goulding, 2009). Die Nervenzellen in diesen Schaltzentren steuern Muskelgruppen, die bei der Laufbewegung des betreffenden Wirbeltieres üblicherweise zusammen und koordiniert betätigt werden. Sie stimmen sich dabei aber auch untereinander ab wie die Musiker eines Orchesters, die nicht nur ihr jeweiliges Instrument (die Muskelgruppen) virtuos beherrschen, sondern auch gemeinsam rhythmisch musizieren.
Bei einem im Wasser schlängelnden Fisch funkt beispielsweise das Schaltzentrum rechts hinten: „Achtung, ich kontrahiere gerade die Muskeln auf meiner Seite, Schaltzentrum hinten links bitte Muskeln entspannen lassen, damit wir die Schwanzflosse nach rechts schwenken können.“ Bei Wirbeltieren, die mithilfe von Beinen auf dem Land laufen, ist das Hinterbein-Schaltzentrum dominant. Bei einem trabenden Pferd würden dort für einen Schritt gleichzeitig drei „Funksprüche“ abgesetzt, wie in der Abbildung auf Seite 16 schematisch dargestellt.
Die Steuerung der Fortbewegung im Nervensystem (Illustrationen: links: shutterstock.com/decade3d – anatomy online, rechts: shutterstock.com/CLIPAREA l Custom media)
Diese Funksprüche bewirken, dass das Pferd rechtes Hinterbein und linkes Vorderbein gleichzeitig hebt, die Lendenwirbelsäule nach rechts biegt (wodurch das Becken und damit das rechte Hinterbein nach vorne schwingen) und sich mit dem linken Hinterbein nach vorne schiebt. Für den nächsten Schritt geschieht genau dasselbe seitenverkehrt.
In den Gangmuster-Schaltzentren ist also die Steuerung von Muskelgruppen zusammengefasst, die bei der Fortbewegung gemeinsam betätigt werden. Wichtig ist, dass dabei nicht nur die Beinmuskulatur, sondern auch die zugehörige Rückenmuskulatur integriert ist: Bei allen Wirbeltieren bewirken die von den Schaltzentren erzeugten rhythmischen Bewegungen der Rumpfmuskulatur das eigentliche Gangmuster. Bereits während der Embryonalentwicklung entwickeln sich die neuronalen Kontakte für die Kommunikation zwischen den Schaltzentren, die die Koordination von vorderer und hinterer, bzw. rechter und linker Körperhälfte ermöglichen.
Die Koordination selbst muss jedoch erlernt werden. Säugetiere lernen ihre arttypischen Gangmuster nach der Geburt durch „Versuch und Irrtum“: Der Körperbau gibt die jeweiligen Bewegungsmöglichkeiten vor, aber um diese tatsächlich zu realisieren, muss die Synchronisation der Schaltzentren durch Übung perfektioniert werden. Bei einem Fohlen findet die hauptsächliche Übungsphase wenige Stunden nach der Geburt statt, das Menschenkind hat erst nach mehreren Monaten ausreichend Körperkraft für den aufrechten Gang und durchlebt daher zuvor noch eine Zeit als „Vierbeiner“.
Um den Vergleich noch einmal zu strapazieren – die Musiker (die neuronalen Schaltkreise) sind bei der Geburt bereits vorhanden, aber sie müssen noch lernen, ihre Instrumente (die zugehörigen Muskelgruppen) zu beherrschen und vernünftig miteinander zu musizieren. Bereits bei der Entstehung der Wirbeltiere vor 530 Millionen Jahren stellte sich heraus, dass ein größeres Orchester am besten von einem Dirigenten zu gemeinsamer Musik trainiert wird.
(Illustration: shutterstock.com/decade3d – anatomy online)
Der Dirigent – das Kleinhirn
Der Dirigent des neuronalen Orchesters der Bewegungskoordination ist das Kleinhirn (Cerebellum). Es besteht einerseits aus Nervenzellen, die ein detailliertes inneres Abbild des Körpers erzeugen und andererseits aus einem neuronalen Prozessor, der Bewegungen vorausberechnet und ständig das Ergebnis überprüft.
Das Kleinhirn ist der Dirigent. Früher dachte man, die Aufgabe des Kleinhirns sei die Herstellung der Körperbalance, da diese völlig von dessen Funktion abhängig ist. Mit den Methoden der modernen Neurobiologie zeigte sich jedoch, dass das Kleinhirn eine viel umfassendere Rolle spielt: Es ist ein Prozessor für überwachtes Lernen (supervised learning). Der Begriff „supervised learning“ ist eigentlich in der Informationstechnologie für einen Typ des maschinellen Lernens gebräuchlich, bei dem ein Rechner darauf trainiert wird, richtige Assoziationen herzustellen. Was „richtig“ ist, wird durch einen „Lehrer“ in Form eines Trainingsdatensatzes definiert. Beim Erbsensortieren muss man dem Prozessor also zunächst als Trainingsdatensatz sowohl eine Handvoll „guter“ und eine Handvoll „schlechter“ Erbsen zeigen, sodass er anhand dieser Beispiele lernt, die „guten ins Töpfchen“ zu sortieren. Ein solcher Prozessor vergleicht das Bild jeder neuen Erbse mit seinem Datensatz für „gute“ und „schlechte“ Erbsen und ordnet die neue Erbse dann der entsprechenden Kategorie zu. Gleichzeitig wird seine Datenbank immer größer, sodass er immer besser im Erbsensortieren wird.
Das Kleinhirn ist exakt so ein Prozessor. Im Kleinhirn befinden sich zum einen extrem zahlreiche Nervenzellen (die sogenannten „granule cells“ oder Granularzellen), die in Kontakt stehen mit allen Schaltzentren der Muskelzellen und so im Kleinhirn ein detailreiches Abbild des Körpers und seiner Bewegungszustände erzeugen. Diese innere Körperwahrnehmung im Kleinhirn wird auch als Propriozeption bezeichnet.
Die Granularzellen sind die zahlreichsten Zellen im Gehirn, um das innere Körperbild der Propriozeption detailreich zu gestalten – ebenso wie eine gute Digitalkamera Bilder mit möglichst vielen Pixeln erzeugt. Daneben gibt es im Kleinhirn die sogenannten „Purkinje“-Zellen (nach ihrem Entdecker), von denen jede mit einer unterschiedlichen kleinen Gruppe von Granularzellen verschaltet ist. Die Purkinje-Zellen sind der eigentliche Prozessor für überwachtes Lernen. Wenn wir als Mensch einen Schritt mit dem rechten Bein nach vorne machen, aktivieren wir über unsere Gangmuster-Schaltzentren unsere Rumpf- und Beinmuskulatur, um das Bein nach vorne zu schwingen, bis es wieder Bodenkontakt hat, worauf dann das Körpergewicht auf dieses Bein verlagert wird. Bevor wir jedoch mit dieser Bewegung überhaupt beginnen, wird im Kleinhirn ein Modell davon berechnet. Nachdem wir die Bewegung vollendet haben, überprüft das Kleinhirn das Resultat. Dies lässt sich nachweisen, da die zugehörigen Purkinje-Zellen sowohl 400 Millisekunden vor als auch 100 Millisekunden nach der Bewegung aktiv werden (Popa, Hewitt, & Ebner, 2014). Bevor wir irgendeine Bewegung ausführen, hat also unser Kleinhirn bereits ein inneres Bild von dieser Bewegung, das anschließend mit der Wirklichkeit abgeglichen wird. Wir können im täglichen Leben das Kleinhirn ganz einfach bei der Arbeit beobachten – wenn wir bei unserem Schritt nach vorne übersehen haben, dass es dabei eine Stufe nach unten geht. Dann ist die 400 Millisekunden zuvor vorausberechnete Hypothese des Kleinhirns nämlich falsch, dass unser rechtes Bein an einer bestimmten Position wieder festen Bodenkontakt finden wird, wir stolpern und müssen uns notfallmäßig neu ausbalancieren.
Das Kleinhirn ist also ein Prozessor, der lernen kann, indem er Hypothesen überprüft. Das gilt ganz allgemein, nicht nur für die eigene Körperbewegung, sondern für jegliches Lernen (Wagner, Kim, Savall, Schnitzer, & Luo, 2017). Für das Reiten ist es wichtig zu wissen, dass unser Kleinhirn auch mit Bewegungshypothesen arbeiten kann, die über unseren eigenen menschlichen Körper hinausgehen. Auch dies kennen Sie bereits aus dem Alltag: Sie können zusammen mit ihrem Fahrrad die Balance halten, Sie können mit ihrem gewohnten Kraftfahrzeug problemlos eine Engstelle zwischen geparkten Autos und dem Gegenverkehr passieren, Sie können mit einer Handbewegung einen Pfeil auf einem Bildschirm steuern – es gibt unzählige Beispiele dieser Art. Wenn wir unserem Kleinhirn eine passende Hypothese anbieten, wie sich ein Pferd bewegt und wie wir als reitender Mensch von diesem Pferd bewegt werden, so kann es die gemeinsame Bewegung von Mensch und Pferd berechnen.
Das Kleinhirn bekommt seine Hypothesen aus zwei Quellen. Eine Quelle ist der Erfahrungsschatz aus dem motorischen und sensorischen Feedback des Körpers beim Ausprobieren von Bewegungen, die durch „Versuch und Irrtum“ erlernt wurden. So lernen Kinder neue Bewegungen. Das Kleinhirn eines Kindes ist noch ein relativ unbeschriebenes Blatt, was Hypothesen zum perfekten Bewegungsablauf anbelangt.
Wenn das Kleinkind laufen lernt, arbeiten die Schaltzentren im Rückenmark anfangs „irgendwie“ zusammen und das Kleinhirn registriert zunächst nur Erfolge und Misserfolge (autsch!, hingefallen). Die zweite Quelle für die Hypothesen des Kleinhirns ist unsere Großhirnrinde, der Sitz unseres Bewusstseins. Wenn das Kleinhirn unser innerer Dirigent ist, der alle Musiker in unserem Körper zu einer gemeinsamen Handlung dirigieren kann, der jeden Missklang bemerkt und mit jeder Wiederholung das Stück in perfekterer Harmonie ertönen lässt, so ist unsere Großhirnrinde unser innerer Komponist.