Kitabı oku: «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung», sayfa 2

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3 Partizipation

Abklärende Fachpersonen pflegen eine Abklärungspraxis, in welcher der Kontakt und die Begegnung mit dem Kind, seinen Eltern, weiteren Familienmitgliedern sowie fachlichen Partnern aktiv gestaltet werden. Das dem Prozessmanual zugrunde liegende dialogisch-systemische Verständnis von Abklärungen im Kindesschutz basiert auf der Annahme, dass abklärende Fachpersonen nur zu begründeten Einschätzungen darüber gelangen können, was zur Sicherung und Förderung des Kindeswohls getan werden muss, wenn sie das Kind, seine Eltern, weitere Familienmitglieder sowie fachliche Partner an der Gestaltung des Abklärungsprozesses aktiv beteiligen und an ihren Überlegungen teilhaben lassen. Konkret sollen sie gemeinsam mit dem Kind, seinen Eltern, weiteren Familienmitgliedern sowie fachlichen Partnern zu einem Verständnis darüber gelangen, wie es zur Gefährdung des Kindeswohls gekommen ist und was getan werden kann, um diese abzuwenden. Hierfür sollten sie dialogisch, beteiligungsfördernd und aushandlungs-orientiert vorgehen.

4 Reflexivität

Abklärende Fachpersonen reflektieren und überprüfen ihre Vorgehensund Arbeitsweisen, ihre Eindrücke und Gefühle, ihre Vermutungen und Hypothesen fortlaufend. Hierfür nutzen sie unterschiedliche Reflexions-gefässe unter Beteiligung von Kolleg/innen sowie fachlichen Partnern, um neue Sichtweisen zu erhalten, Hypothesen zu korrigieren und auf Fehlinterpretationen aufmerksam gemacht zu werden. Sie sind offen für Kritik und offen für ein Lernen aus Fehlern; sie haben Interesse an alternativen Deutungen und Wahrnehmungen und sind dazu in der Lage, bereits geplante Vorgehensweisen und antizipierte Entscheidungen wieder infrage zu stellen, wenn neue Gesichtspunkte dies erfordern.

5 Verantwortung

Das Prozessmanual unterstützt abklärende Fachpersonen dabei, auf der Grundlage gesammelter Informationen und Eindrücke zu begründeten Einschätzungen darüber zu gelangen, welche Schritte notwendig sind, um das Kindeswohl zu sichern und zu fördern. Eine Bedingung für eine gelingende Anwendung des Prozessmanuals ist, dass geklärt und den abklärenden Fachpersonen während ihres Handelns im Abklärungsprozess stets präsent ist, wer in welchen Schlüsselprozessen wann und warum für die Realisierung welcher Abklärungsaufgaben verantwortlich bzw. zuständig ist und dass diesbezüglich aktiv die Verständigung mit anderen beteiligten Behörden und Diensten gesucht wird.

6 Dokumentation

Fachpersonen dokumentieren die Informationen, die sie im Abklärungsprozess in Erfahrung bringen bzw. einholen, zeitnah. Dabei unterscheiden sie zwischen eigenen Beobachtungen, Informationen des Kindes und der Familie, Informationen von Dritten, Interpretationen und Bewertungen. Sie gehen mit personenbezogenen Informationen sorgfältig und respektvoll um und dokumentieren nur solche Informationen und Einschätzungen, die für die Abklärungsaufgabe relevant sind. Dokumentationen sollen sicherstellen, dass Einschätzungen und Empfehlungen nicht willkürlich oder einseitig, sondern fundiert, nachvollziehbar und plausibel zustande kommen. Dazu ist es auch sinnvoll, festzuhalten, welche Informationen auf welchen Quellen basieren, zu welchen Schlussfolgerungen sie geführt und zu welchen Entscheidungen sie bei der Planung des Vorgehens veranlasst haben.

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Grundlagen und Praxisprinzipien

2.1 Grundlagen dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung

Von abklärenden Fachpersonen wird erwartet, dass sie zu zuverlässigen Einschätzungen des Kindeswohls und im Fall einer Kindeswohlgefährdung zu klaren Empfehlungen hinsichtlich angemessener Antworten kommen. Sie sollen gewissermassen Sicherheit und möglichst viel Eindeutigkeit herstellen – und dies in einem Feld, in das Ungewissheit und Unsicherheit unauflöslich eingeschrieben sind (vgl. Alberth et al. 2010). Ungewissheit ist für jede Abklärungspraxis im Kindesschutz kennzeichnend; zum einen, weil eine Gefährdung des Kindeswohls keine «beobachtbare Sache» ist, sondern die Bewertung eines komplexen Geschehens, das eingebettet ist in Eltern-Kind-Beziehungen und Familienbeziehungen; zum anderen, weil der Gegenstand der Beurteilung sich nicht in Handlungen oder Unterlassungen erschöpft, sondern deren in der Zukunft liegende Auswirkungen auf das Kind einschliesst (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 28ff.). Gleichwohl bleibt die Aufgabe bestehen, auf der Grundlage von Beobachtungen, Informationen und Deutungen plausible und nachvollziehbare Einschätzungen darüber vorzulegen, inwieweit das Wohl eines Kindes gesichert ist – und wie es nachhaltig gesichert werden kann.

Auf diese komplexen und widersprüchlichen Handlungsanforderungen gilt es, konzeptionelle Antworten zu finden, die abklärenden Fachpersonen Orientierung bieten, indem sie Zielsetzungen und Vorgehensweisen in einen plausiblen Zusammenhang bringen. Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» steht in der Tradition solcher Konzeptualisierungen von Abklärungspraxis im Kindesschutz. Es versteht sich als zeitgemässer Entwurf, der die von Forschung und Praxis gleichermassen vorgetragene Kritik an früheren Konzeptualisierungen aufnimmt. Es grenzt sich von einem alten investigativen und bestrafenden Kindesschutz ebenso ab wie von einem prozeduralistisch oder technologisch verkürzten (Department for Education 2011; Gilbert/Parton/Skivenes 2011a). Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» ist vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der internationalen Fachdiskussion, die der Beziehung, der Kommunikation und der Zusammenarbeit im Kindesschutz neue und erweiterte Bedeutung zuweisen, entwickelt worden (Calder/Archer 2016; Department for Education 2011; Featherstone/White/Morris 2014). Solch neuere Ansätze plädieren darüber hinaus für eine stärker an der Eltern-Kind-Beziehung ansetzende Kindesschutzpraxis und grenzen sich von Abklärungspraxen ab, die sich entweder auf die Eltern oder auf das Kind konzentrieren (Barlow/Scott 2010). Eine wichtige Grundannahme des im Prozessmanual verankerten Konzepts dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung ist, dass Qualität und Wirksamkeit im Kindesschutz zu einem erheblichen Teil durch die Qualität der Zusammenarbeit bestimmt werden und zwar insbesondere durch

 die Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen, Eltern und Kindern sowie

 die Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen und verschiedenen im Kindesschutz tätigen Organisationen (vgl. Amt für Soziale Dienste Bremen 2009; Jugendamt der Stadt Dormagen 2011).

Vor diesem Hintergrund nehmen Prämissen und Konzepte des Dialogs, des systemischen Arbeitens, der wachsamen Sorge und des diagnostischen Fallverstehens im Prozessmanual Schlüsselpositionen ein.

Kindeswohlabklärung als dialogischer Prozess

Im Konzept der dialogisch-systemischen Kindeswohlabklärung wird unter einem Dialog eine Interaktionsform verstanden, die nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann (vgl. Bohm 1998; Isaacs 2002). Ein Dialog entsteht in Gesprächen, die geprägt sind von gegenseitiger Wertschätzung und Respekt. Vereinfacht gesprochen soll der Dialog einen offenen Austausch zwischen abklärenden Fachpersonen sowie Eltern und Kindern begünstigen, wobei der gemeinsame Gegenstand und Referenzpunkt das Wohl des Kindes ist. Der Dialog wird hier als Möglichkeit betrachtet, auch kontroverse und konfliktreiche Themen offen zu bearbeiten, mit denen bei Abklärungsprozessen im Kindesschutz zu rechnen ist. Eine dialogische (Gesprächs-)Haltung unterstützt einen Prozess, in dem abklärende Fachpersonen sowie Eltern und Kinder sich trauen, offen anzusprechen, was sie wahrnehmen, denken und fühlen. Sie will die offene und konstruktive Thematisierung unterschiedlicher Ansichten und Meinungen ermöglichen. Der Dialog will zwischenmenschliche Begegnungen anregen, die auf Augenhöhe stattfinden und wechselseitiges Verstehen ermöglichen. In einem Dialog werden Differenzen als gegeben angenommen. Die eigenen und die Annahmen der anderen werden hinterfragt, ohne die andere Seite anzugreifen oder zu widerlegen. Er ist darauf angelegt, gemeinsame Denkprozesse anzuregen und zu ermöglichen (vgl. Isaacs 2002, S. 44ff.).

Fachpersonen, die sich in der Abklärungspraxis am Dialog orientieren und versuchen, dessen Potenziale auszuschöpfen, wenden sich Kindern und Eltern zu, hören ihnen zu und interessieren sich für ihre Sichtweisen auf die Alltags-, Beziehungs- und Erziehungspraxis. Sie suchen aktiv das Gespräch mit ihnen und schaffen Gelegenheiten, die dazu geeignet sind, unterschiedliche Erlebens- und Sichtweisen, Bedürfnisse, Wünsche, Interessen und Motive der Beteiligten zur Sprache zu bringen. Sie gestalten Settings, die es möglich machen, unterschiedliche Wissensformen und Perspektiven (das Erleben des Kindes, die Erfahrungen und Glaubenssysteme der Eltern, das Fachwissen der Fachpersonen) und unterschiedliche Urteilsformen (subjektive Urteile, fachliche Urteile, normative Leitorientierungen, im Recht verankerte Normen) zu thematisieren und aufeinander zu beziehen. Sie gehen vorurteilsfrei, ergebnisoffen und risikoreflektiert vor, nehmen Differenzen und Meinungsverschiedenheiten wahr und gehen mit diesen produktiv um. Sie legen Rollen- und Machtunterschiede sowie Abhängigkeiten, Ängste und Sorgen offen, erkennen sie an und machen sie zum Bestandteil ihrer Arbeit. Sie ermöglichen Beteiligung und fordern diese ein und erhöhen damit die Chancen für Begegnung, Beziehung und Veränderung.

Dialogische Haltung

Das Konzept dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung plädiert für eine Gestaltung von Arbeitsbeziehungen auf Augenhöhe. Augenhöhe wird dabei verstanden als bildhafter Ausdruck für eine wertschätzende und von Respekt getragene Arbeitsbeziehung. Es ist Ausdruck einer dialogischen Haltung, wenn abklärende Fachpersonen normative Positionen in Bezug auf gewaltsame, verletzende und schädigende Erziehungspraxen und Beziehungsstile im Eltern-Kind-Verhältnis klar aufzeigen. Kommunikation auf Augenhöhe bedeutet in diesem Zusammenhang, dass über Grenzen des Tolerierbaren mit Respekt gegenüber der Person und Klarheit in der Sache gesprochen wird (wobei die Aufrichtigkeit und Transparenz als Ausdruck des Respekts gegenüber der Person verstanden werden kann). Mit dem Plädoyer für den Dialog wird also nicht einer Haltung das Wort geredet, die alles zur Disposition stellt und alles zum Gegenstand von Verhandlungen macht. Wenn abklärende Fachpersonen zu der Einschätzung kommen, dass das Wohl eines Kindes gefährdet ist, sagen sie dies den Eltern. Sie legen offen, auf welchen Beobachtungen ihre Einschätzung beruht, und erklären ihnen, inwiefern bestimmte Merkmale der kindlichen Lebenssituation für das Kind eine Beeinträchtigung oder Schädigung bedeuten. Sie laden sie dazu ein, gemeinsam mit den Fachpersonen über Hintergründe und Bedingungen der kindeswohlgefährdenden Zustände oder Ereignisse zu sprechen. Sie machen ihnen Mut, gemeinsam mit ihnen Schritte zur Veränderung zu überlegen, und unterstützen sie dabei. Sie erkennen an, dass es niemandem leichtfällt, Routinen oder Verhaltensweisen zu verändern. Sie erläutern den Eltern auch, welche Konsequenzen es haben kann, wenn sie sich gegen die Möglichkeit entscheiden, an den notwendigen Verbesserungen der Lebenssituation des Kindes mitzuwirken. Sie informieren Kinder und Eltern über ihre Rechte wie auch über die Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten von Fachdiensten und Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden. Sie informieren in einer verständlichen Sprache über die Voraussetzungen zur Beschränkung elterlicher Rechte und erörtern mit den Eltern deren Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der durch das Recht definierten Grenzen (Restriktionen).

Fachpersonen, die in ihrer Abklärungspraxis versuchen, die Potenziale des Dialogs zu nutzen, stehen dabei vor der Aufgabe, Kommunikationsformen zu finden, die dem Kind und den Eltern entsprechen. Auch wenn beim Dialog zunächst an bestimmte kultivierte Formen des Sprechens gedacht wird – eine am Dialog orientierte Abklärungspraxis ist nicht ausschliesslich auf die geschliffene Sprache verwiesen; sie wird andere, auch nicht sprachgebundene Formen nutzen, gerade dort, wo es darum geht, die Sichtweisen von Kindern einzubeziehen (vgl. Biesel 2013). Abklärende Fachpersonen, die den Dialog als besondere Form sozialer Interaktion gewinnbringend nutzen wollen, achten deshalb darauf, dass sie in einer Sprache sprechen, die möglichst verständlich, alltagsnah und respektvoll ist.

Kindeswohlabklärung als systemische Intervention

Wichtige Grundlagen, Haltungen und methodische Zugänge bezieht das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» auch aus dem systemischen Ansatz. Dabei handelt es sich weniger um eine klar abgrenzbare Theorie oder Handlungslehre, sondern eher um eine Tradition von Konzepten und Handlungsmodellen, die von gemeinsamen Grundannahmen ausgehen und Antworten auf grundsätzliche Herausforderungen in Beratung und Therapie zu geben versuchen (Levold/ Wirsching 2014, S. 9ff.). Sie sind inzwischen vielfach auch auf Aufgabenstellungen in der Sozialen Arbeit und der Pädagogik übertragen worden, bei denen es – ähnlich wie bei Beratung und Therapie – ebenfalls um das Anstossen von Reflexionen und das Ermöglichen von Veränderungen geht. Wichtige Grundannahmen des systemischen Ansatzes sind (vgl. Schlippe/Schweitzer 2012; Schmidt 2010; Simon 2014):

 Menschen konstruieren ihre (sozialen) Wirklichkeiten selbst, indem sie Beobachtungen und Unterscheidungen vornehmen, das Beobachtete mit Bezeichnungen (Begriffen) versehen und dadurch einordnen.

 Auf diese Weise stellen sie subjektiven Sinn her; sie erklären sich die Welt, nehmen Bewertungen vor und lassen sich von diesen Erklärungen und Bewertungen leiten.

 Wie Menschen denken, empfinden und handeln, wird vor allem durch ihre Aufmerksamkeits-, Deutungs- und Bewertungsmuster bestimmt.

 Was für einen Menschen wirklich ist, was er fühlt, denkt und tut, hängt von seinem Standpunkt und seinen Wirklichkeitskonstruktionen ab.

 Was für einen anderen Menschen Realität ist und Bedeutung hat, was sein Denken und Handeln anleitet, lässt sich nur in der Kommunikation mit diesem herausfinden und klären; in solchen kommunikativen Austauschprozessen können sich die Beteiligten ihre individuellen Aufmerksamkeits-, Deutungs- und Bewertungsmuster wechselseitig zugänglich machen.

 Wo Menschen kontinuierlich in solche kommunikativen Austauschprozesse einbezogen sind (Familien, Gruppen), kommt es zur Herausbildung von Überzeugungen, Handlungsstilen, Regeln und Erwartungen (Selbstorganisation, Kontexte).

 Diese können als System wahrgenommen werden, die sich von einer Umwelt unterscheiden.

 Systeme stehen in einer dynamischen Spannung von Bewahren und Verändern.

 Menschen können andere Menschen und Systeme nicht gezielt verändern, sondern ihnen allenfalls Anregungen geben und ihnen Gelegenheiten bereitstellen, sich selbst zu verändern und zu entwickeln.

Systemische Haltung

So abstrakt diese Grundannahmen klingen mögen – für die Abklärungspraxis im Kindesschutz bietet der systemische Ansatz Denkmodelle, die die Orientierung in anspruchsvollen Praxissituationen erleichtern, sowie bewährte methodische Konzepte und Werkzeuge (vgl. Schwing/Fryszer 2010). Diese können insbesondere zur Anbahnung und Gestaltung von Kontakten, zur Gesprächsführung und Prozessgestaltung mit Gewinn herangezogen werden. Der vielleicht entscheidende Beitrag des systemischen Ansatzes liegt jedoch in der Haltung und im professionellen Rollenverständnis, die aus den oben skizzierten Grundannahmen resultieren:

• Fachpersonen, die dem systemischen Ansatz verpflichtet sind, erkennen die Eigendynamik von Systemen (z. B. der Familie) an. Sie interessieren sich für die Komplexität und Wechselwirkungen innerhalb eines Familiensystems und in den Beziehungen zwischen dem Familiensystem und seinen Umwelten. Deshalb begegnen sie den Sichtweisen aller Beteiligten mit Neugier und interessieren sich dafür, wie diese die Wirklichkeit sehen und was für sie wichtig ist. Sie sind sich darüber im Klaren, dass Eltern und Kinder nicht losgelöst voneinander existieren, sondern in miteinander zusammenhängenden und voneinander abhängenden, sich gegenseitig beeinflussenden und nur schwer zu verändernden Systemzusammenhängen (vgl. Biesel/Wolff 2014, S. 17ff.). Sie wissen, dass kindeswohlgefährdende Handlungen und/oder Unterlassungen in Familien nicht auf einfache Ursachen zurückzuführen sind. Sie interessieren sich deshalb nicht allein für konkrete Vorkommnisse oder Handlungsweisen, die ein Gefährdungspotenzial aufweisen, sondern auch für die Kontextbedingungen, um von hier aus mit den Beteiligten Ansatzpunkte für Veränderungen zu erarbeiten. Sie gehen von der Annahme aus, dass Eltern mehrheitlich ein gutes Leben für ihre Kinder wollen. Deshalb thematisieren sie kindeswohlgefährdende Zustände und Ereignisse (so lange keine Fakten dagegen sprechen) unter der Hypothese, dass diese eher als Ausdruck von Momenten des Scheiterns in der Elternrolle zu verstehen sind denn als Ausfluss bewusster destruktiver Absichten oder Ausdruck individueller Pathologien. Sie ziehen in Betracht, dass Kindeswohlgefährdungen Ausdruck unbewältigter mehrgenerationaler, lebensgeschichtlicher Ereignisse und Erfahrungen sein können, die es im Kontakt und im Austausch mit Eltern und Kindern zu entziffern und zu deuten gilt (Blum-Maurice/Pfitzner 2014).1 Sie versuchen deshalb, nicht nur Eltern und Kinder an der Abklärung zu beteiligen, sondern das gesamte Familiensystem (auch die Ursprungsfamilien der Eltern), um kindeswohlgefährdende Beziehungs-, Konflikt- und Kommunikationsmuster bearbeiten zu können. Ihnen ist bewusst, dass sie Handlungsweisen und Haltungen von Eltern und Kindern nicht gezielt ändern können. Sie erkennen die Ambivalenz von Bewahren und Verändern als notwendiges Element von Veränderungen an und wissen, dass Menschen Sicherheit brauchen, um das Wagnis von Veränderungen einzugehen. Sie wissen, dass Widerstände und Rückfälle Teil aller Veränderungsprozesse sind, und versuchen, möglichst produktiv mit diesen umzugehen (vgl. Grabbe 2011).

• Fachpersonen, die dem systemischen Ansatz verpflichtet sind, gestalten Abklärungsprozesse unter dem übergreifenden Ziel, Klärungen in Familien herbeizuführen und Veränderungen im Interesse des Kindeswohls zu ermöglichen. Sie sind sich darüber im Klaren, dass Abklärungen Ko-Produktionen sind und der aktiven Mitwirkung von Eltern und Kindern bedürfen. Sie reflektieren deshalb die Auswirkungen, die eine Abklärung auf Eltern und Kinder hat, und sind besonders sensibel für das Risiko, im Prozess der Abklärung in Familien «hineingezogen» zu werden. Sie fokussieren nicht nur auf Defizite und Probleme von Eltern und Kindern, sondern auch auf deren vorhandene bzw. verschüttete Stärken, Ressourcen und Lösungspotenziale. Es ist ihnen bewusst, dass Fragen des Kindeswohls untrennbar mit Fragen der sozialen Teilhabe von Eltern und Kindern verknüpft sind, und orientieren ihre Vorgehensweisen und Interventionen an der Maxime, Teilhabe und Verwirklichungschancen von Kindern und Eltern bestmöglich zu sichern und zu fördern (vgl. Hosemann/Geiling 2013, S. 29ff.)

Kindeswohlabklärung als wachsames Sorgen

Fachpersonen, die Abklärungen im Kindesschutz durchführen, übernehmen einen wichtigen Teil staatlicher Schutzpflichten gegenüber Kindern (vgl. Rosch/Hauri 2016b). Sie klären, ob Voraussetzungen vorliegen, die ein (staatliches) Eingreifen zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich machen. Sie erarbeiten fallspezifische Antworten auf die Fragen, welche Leistungen erforderlich und geeignet sind, um das Kindeswohl zu sichern und zu fördern und ob zivilrechtliche Kindesschutzmassnahmen notwendig sind. Fachpersonen, die Abklärungen nach dem «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» vornehmen, werden diese Schutzfunktion, ihre Rolle und ihren Auftrag (z. B. im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Behörden und abklärendem Dienst) gegenüber den Eltern in einer für diese verständlichen Sprache klar zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig werden sie alles dafür tun, die Eltern zur Zusammenarbeit im Interesse des Kindeswohls zu gewinnen.

Die Wahrnehmung, dass ein Kind oder ein/e Jugendliche/r vor Gefährdungen ihres/seines Wohls geschützt werden muss, darf nicht zum Abbruch der Arbeitsbeziehung mit den Eltern führen. Vielmehr sind Fachpersonen im Kindesschutz darauf verwiesen, eine möglichst tragfähige Arbeitsbeziehung zu den Eltern aufzubauen, um Veränderungen im Familiensystem anstossen zu können. Wenn diese keine Aussicht auf Erfolg haben und Eingriffe in Elternrechte zum Schutz des Kindes mittels zivilrechtlicher Kindesschutzmassnahmen erforderlich sind, zögern sie nicht, diese einzuleiten. In der Wahrnehmung des Schutzauftrags und durch das professionsethische Postulat der Aufrichtigkeit sind abklärende Fachpersonen dazu verpflichtet, Eingriffsschwellen und die normativen Positionen, die sie begründen, gegenüber den Eltern möglichst klar zu kommunizieren.

Eine Haltung, die den Schutzauftrag mit der Verpflichtung auf den Vorrang «freiwilliger», den Eltern angebotener und mit ihnen vereinbarter Leistungen verbindet und deshalb Kontakte und Gespräche im Rahmen eines Abklärungsprozesses am Ziel, eine möglichst tragfähige Arbeitsbeziehung herzustellen, orientiert, entspricht sowohl den im Recht verankerten Prinzipien der Subsidiarität, Komplementarität und Proportionalität (vgl. Rosch/Hauri 2016, S. 411f.) als auch anerkannten Theorien und Konzepten der Sozialen Arbeit (Dewe/Otto 2010; Thiersch 2014). Sie entspricht darüber hinaus zukunftsweisenden Kindesschutzmodellen, mit denen versucht wird, das Wohl von Kindern, Eltern/Familien und dem Gemeinwesen gleichermassen im Blick zu haben und mit Angeboten, Leistungen und Massnahmen in ihrem Wohl gefährdete Kinder und Jugendliche nicht nur zu schützen, sondern sie und ihre Eltern zu fördern und in ihrer Entwicklung partnerschaftlich zu begleiten (Gilbert/Parton/ Skivenes 2011b; Jugendamt der Stadt Dormagen 2011; Wolff et al. 2013, S. 27).

Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» will Haltungen und Handlungsweisen stärken, die es Fachpersonen ermöglichen, die Gleichzeitigkeit von Schutzauftrag und Hilfevorrang in den anspruchsvollen Alltagssituationen der Abklärungspraxis kohärent und wirkungsvoll umzusetzen. Nützliche Orientierungen dazu können aus dem Konzept der wachsamen Sorge (vgl. Omer 2015) bezogen werden. Das Konzept ist zwar für ratsuchende Eltern entwickelt worden, kann aber auch von Fachpersonen, die Abklärungen im Kindesschutz durchführen, mit Gewinn herangezogen werden. Es basiert auf der Annahme, dass Eltern eine Haltung wachsamer Sorge einnehmen sollten, um am Leben ihrer Kinder aktiv und respektvoll teilhaben zu können. Es geht davon aus, dass Eltern von ihren Kindern als Autoritäten wahrgenommen werden, wenn diese spüren, dass die Eltern bedingungslos für sie da sind und ihre Autorität nicht durch Strafen, Gewalt und Abwendung aufrechtzuerhalten suchen. Diese Form von Autorität durch Beziehung (vgl. Omer/von Schlippe 2015) kann als Modell für die Gestaltung der Beziehung zwischen abklärenden Fachpersonen und den Familienmitgliedern dienen: Auch Fachpersonen dürfen bei der Durchführung von Abklärungen nicht «mit der Brechstange» vorgehen, mit Drohungen, Ablehnungen und Abwertungen reagieren. Sie sind darauf angewiesen, von den Eltern und Kindern als Autoritäten wahr- und ernst genommen zu werden. So ist es zwar einerseits zwingend erforderlich, dass der Zugang zur Familie in der Absicht, abzuklären, ob Hinweise auf Gefährdungen des Kindeswohls begründet sind, durch das Recht gestützt ist. Eine durch das Recht gesicherte Legitimität eines Abklärungsprozesses ist eine unabdingbare Voraussetzung, sie garantiert aber keineswegs schon sein Gelingen. Abklärende Fachpersonen müssen von Eltern und Kindern aber auch als Vertrauenspersonen wahrgenommen werden, als Autoritäten, die mit Eltern und Kindern anerkennend, verantwortungsbewusst und respektvoll zusammenarbeiten – auch wenn sie Probleme, Versorgungsdefizite und Gefährdungslagen sehen. Autorität in dem hier verstandenen Sinn kann insofern nicht erworben werden, wenn Fachpersonen Eltern und Kinder im Rahmen von Abklärungen nur zum Objekt von Befragungen und Untersuchungen machen.

Formen wachsamer Sorge

Abklärungen im Kindesschutz im dialogisch-systemischen Sinn erfordern offene und flexible Herangehensweisen, die den Fachpersonen unterschiedliche Formen einer wachsamen Sorge ermöglichen – vom offenen Dialog bis zum eindeutigen Markieren von Grenzen (vgl. Omer 2015, S. 14ff.):

• Abklärende Fachpersonen lassen sich offen und neugierig auf die Lebenssituation von Eltern und Kindern ein und bringen ihnen Interesse entgegen. Sie nehmen Anteil an ihren Sorgen, Ängsten, Nöten, Hoffnungen und Träumen, ohne dabei ihren Abklärungsauftrag aus den Augen zu verlieren. Abklärende Fachpersonen legen ihren Auftrag, zu klären, ob das Wohl des Kindes gewährleistet ist, offen. Sie kommen mit Eltern und Kindern ins Gespräch über das Zusammenleben in der Familie, die Eltern-Kind-Beziehung und die Lebenssituation des Kindes. Sie zeigen Präsenz und Aufmerksamkeit (offene Aufmerksamkeit).

• Nehmen abklärende Fachpersonen Anzeichen einer Gefährdung oder Beeinträchtigung des Kindeswohls wahr, reden sie mit den Eltern und den Kindern darüber und versuchen, mit diesen herauszufinden, was Ursachen und Hintergründe vergangener und eventuell drohender kindeswohlgefährdender Zustände und Ereignisse sind (fokussierte Aufmerksamkeit).

• Bei Hinweisen, die darauf schliessen lassen, dass die Grundversorgung und die Sicherheit des Kindes oder der/des Jugendlichen nicht gewährleistet sind und somit eine manifeste Gefährdung des Kindeswohls besteht, sprechen sie dies klar und verständlich gegenüber den Eltern an. Wenn es notwendig ist, greifen sie aktiv ein und leiten Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes oder der/des Jugendlichen ein. In diesem Fall erläutern sie ihnen die Gründe ihres Handelns (Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes oder der/des Jugendlichen).2

Fachpersonen, die sich bei ihrer Abklärungspraxis am «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» orientieren, nehmen einen Schutzauftrag wahr. Sie sind sich der Risiken und Gefahren bewusst, denen Kinder in Familien ausgesetzt sein können (vgl. Wolff 2007), und versuchen so lange wie möglich, den Dialog mit Eltern und Kindern bei der Gestaltung von Abklärungsprozessen im Kindesschutz zu suchen und Settings des sozialen Miteinanders zu entwerfen, die Eltern und Kinder dazu ermutigen, sich offen auf Abklärungsprozesse einzulassen. Sie scheuen aber auch nicht davor zurück, Sofortmassnahmen zum Schutz in ihrem Wohl akut gefährdeter Kinder und Jugendlicher einzuleiten.

Kindeswohlabklärung als diagnostisches Fallverstehen

Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» ist so aufgebaut, dass mit ihm Ansätze und Methoden des diagnostischen Fallverstehens (Heiner 2011) genutzt und auf das Handlungsfeld des Kindesschutzes übertragen werden können. In der Verbindung von «Diagnostik» und «Fallverstehen» kommt der Versuch zum Ausdruck, zwei Konzeptionen der Entscheide vorbereitender Abklärung miteinander zu verbinden, die sich in der Sozialen Arbeit lange Zeit unversöhnlich gegenüberstanden: den klassifikatorischen und den rekonstruktiven Ansatz. Der klassifikatorische Ansatz setzt auf standardisierte Erhebungs- und Auswertungsinstrumente und strebt eine möglichst eindeutige Zuordnung eines Falls unter allgemein anerkannte Kategorien an. Der rekonstruktive Ansatz setzt auf das Gespräch und den Dialog, will die subjektiven Wahrnehmungs- und Erlebensweisen von Eltern und Kindern und ihre biografische Einbettung erschliessen und sie in die Prozesse der Erarbeitung von Problembeschreibungen und darauf bezogenen Problemlösungen einbeziehen (vgl. Heiner 2011, S. 237).

Im Kindesschutz haben Verfahren und Instrumente, die dem klassifikatorischen Ansatz verpflichtet sind, (insbesondere in den englischsprachigen Ländern) über viele Jahre eine wichtige, bisweilen auch dominante Rolle gespielt. Dies gilt in besonderem Masse für Verfahren und Instrumente der Risiko- und Kindeswohleinschätzung. Dabei lassen sich zwei Typen unterscheiden: Konsensbasierte Verfahren und Instrumente operieren auf der Basis wissenschaftlichen Wissens und Erfahrungswissens zu den Risiken und Hintergründen von Vernachlässigung und Misshandlung und bereiten diese in Checklisten oder Diagnosebögen auf. Actuari-alistische Verfahren und Instrumente stützen sich auf empirische Studien, die Zusammenhänge zwischen Vernachlässigung und/oder Misshandlung einerseits und bestimmten Merkmalen bzw. Ereignissen andererseits gezeigt haben (Risikofaktoren). Solche Risikoinventare ermöglichen ein statistisch begründetes Urteil darüber, wie hoch die Wahrscheinlichkeit kindeswohlgefährdender Ereignisse in der Zukunft ist (niedriges, mittleres, hohes Risiko). Empirische Studien haben gezeigt, dass actuarialistische Verfahren und Instrumente eine deutlich bessere Voraussagevalidität erzielen als konsensbasierte Verfahren (Baird/Wagner 2000; Bastian 2012, S. 253). Gleichzeitig wurde zunehmend deutlich, dass Verfahren und Instrumente der Risiko- und Kindeswohleinschätzung konstruktionsbedingte, immanente Grenzen aufweisen. Eine sichere Vorhersage in Bezug auf den Einzelfall ermöglichen auch die besten Risikoinventare nicht (Goldbeck 2008). Aufgrund ihrer Konzentration auf einzelne, empirisch begründete Risikoindikatoren ist ihr Nutzen zur Erfassung der Komplexität von Lebenslagen begrenzt. Schliesslich geben Risikoinstrumente kaum Hinweise darauf, welche Interventionen oder Leistungen notwendig und geeignet sind, um in einem individuellen Fall das Kindeswohl sofort und nachhaltig zu sichern. Dazu müssen weitere und andere Informationen und Gesichtspunkte in die Urteilsbildung aufgenommen werden, die nur im Rahmen einer vertieften Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten des konkreten Falls gewonnen werden können (Schrapper 2008b; Schrapper 2008a). Weil Handlungen und Unterlassungen, die das Wohl von Kindern gefährden können, typischerweise mit den Wertvorstellungen, Bedeutungszuschreibungen und Erlebensweisen der beteiligten Akteure verbunden sind (z. B. Bilder guter Elternschaft, Erwartungen an das Kind, Erwartungen an die Wirksamkeit bestimmter Erziehungsmethoden), können sie nur in einem kommunikativen Prozess zugänglich werden und in das Gesamtbild einfliessen.