Kitabı oku: «Frauenstimmrecht»
Diese Studie wurde im Auftrag des FRI –
Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft
und Gender Law erstellt.
Frauenstimmrecht
Historische und rechtliche Entwicklungen 1848–1971
Brigitte Studer
Judith Wyttenbach
Inhalt
Vorwort
Einleitung und Dank
Politische Aktion, Akteurinnen und Akteure, Argumente
Einleitung
Die politische Aktion
1848 bis 1872/74: die konzeptuelle Emergenzphase
Vor der Jahrhundertwende bis 1912: die organisationale und politische Konstruktionsphase
1916/17 bis 1921: das Opportunitätsfenster
Die Zwischenkriegszeit und die Kriegsjahre: Stagnation und Rückschläge
Die unmittelbare Nachkriegszeit: kurze Phase des Aufbruchs
Die langen 1950er-Jahre: die Suche nach Alternativtaktiken und der erste nationale Test
Die 1960er-Jahre: progressive Radikalisierung
Die Akteurinnen und Akteure
Eine kleine, organisierte Minderheit
Männer als Feministen
Lokale Eliten
Sittlich-soziales Engagement und Erwerbstätigkeit
Von den ledigen Lehrerinnen zu den verheirateten Juristinnen
Späte Auflösung der protestantischen Dominanz und vermehrtes parteipolitisches Engagement
Konstanz und Wandel über die Zeit
Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei den Gegnerinnen
Die Argumente
1917 bis 1921: Gerechtigkeit, Fortschritt und wahre Demokratie versus «die Frau gehört ins Haus»
Die Zwischenkriegszeit und die Kriegsjahre: weiblicher Beitrag versus unvergleichbare Schweizer Demokratie
Die unmittelbare Nachkriegszeit: Humanisierung des Staats versus Gleichheit nur für Gleiche
Die Botschaft von 1957: zweideutiger Bundesrat
Die Debatte in den eidgenössischen Räten 1957/58: Rückständigkeit versus Schadensbegrenzung
Die Westschweizer Debatten: der ökonomische Beitrag der Frauen versus alte Gegenargumente
Nach der Abstimmung 1959: Scheindemokratie versus Mehrheitsentscheid der Männer
Die 1960er-Jahre: staatspolitische Relevanz des Frauenstimmrechts versus Status quo
Die Debatte über die EMRK 1969: störende versus relevante Frauenorganisationen
Die Debatte 1970 über die Bundesratsbotschaft: Gleichstellung mit Differenz
Der Durchbruch 1971: Dank der «Grosszügigkeit des Männervolks»
Fazit
Politische Konjunkturen und internationale Kontexte
Die Geografie der politischen Auseinandersetzungen und Abstimmungen
Der Wandel der Zustimmungsraten
Die Palette der Entscheidungsmodi
Der Wandel der politischen Kräfteverhältnisse
Die Soziologie der Akteurinnen und Akteure
Das Kaleidoskop der Argumente
Anhang
Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis
Bibliografie
Kartenmaterial
Szenen und Objekte
Aktionsformen und Mobilisierungsmittel im Kampf um das Frauenstimmrecht
Abbildungsverzeichnis
Rechtlicher Diskurs und Handlungsinstrumente
Veröffentlichungen der schweizerischen Staatsrechtslehre und weitere juristische Publikationen
Staatsrechtslehre und juristische Literatur von 1848 bis 1873
Staatsrechtslehre und juristische Literatur von 1874 bis 1911
Staatsrechtslehre und juristische Literatur von 1912 bis 1939
Staatsrechtslehre und juristische Literatur von 1940 bis 1959
Staatsrechtslehre und juristische Literatur von 1960 bis 1971
Argumentationslinien in der juristischen Literatur
Würdigung der juristischen Debatte
Der Beitrag des Bundesgerichts zur Debatte bis 1971
Die Stellung des Bundesgerichts
Keine Chance für das Frauenstimmrecht vor Bundesgericht
Interpretationsweg bei der Anwältinnenzulassung – historische Interpretation beim Frauenstimmrecht
Würdigung
Staatsrechtsliteratur und verfassungsrechtliche Entwicklung in den Kantonen
Die Literatur zum Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene
Erste Forderungen zur politischen Gleichstellung: Schule, Kirche und Frauenstimmrechtsvereine
Das Männerstimmvolk und kantonale Eigenheiten
Die Rolle von Regierung und Parlament
Welche politischen Handlungsmöglichkeiten sah das Bundesverfassungsrecht vor?
Anfänge in den Kantonen
Bundesebene
Politische Rechte auf völkerrechtlicher Ebene bis 1971 – und die Schweiz?
Völkerrechtliche Standards im Bereich der politischen Rechte und der Nichtdiskriminierung vor 1971
Diskurs vor 1971 über die Frage der Menschenrechtsverletzung
Anhang
Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis
Bibliografie
Materialienverzeichnis
Das Frauenstimmrecht – weshalb es in der Schweiz so lange dauerte und weshalb es schliesslich dazu kam
Die «natürliche» Geschlechterordnung
Geschichte – Tradition – politisches System
Die soziale Dimension
Die wirtschaftliche Dimension
Die politischen Akteurinnen und Akteure
Die institutionelle Ebene
Föderalismus
Die internationale Ebene – transnationale Verflechtungen
Politische Konjunkturen
Autorinnen
Vorwort
Als Auftraggeberin der Forschungsarbeit von Brigitte Studer und Judith Wyttenbach hat die Stiftung FRI – Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law das Privileg, der Studie einige Worte zum Hintergrund ihres Auftrags vorausschicken zu dürfen.
Recht und Gesetz wirken direkt und indirekt auf die Geschlechterverhältnisse und auf die Gestaltung des Lebens von Individuen aller Geschlechter. Deshalb ist ein kritischer, geschlechterbewusster Blick auf das Recht gefragt: Diesen will das FRI einnehmen und fördert deshalb die feministische Rechtswissenschaft und Gender Law. Das Institut geht auf die Initiative von feministischen Juristinnen in den 1990er-Jahren zurück und wird aktuell von einer Gruppe von Personen getragen, die was Geschlecht, Generation, Region und beruflicher Hintergrund angeht, vielfältig zusammengesetzt ist. So ist denn auch die Vernetzung von an Geschlechterfragen im Recht interessierten Forschenden und Fachleuten aus Rechtsanwendung, Politik und Gleichstellungspraxis ein wichtiges Anliegen. Das FRI ist ein Ort des Diskurses, der sowohl auf einer rechtspraktischen wie einer theoretischen Ebene geführt wird, und wo Wert auf den Dialog zwischen den beiden Ebenen gelegt wird. Das Institut behandelt die Geschlechterfrage als Querschnittsthema, das alle Rechtsbereiche betrifft. Visionen sind eine geschlechtergerechtere Welt, die Freiheit der Lebensgestaltung ohne einengende, auf die geschlechtliche und sexuelle Identität bezogene Normen und der Abbau von Herrschaft und Hierarchien.1
Mit diesen Zielen vor Augen hat das FRI die Professorinnen Brigitte Studer (Geschichtswissenschaft) und Judith Wyttenbach (Rechtswissenschaft) im Herbst 2019 mit der Ausarbeitung der vorliegenden Studie beauftragt. Beweggrund dafür war, dass das FRI das 50-Jahre-Jubiläum der Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 2021 zum Anlass nehmen wollte, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft zu blicken: Mit Blick auf die Vergangenheit stellt sich die Frage der tieferen Ursachen dafür, dass die Schweizer Staatsbürgerinnen im internationalen Vergleich erst sehr spät, im Jahr 1971, Zugang zu den politischen Rechten erhalten haben. Welche gesellschaftlichen und kulturellen Gründe können aus historischer Sicht ausgemacht werden? Welche rechtswissenschaftlichen Diskurse, Akteurinnen und Akteure haben zur Aufrechterhaltung des diskriminierenden Zustands beigetragen, welche haben den Wandel hin zur Demokratisierung befördert? Welchen Spielraum hatten die Entscheidungsträger in den politischen Behörden und Gremien? Und wie ist das vergangene Unrecht aus heutiger Sicht zu bewerten? Den Autorinnen ist es mit ihrem Forschungsteam gelungen, zu all diesen Fragen höchst interessante neue Erkenntnisse zu gewinnen und gleichzeitig bestehendes Wissen zu systematisieren und so besser zugänglich zu machen.
Die bessere Kenntnis der Vergangenheit ermöglicht uns heute, in die Zukunft zu blicken: Aus juristischer Sicht ist dieses Jubiläum insbesondere eine Gelegenheit, auf die Frage nach der Auslegung von Normen zurückzukommen und damit auch auf die Macht der verschiedenen politischen und rechtlichen Instanzen, Fortschritte im Bereich der Gleichstellung zuzulassen – oder auch nicht. Zur Erinnerung: Wenn es notwendig war, zu warten, bis die Schweizer Männer zustimmten, den Schweizer Frauen das Stimm- und Wahlrecht zu gewähren, dann deshalb, weil das Parlament es nicht wagte, eine Änderung des Gesetzes über die politischen Rechte vorzuschlagen, die auf einer neuen Auslegung von Artikel 74 der Bundesverfassung von 1874 beruht hätte, wie Judith Wyttenbach darlegt. Diese Beobachtung beschränkt sich allerdings nicht auf die Frage der demokratischen Teilhabe: Generell bedeutet die tatsächliche Verwirklichung der Gleichstellung von Frauen und Männern und im weiteren Sinne aller Menschen notwendigerweise, sich von der historischen Bedeutung der durch das patriarchalische System geprägten Normen zu lösen, um innovative Interpretationen vorzuschlagen. Zwar tun sich unsere Institutionen immer noch regelmässig schwer, diesen Schritt zu gehen – man denke etwa an das Urteil des Bundesgerichts von 2014, in dem es eine Universität dazu verpflichtete, eine Studentenverbindung anzuerkennen, obwohl diese Frauen ausschloss,2 oder an jenes von 2019, in dem es sich weigerte, Artikel 3 Absatz 1 des Gleichstellungsgesetzes auf eine homosexuelle Person anzuwenden, mit der Begründung, dass Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes falle, weil es ihm an Geschlechtsspezifität fehle.3 Umgekehrt wagte unser höchstes Gericht den späten Schritt weg von der historischen Auslegung im Jahr 1990, indem es den in der Verfassung des Kantons Appenzell Innerrhoden verankerten Begriff der «Landleute» gleichstellungskonform auslegte.4 Das Bundesparlament tat es ihm in jüngerer Zeit gleich, indem es der Ansicht war, dass eine systematische, völkerrechtskonforme Auslegung der Artikel 14 und 119 der Bundesverfassung den Verzicht auf eine Verfassungsrevision zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare wie auch den Zugang zur Fortpflanzungsmedizin für Frauenpaare ermöglicht.5
Was lehrt uns vergangenes Unrecht für die Zukunft? Perspektiven für ein geschlechtergerechteres Recht sehen wir in einer besseren Nutzung der bestehenden Rechtsinstrumente durch Anwältinnen und Anwälte, die verstärkt auf die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen des Gleichstellungsgesetzes, aber auch auf das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) oder die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zurückgreifen könnten. Expertise im Bereich des Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsrechts sollte zu einem wesentlichen Kriterium für die Wahl von Richterinnen und Richtern ans Bundesgericht werden. Lehrangebote im Bereich der feministischen Rechtswissenschaft und Gender Law wären an den Schweizer Rechtsfakultäten zu entwickeln. Ganz grundsätzlich ginge es schliesslich darum, anknüpfend an Vordenkerinnen wie Olympe de Gouges, Iris von Roten, Tove Stang Dahl oder Margrith Bigler-Eggenberger, den rechtlichen Kompass konsequent nach der Lebensrealität von Frauen zu richten, oder zeitgemässer formuliert, Gleichheit aus der Perspektive der von Unrecht Betroffenen zu denken.6
Für das FRI – Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law
Véronique Boillet
Michelle Cottier
Sandra Hotz
Nils Kapferer
Zita Küng
Seraina Wepfer
Anmerkungen
1Vgl. zu den Aktivitäten des FRI die Website www.genderlaw.ch.
2BGE 140 I 201, E. 6.7.4.
3BGE 145 II 153, E. 4.
4BGE 116 Ia 359, E. 10c.
513.468 Parlamentarische Initiative «Ehe für alle». Bericht und Entwurf der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 30. August 2019, BBl 2019, S. 8595, 8600, 8610f.
6Baer, Susanne: Gleichheit im 21. Jahrhundert, in: Kritische Justiz 53/4 (2020), S. 543, 549f.
Einleitung und Dank
«Es gibt nur einen einzigen Grund, gegen das Frauenstimmrecht zu sein – aus Angst, Macht zu verlieren», gab Nationalrat Alois Grendelmeier, Vertreter des Landesrings der Unabhängigen, 1951 in der nationalrätlichen Kommission zu Protokoll. Auch die Juristin Iris von Roten fand 1958, im Vorfeld der ersten Volksabstimmung, deutliche Worte: «Der Riesensäugling will seinen Schnuller.» Es gehe darum, dass man auf Kosten der Frauen mehr vom weltlichen Leben haben könne und nichts an Selbstachtung, Geld und Bequemlichkeit einbüssen wolle, denn die politische Gleichberechtigung würde die Lage der Frauen und Männer bis «in die alltäglichen Einzelheiten» bedeutend verändern. Statt über die Wahrheit zu reden, kämen jedoch einzig Vorwände zur Sprache. Wir befassen uns in diesem Buch mit den institutionellen Hürden der Schweizer Verhinderungsdemokratie, den politischen Entwicklungen, den Akteurinnen und Akteuren und den Diskursen auf dem Weg zum Frauenstimmrecht. Letztlich kommt aber der Angst vor Machtverlust, die Alois Grendelmeier bezeichnete, und der Kraft der Vorwände, die Iris von Roten erwähnte, die entscheidende Rolle zu, weshalb die Einführung des Frauenstimmrechts im System der Männerdemokratie Schweiz erst so spät erfolgte.
Im Herbst 2019 beauftragte uns das Schweizerische Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law (FRI), im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 2021 eine Studie zur Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz zu verfassen. Die Studie sollte sich anhand konkreter Fragestellungen mit den gesellschaftlichen und rechtlichen Debatten vor der Einführung des Frauenstimmrechts auseinandersetzen: Zu welchen Zeitpunkten wurde die Einführung besonders intensiv diskutiert? Welche Akteurinnen und Akteure waren in diesem Prozess besonders wichtig? Wie verliefen die gesellschaftlichen Diskurslinien? Wie wurde das Frauenstimmrecht in der rechtswissenschaftlichen Debatte diskutiert? Inwiefern stellte der Ausschluss von den politischen Rechten aufgrund des Geschlechts vor 1971 eine staatliche Menschenrechtsverletzung dar? Welche Handlungsmöglichkeiten bestanden in Bund und Kantonen auf politischer und rechtlicher Ebene, und welche wurden genutzt? Und schliesslich: Weshalb war die Einführung zu früheren Zeitpunkten gescheitert, und warum gelang sie 1971? Der Auftrag führte zu einer interdisziplinär angelegten Studie mit einem historischen Teil, verfasst von Brigitte Studer, und einer Diskursanalyse aus rechtswissenschaftlicher und rechtshistorischer Sicht von Judith Wyttenbach und den Doktorandinnen an ihrem Lehrstuhl, Daniela Feller, Sanija Ameti und Laura Bircher. Die Studienanlage mit je eigenen Fragestellungen und Forschungsdisziplinen bringt mit sich, dass die Teile unterschiedlich aufgebaut sind und sich zum Beispiel auch die Belegung und Zitierweise unterscheiden. Aus der gemeinsamen Reflexion und Diskussion der beiden Teilstudien entstand die Synthese mit den übergreifenden Erkenntnissen, die den dritten Teil dieses Buches bildet.
Wissenschaft schreibt sich nie isoliert. Wir sind keine Ausnahme und möchten daher danken:
–dem FRI für den Auftrag, der uns dazu motivierte, mit einem interdisziplinären Blick und anhand konkreter Fragestellungen auf die spannende Geschichte des Frauenstimmrechts zu schauen;
–den Mitgliedern des Sounding Boards, die eine erste Fassung gelesen, kritisch kommentiert und uns wertvolle Hinweise gegeben haben (Caroline Arni, Michelle Cottier, Ruth Dreifuss, Irène Herrmann, Sandra Hotz, Regula Kägi-Diener, Claudia Kaufmann, Zita Küng, Andrea Maihofer, Lisa Mazzone und Yvonne Schärli);
–Regula Kägi-Diener und Werner Seitz, die sich das gesamte Manuskript zur Brust genommen, sehr detailliert kommentiert und uns auf Unstimmigkeiten hingewiesen haben;
–Lisia Bürgi, Eliane Braun und Sabrina Alvarez für ihre umfangreichen, akribischen und teilweise schwierigen Recherchen, die Erstellung von Übersichten und Tabellen und für die redaktionellen Arbeiten;
–Monika Wyss für die formale Durchsicht des rechtswissenschaftlichen Teils.
Eine Erklärung zur Begrifflichkeit: In der Schweiz wird umgangssprachlich und in den Quellen der Begriff «Frauenstimmrecht» verwendet, doch sind damit sowohl das Wahlrecht als auch das Stimmrecht gemeint. In den politischen Debatten wurde im Deutschen vielfach die Unterscheidung zwischen «aktivem» und «passivem» Stimm- und Wahlrecht gemacht (eine Unterscheidung, die teilweise auch auf Französisch übernommen wurde). Ersteres meint das Recht, sowohl abstimmen wie wählen zu dürfen, Letzteres nur die Wählbarkeit. In den historischen Debatten war auch der Begriff «integrales» Frauenstimmrecht in Gebrauch. Damit wurden diejenigen politischen Rechte bezeichnet, über die in der Regel seit 1848 auch die Schweizer Männer verfügten: Stimm- und Wahlrecht, Wählbarkeit von der Gemeinde über den Kanton bis zum Bund sowie eventuelle weitere mit der Aktivbürgerschaft verbundene Rechte. In den Debatten über das Frauenstimmrecht bezog sich jedoch das «integrale» Frauenstimmrecht manchmal auch nur auf Gemeinde und Kanton.
Neuenburg und Bern, im Februar 2021
Brigitte Studer und Judith Wyttenbach
Politische Aktion, Akteurinnen und Akteure, Argumente
von Brigitte Studer
Einleitung
1893 erhielten die Frauen Neuseelands das Wahlrecht. Einige amerikanische Gliedstaaten waren vorausgegangen; die ersten Staaten Europas führten es nach der Jahrhundertwende ein, 1906 zuerst Finnland, dann, nach dem Ersten Weltkrieg, gab es eine grosse Welle, nach dem Zweiten Weltkrieg eine kleinere, in der fast alle folgten. International noch kaum beachtet, hatten die zu Grossbritannien gehörenden Pitcairninseln das Frauenstimmrecht bereits 1838 eingeführt. Nur in der Schweiz dauerte es bis 1971; so spät erst wurde den Schweizerinnen der Status von politischen Rechtssubjekten gewährt.1
Der formale Ausschluss der Frauen aus der Politik ging der Legitimation dieses Ausschlusses voran. Benötigte die Französische Revolution vier Jahre, bevor sie die Frauenklubs schloss und die Jakobiner-Frauen damit aus der neu konstituierten öffentlichen Sphäre verbannten, erledigten dies die eidgenössischen Verfassungsgeber 1848 still und diskussionslos. Sie etablierten ein universelles Männerstimmrecht, das die kommenden 123 Jahre den Schweizer Stolz begründete, die «älteste Demokratie der Welt» geschaffen zu haben – eine Demokratie, die mit anderen inkommensurabel war. Für die Schweiz, meinen Brigitte Schnegg und Christian Simon, waren zur Zeit der Helvetischen Republik die grossen Kämpfe der Frauen bereits stellvertretend in Frankreich entschieden worden, die Männer waren gewarnt.2 Die entstehende bürgerliche Gesellschaft distanzierte sich von der in ihren Augen verweichlichten aristokratischen Gesellschaftsordnung und ihren geschlechtergemischten Geselligkeitsformen, wie sie in der Schweiz auch die urbanen patrizischen Oberschichten in Bern, Neuenburg, Genf und Lausanne pflegten. Das Geschlecht galt nun für das politische Partizipationsrecht als ausschlaggebend. Die schweizerische Aufklärung, angeführt vom Zürcher Kreis um Johann Jakob Bodmer, orientierte sich an den alten Schweizer Tugenden Wehrhaftigkeit, Sparsamkeit, Sittenstrenge, von Rousseau idealisiert und auch von den französischen Republikanern zum Vorbild gemacht. Neu kam die Vernunft hinzu, wie die Politik eine Männersache. Weiblichkeit galt als deren Gegensatz. Die Frauen hatten im Haus zu wirken, da konnten sie als Gattin und Mutter schalten und walten. Die Vertretung gegen aussen der als arbeitsteilige wirtschaftliche Einheit funktionierenden Familie fiel hingegen dem Mann zu. Er verkörperte das bürgerliche Rechtssubjekt. Wie Carole Pateman gezeigt hat, war die Geschlechterdifferenz für die Bildung der neuen politischen Öffentlichkeit im Liberalismus konstitutiv.3
Das ganze 19. Jahrhundert und beinahe das ganze 20. Jahrhundert bemühten sich Theoretiker, den Ausschluss der Frauen zu legitimieren. In einem kaum enden wollenden Redeschwall juristischer, philosophischer, literarischer und medizinischer Stellungnahmen und Schriften erklärten sie, dass diese Organisation der Gesellschaft der Geschlechternatur entspreche. Paradigmatisch formulierte es der Schweizer Staatsrechtler Johann Caspar Bluntschli: «Der Staat ist entschieden männlichen Charakters.» Im Endeffekt wurde ein soziales Konstrukt – die polarisierte bürgerliche Geschlechterordnung – naturalisiert. Dabei schrieben diese Theoretiker nicht nur gegen die seit der Aufklärung ertönenden feministischen Stimmen an, etwa einer Mary Wollstonecraft, sondern auch gegen einzelne Vertreter ihres eigenen Geschlechts, etwa einen Marquis de Condorcet, der sich zum Prinzip der Gleichheit aller Menschen bekannte und die politische Rechtlosigkeit von Frauen aufgrund einer wie auch immer verstandenen biologischen Differenz ablehnte.
Einigkeit herrschte im 19. Jahrhundert aber nur in Bezug auf das Verständnis der Geschlechterordnung, das die erst raren dissidenten Stimmen noch nicht zu erschüttern vermochten; sie dienten freilich als Warnung, dass dies nicht immer so bleiben könnte. Der Streit um politische Ordnungen hingegen, zwischen direkter Demokratie und Elitenherrschaft, zwischen Republikanismus und Liberalismus, zwischen Konservatismus und Radikalismus, zwischen Landsgemeinde und Parlamentarismus, zwischen Gemeindeautonomie und Zentralismus, löste sich nie ganz auf, auch wenn sich diese Elemente in der entstehenden eidgenössischen politischen Kultur allmählich vermischten. Es herrschte jedenfalls die Vorstellung vor, dass die politische Vertretung dem Familienhaupt zukam, und dieses war legal und habituell männlich. Frauen standen in vielen Kantonen bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter der männlichen Vormundschaft, die verheirateten mit dem Zivilgesetzbuch von 1912 de facto sogar bis 1988. Der Rückgriff auf eine mythologisierte Schlachtengeschichte, alimentiert durch die Offizialisierung der heroischen Vergangenheit, waren der Sicherung eines männerbündischen Gemeinwesens ebenso förderlich wie das Aufblühen einer exklusiven Männersoziabilität in patriotischen Vereinen, Berufsorganisationen und nicht zuletzt in der Milizarmee.4 Zum Ursprung und Kern des Schweizer Nationalkonstrukts wurde die Landsgemeinde stilisiert. Bis weit ins 20. Jahrhundert galt sie fälschlicherweise selbst Feministinnen als das Modell, das hinter der Verfassung des Bundesstaats stand.5 Das verlieh jenen Vertretern der Kantone eine Aura der Unantastbarkeit, wenn sie behaupteten, dass das Frauenstimmrecht mit der Schweizer Demokratietradition und ihren Formen nicht kompatibel wäre. «Wenn Sie uns unsere Landsgemeinden zerstören, zerstören Sie ein Stück Heimat», meinte 1966 ein Glarner Ständerat in Verteidigung seiner «Männergemeinde».6 Erst spät verlor der Erhalt des Schweizer «Männerstaats» – so ein Befürworter des Frauenstimmrechts in derselben Debatte – an Legitimität.7 Das Bekenntnis zur nationalkulturellen Selbstwahrnehmung stellte Gleichstellungsforderungen eine Falle, argumentiert Caroline Arni, bedeutete es doch ein Bekenntnis zu einem politischen Gemeinwesen, das ohne Frauen auskam.8
Der Weg, über die Erweiterung der zugewiesenen Rolle im häuslichen und karitativen Bereich, über die «domestication of politics»,9 Gleichstellung zu erreichen, führte daher nicht weit. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lösten sich einzelne Frauen von dieser Hoffnung, auf lokalpolitischer Ebene und dank ihres moralischen Auftrags zum Ziel zu kommen, und erhoben die Forderung von gleichen politischen Rechten. 1909, im selben Jahr übrigens, als in Frankreich die Union française pour le suffrage des femmes entstand, bildeten die Schweizerinnen dann ihre nationale Interessenorganisation für das «integrale» Stimm- und Wahlrecht, also für dieselben politischen Rechte wie die Männer.
Auch dieser Weg war lang, wie im Folgenden zu zeigen ist. Nicht zuletzt, weil die Ungleichheit der Geschlechter durch die Arbeit der Behörden und Parlamente, Parteien und Gewerkschaften immer wieder neu hergestellt und konsolidiert wurde.10 Dargestellt wird zuerst das politische Handeln der Stimmrechtsaktivistinnen und -aktivisten sowie ihrer Gegnerschaft in Kantonen und Bund. Danach richtet sich der Fokus auf die Akteurinnen und Akteure. Schliesslich wird nach den argumentativen Strategien in dieser langjährigen und virulenten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzung gefragt.