Kitabı oku: «Gesicht im blinden Spiegel», sayfa 2
Der Mann im langen Gewand sucht nach Überlebenden.
Er kümmert sich nicht um die Heldenfeier des Königs von Preußen. Langsam geht er über das Schlachtfeld, den Blick zu Boden gesenkt, aufmerksam und von Zeit zu Zeit mit einem Stock etwas umdrehend, etwas, das einmal ein Mensch war. Er ist der preußischen Armee attachiert, aber er unterscheidet nicht zwischen Freund und Feind. Er erkennt sie an der Uniform, aber es hat nichts zu bedeuten. Der Mann sucht nach Verwundeten. Prüft, ob nicht doch einer noch lebe. Nicht verblutet sei an zerfetztem Bein, offenem Gedärm oder einer Kugel im Kopf. Die Hoffnung ist nicht groß. Die Nacht ist kalt gewesen, der Tag ist schwül und heiß. Es ist fast zwanzig Stunden nach dem Ende der Schlacht. Große schwarze Vögel haben sich zu reicher Beute niedergelassen. Aber er hat früher mitunter noch nach drei, vier Tagen Überlebende gefunden.
Der Mann steigt stetig über den Tod.
Er scheint ein Ritter des Johanniterordens zu sein. Die Johanniter sind die Engel der Schlacht von Königgrätz. Alle sind sie freiwillig gekommen und haben ein kleines Heer besonderer Art mitgebracht: Ärzte, Geistliche, Krankenwärter und -wärterinnen, Bahrenträger, Schwestern und Brüder zur Pflege. Sie kamen, um die dem Militär unterstellten Hilfseinrichtungen zu unterstützen. Waren die ersten, die Lebensmittel und Verbandszeug in die Lazarette brachten, und bauten um die Kampfzone mit freiwilligen Spenden der Ritter bewegliche Krankenstationen auf. Für die Schwerverwundeten öffneten sie ihre großen Ordensspitäler vom Rheinland über Dresden bis zu den Städten Schlesiens. Zu ihrer Unterstützung integrierten sie kleine Gruppen von Männer- und Frauen-Kongregationen aus den unzähligen deutschen Kleinstaaten und Reichsstädten, wie Franziskaner, Barmherzige Schwestern, Alexianer-Brüder oder Cölestinerinnen zur Heiligen Maria. Schon am Nachmittag der Schlacht von Chlum standen siebzig Wagen der Johanniter zum Abtransport der Verletzten bereit.
Der Mann im langen Gewand ist seit Tag und Nacht und Tag auf den Beinen, ohne ein Stück Brot, nur mit einem Schluck Wasser. Er hat schon Viele gerettet. Er ist müde. Aber noch immer sieht man ihn suchen, langsam und gebeugt.
Und da – – hat er da eine Bewegung gesehen, eine winzige Bewegung? Das Heben einer Hand, eines Fingers vielleicht nur, aber doch eine Bewegung? War es Täuschung? Er kniet nieder. Tastet, prüft. Ein junger Soldat. Er hat ein zerschossenes Gesicht. Sein Mund ist ein Loch voll verkrustetem Blut. Der Rest eines Signalhorns liegt an einem dünnen Riemen neben seiner Schulter. Der Johanniter fühlt den Puls: der lebt! Ja, der lebt! Er springt auf, winkt den beiden Trägern, die am Waldrand gewartet haben. Kaum noch Wärme in diesem Häufchen Mensch. Ist eiskalt und totenblass, er muss große Mengen Blut verloren haben. Ein zweiter junger Soldat liegt zusammengekrümmt zwischen den Knien des ersten. Er ist tot.
Kinder, das sind ja fast noch Kinder!, ruft der Mann, als sie den Verletzten vorsichtig auf den zweirädrigen Karren betten und den aufgewühlten Hügel Richtung Lazarett hinunterfahren. Hat man sie einfach zur Schlacht getrieben, braves Schlachtvieh? Hatten die keine Väter, die es ihnen verboten haben, in den Krieg zu ziehen? Wer hat das zugelassen? Wer hat sie so verführt? Und schlägt sich auf den Kopf und rennt voraus. Die beiden Helfer sehen sich verschreckt an. Und leiser, zu sich selbst gesprochen am Rand des Zuckerrübenfeldes: Waren sie selbst so verblendet, so leichtsinnig, so ahnungslos? So überzeugt vom Siegen? Und wussten nichts vom Tod?
Warum? Wütend schreit er es hinaus: Warum? Da hilft kein Gott, kein Heiliger.
Er hat viel gesehen, ist schlachterfahren und abgestumpft, um es ertragen zu können. Aber dieser junge Soldat mit dem zerfetzten Gesicht erinnert ihn an einen anderen, der ihm nahe, sehr nahe war. Und den er in den Straßenschlachten von Prag während der Aufstände gegen die Habsburger im Jahre 1848 verloren hat.
Und den er nicht hatte retten können.
Der König von Preußen kommt zurück vom Hügel von Chlum. Mit seinem Gefolge reitet er an dem kleinen Elendszug vorüber. Die milchigen, feuchtigkeitsgetränkten Strahlen der Sonne dieses neuen Tages lassen die goldenen Uniformknöpfe aufblitzen. Zwei Offiziere lachen. Die Hufe der Pferde werfen Schlamm auf. Der Ritter von den Johannitern kümmert sich nicht darum. Er beugt nicht das Knie. Er schaut den Halbtoten an auf dem hölzernen Karren.
Du, sagt er still. Du, ja, du sollst gerettet werden.
II
Ein junger Soldat liegt im Lazarett von Jičín.
Es ist dunkel.
Es ist Nacht am Tag und Nacht in der Nacht.
Der Arzt kommt und geht, die Schwestern kommen und gehen. Er merkt es nicht. Nur wenn der Johanniter den Raum betritt, wo die Moribunden liegen, scheint er unruhig zu werden. Die dritte Woche nach der Schlacht geht zu Ende. Noch kann der Arzt nicht sagen, ob der junge Mann durchkommen wird. Er wisse auch nicht, sagt er zum Ordensritter, ob er es ihm wünschen solle. Die rechte Seite von Kinn und Wange ist schwer verletzt, die Unterlippe ein mühsam zusammengeflicktes Etwas. Ein Schrapnell, ein Granatsplitter, eine Gewehrkugel – es ist schwer zu sagen. Ein Glück, sagt der Arzt, dass der Kieferknochen nicht stärker zerstört ist. Ein Teil der Wunden hat zu eitern begonnen.
Der Patient hat hohes Fieber.
Schüttelfrost wirft ihn vom Lager auf.
Dann wieder bricht Schweiß am ganzen Körper aus.
Der Mann im schwarzen Gewand sitzt an seiner Seite.
Viele Tage und Nächte, wenn es der Dienst erlaubt.
Er redet mit dem immer noch Bewusstlosen.
Nimmt die leblose Hand.
Redet ruhig, aber stetig und erzählt ihm Geschichten von der Schönheit. Vom Glanz der Sommertage draußen über dem Stadtplatz von Jičín, über den sich der Himmel blau wölbt, als ob nichts geschehen wäre, über den kleine Wolkenbänke ziehen und nachts der Mond aufgeht als Hort der Träume. Erzählt, wie unter den Arkaden das Leben weiterläuft, der Schneider einen neuen Herrenanzug in der Auslage drapiert, eine Bäuerin aus ihrem Weidenkorb Eier, jungen Lauch und rote Ribisel verkauft und in den Wirtshäusern Bier und Nussschnaps ausgeschenkt werden. Dass beim Uhrmacher ein Schild an der Türe hängt mit der Aufschrift „Geschlossen durch Tod von Meister und Lehrbub“ erzählt er nicht und ebenso wenig, dass viele schwarz gekleidete Frauen über das Pflaster gehen, die adeligen Damen mit wehendem Witwenschleier bis zum Boden. Er verschweigt, dass Wehklagen aus den offenen Fenstern zu hören ist und dass der eine oder andere Amputierte den ersten scheuen Ausgang versucht, mühsam das Gehen mit Krücken erlernend mit nur einem Bein oder das Gleichgewicht suchend mit nur einem Arm. Dass Kinder an den Ecken stehen und die Hand aufhalten, die Augen groß vor Hunger. Wenn er daran denkt, schweigt der Johanniter eine Weile. Hält die Hand, streicht mit einem Tuch über die schweißnasse Stirn. Lüftet die Bettdecke. Und beginnt vielleicht wieder zu reden, bevor er geht, und erzählt, dass in den Gärten und Alleen die Akazienblüten ihren verrückt machenden Duft verströmen und die Abende lau und still sind.
Und dann erzählt er von der Liebe.
Niemand wusste, wie der Verletzte hieß. Woher er kam und wen man verständigen könnte. Alles, was Auskunft über die Identität hätte geben können, war zerschossen und verloren. Man erkannte an der Kleidung, dass er Österreicher war, zumindest auf der österreichischen Seite gekämpft hatte. Aber man wusste nicht genau, in welcher Kompanie, unter welchem Kommandeur. Viele von ihnen waren tot. Allein bei den letzten Angriffen auf Chlum und Umgebung hatte das I. Korps, Benedeks letzte Reserve, fast 300 Offiziere und beinahe 6 000 Mann verloren. Abertausende waren von den Preußen gefangen genommen worden. Es gab zwar Verbindungen unter den Lazaretten beider Seiten, den Stellen für Gefangenenaustausch und auch zwischen den Organisationen, die sich um den Verbleib der Vermissten bemühten.
Aber es herrschte Chaos.
Die Restarmee der Habsburger war auf der Flucht.
Die Preußen drängten nach.
Die einen kämpften ums Überleben.
Die anderen waren im Siegestaumel.
Man musste also warten.
Sich gedulden, bis der Verletzte sprechen konnte.
Falls er je sprechen können sollte.
Oder schreiben.
Es war die sechste Woche nach der Schlacht von Königgrätz.
Der Sommer hatte sich das Böhmische Paradies als sein bevorzugtes Reich gewählt und bedachte es mit allen seinen Gaben. Mit stetem Schönwetter, erträglicher Hitze, milden Gewittern. In den späten Stunden des Tages legte sich angenehme Kühle über Land und Menschen. Morgens stiegen die Lerchen in den tiefblauen Himmel und abends sang die Amsel zur guten Nacht. In den Randgebieten des Paradieses, wo keine Truppen durchgezogen und keine Kämpfe stattgefunden hatten, war das Getreide geerntet, reifte der Hopfen, röteten sich die Birnen und blühten die Levkojen in den Gärten.
In den Hügeln und Tälern um Rosberitz, Sadowa und Chlum, um Skalitz und Königgrätz sowie in den weitläufigen Ebenen an den Ufern der oberen Elbe begann unter der leisen Melodie der Trauer ein neuer Tag. „Wiederaufbau“ wird es benannt nach jedem Krieg. Die Menschen weinten und arbeiteten. Suchten zusammen, was geblieben war: eine Erinnerung, einen Kinderwagen, eine Säge, ein paar Ziegel, einen Flecken Erde. Sie gingen schlafen und sie gingen ans Tagewerk und sie gingen auf den Friedhof. Sie gingen zur Sonntagsmesse irgendwo in den Trümmern oder blieben trotzig zuhause und irgendwann merkten sie, dass sie überlebt hatten und suchten nach einer Zukunft, vielleicht nach einer kleinen zärtlichen Berührung.
Helmuth von Moltke besetzte Prag, das geschlagene österreichische Heer flüchtete weiter Richtung Wien. Bekam Verstärkung von Erzherzog Albrecht, der von der siegreichen italienischen Front zurückberufen worden war. In Niederösterreich wütete die Cholera, gierige Trabantin großer Heereszüge. Ministerpräsident Otto von Bismarck, der wie keiner sonst zur Entscheidungsschlacht gedrängt hatte, verhinderte zur Überraschung aller nun die Fortsetzung des Krieges mit besseren Argumenten: Das Ziel, Österreich aus dem Deutschen Bund zu verdrängen, wäre erreicht, jetzt aber wäre es klüger, den Gegner für zukünftige Zusammenarbeit zu gewinnen. Am 23. August 1866 wurde in Prag Frieden geschlossen.
Um den Mann im langen schwarzen Gewand, der sich Johanniter nennt, ist eine Aura des Unerklärlichen. Wie nicht ganz von dieser Welt, wie zwischen den Zeiten.
Jetzt öffnet er leise die Tür zum Krankenzimmer. Bleibt eine Weile, geht und kommt wieder und setzt sein stilles Reden fort, du sollst wissen, mein kleiner Soldat, sagt er, dass ein Aufatmen durch das Land geht. Es war ein unseliger Bruderkrieg, aber jetzt ist Frieden. Wenn du aufwachen wirst, wirst du wissen, was das bedeutet: Frieden. Du wirst es erstmals erkennen. Und du wirst später – glaub es mir einfach, Lieber – den Dichter Theodor Fontane lesen, er wird diesen Krieg den „Deutschen Krieg“ nennen und dies zu einer Zeit, in der Preußen bereits den nächsten Krieg siegreich beendet haben wird. Es wird überhaupt viel geschrieben und spekuliert werden, in Berlin auf diese Weise, in Prag auf jene, in Wien auf eine dritte Art und in Lemberg, Sarajewo, Paris oder Venedig noch einmal anders.
Venetien, auch das sollst du wissen, ist übrigens in seinem italienischen Teil für Österreich verloren. Es ist eine geheime Schacherei der Mächtigen gewesen, dennoch hat man mit Trommeln und Trompeten nur wenige Tage vor Königgrätz zur Schlacht von Custoza geblasen. Sie ist von den Österreichern gewonnen worden, aber es war sinnlos. Verbrecherisch sinnlos die Toten, Verwundeten, Elenden auf beiden Seiten. Venetien war verloren, bevor die ersten Kampfhandlungen begonnen haben …
Der Kranke stöhnt auf.
Durch das offene Fenster ist das Wiehern eines Pferdes zu hören, dann ein Kinderlachen, das Springen eines Balls. Leichter Wind bewegt die Vorhänge.
In das Haus Nr. 1223 in Neustadt an der Mettau, dem Haus mit dem Schaf als Emblem auf der Fassade zum Marktplatz, war in den Wochen nach der Schlacht von Königgrätz das Schweigen eingezogen. Die Eltern schwiegen, die Tochter schwieg. Die beiden älteren Söhne hatten die Kämpfe überlebt. Franz, der Älteste, war wieder nach Wien abgereist, wo er nach Abschluss des Polytechnikums schon vor dem Krieg eine Stelle im Eisenbahnministerium gefunden hatte. Er war ungern gefahren. Unter den Geschwistern liebte er Johannes am meisten, den Jüngsten, der an seinem großen Bruder hing wie am Leitstern seines Lebens. Johannes war der kleine Rausch in einer nüchternen Familie gewesen, er lachte und wirbelte durch die Wohnung und später spielte er Trompete. Mit elf Jahren hatte er begonnen, er hätte es schon viel früher tun wollen. Aber der Musiklehrer hatte davon abgeraten, denn zuerst müssten Zähne, Kiefer und Lippen gefestigt sein, um einen entsprechenden Druck und eine präzise Spannung aufbauen zu können. Aber elf, zwölf Jahre, da könne man beginnen. Und: der Bub habe großes Talent – das sagte er bereits nach kurzer Zeit. Franz wollte in Wien im Kriegsministerium Nachforschungen betreiben, ein Zeichen finden, einen Hinweis, eine Hoffnung. In den Gefangenenlisten schien Johannes nicht auf, das wussten sie.
Karel, der es sich verbat, Karl gerufen zu werden und der Neustadt an der Mettau nicht anders als mit dem tschechischen Namen Nové Město nad Metují in den Mund nahm, hatte noch ein Jahr des verhassten Militärdienstes zu leisten. Er war kein Pazifist, neigte mitunter sogar zu Gewalttätigkeit. Aber es war die k.k. Armee des Habsburger Reiches, dem er nicht dienen wollte und das den Bestrebungen nach einer unabhängigen tschechischen Nation im Wege stand. Er hatte vor, nach Absolvierung seines Dienstes nach Prag zu gehen. Er wusste noch nicht, was genau er dort wollte, aber es war Prag, wohin er musste, in Prag wurde die tschechische Sache vertreten, in Prag war was los, sagte er. Er nahm die Sache mit Johannes, und wieder sagte er „die Sache“, leichter als die übrige Familie. Er wird schon auftauchen, der Kleine, sagte er, und zum Vater: „Hättest ihn halt nicht gehen lassen sollen.“
Der Vater Quirin Czermak war ein milder Mann. Er hatte weder mit Drohungen noch mit klugen Einwänden den stürmisch-überzeugt-verblendeten Johannes daran hindern können, sich freiwillig zu melden. Er wusste auch den radikal-tschechischen Ansichten Karels nichts entgegenzusetzen. Quirin hielt sie für das Ergebnis von Agitatoren, denn er hatte Zeit seines Lebens die friedliche Koexistenz gelebt und war dafür eingestanden. Er selbst hatte gemischt österreichisch-tschechische Ahnen, wie sein Vor- und Zuname zeigten, und seine Frau Rosa, die Mutter seiner vier Kinder, war die Tochter eines tschechischen Bauern. Alle in der Familie waren – besser oder schlechter – zweisprachig, mit Vorliebe zum einen oder anderen Idiom, aber dennoch geübt in beiden. So nahm er Karels Verhalten als Zeichen der Zeit und fand Trost in der Beobachtung, dass der ideologische Riss in vielen Familien durch die Generationen ging.
Die Unsicherheit über das Schicksal von Johannes hatte die Lichtlosigkeit in das Haus gebracht, die leiseren Schritte, die freudlosen Mahlzeiten. Die Mutter weinte, wenn sie alleine war. An manchen Sonntagen ging sie zur alten Holzkirche hinaus, die im sechzehnten Jahrhundert für Johannes den Täufer vor den Toren der Stadt erbaut worden war und einsam am Rand der Wälder lag. Nach ihm, dem Heiligen, hatten sie ihren Jüngsten getauft. Quirin glaubte, Schuld zu sein am Weinen, am Weggehenlassen, dem ganzen Unglück. Nicht, dass ihm jemand Vorwürfe gemacht hätte, aber unausgesprochen vielleicht doch. Franz nahm das Ereignis als freie Entscheidung des kleinen Bruders. Sie hatten in Erfahrung gebracht, dass Bohumil tot war, hatten den Eltern in Pardubice kondoliert und bedauert, dass sie nicht von der Totenfeier benachrichtigt worden waren. Sie hätten gerne erfragt, ob Bohumils Eltern Genaueres über die letzten Tage vor der Schlacht wüssten, ob sie herausgefunden hätten, wo genau, in welchem Kampf, unter wessen Kommando Bohumil zu Tode gekommen wäre – sie waren jedoch auf kühle, fast feindselige Ablehnung gestoßen und mit der Auskunft abgefertigt worden, dass man nichts wüsste. Auf dem Partezettel stand nur: Geboren am … Gestorben am 3. Juli 1866. Der dritte der drei Freunde, Ferdinand, war möglicherweise von den Preußen gefangen genommen worden. Franz hatte dessen Namen in den Gefangenenlisten gefunden, es hatte sich jedoch herausgestellt, dass es nur eine Namensgleichheit war, und von einem sechzehnjährigen Ferdinand Weiss aus Wien gab es vorläufig keine Kenntnis. Die Behörden versprachen weitere Nachforschungen. Ferdinands Eltern übersiedelten bald darauf nach Czernowitz, von wo aus sie alles versuchen wollten, um den Verbleib der Söhne herauszufinden.
Quirin Czermak stand in seiner Werkstatt an der Rückseite des Hauses Nr. 1223.
Er blickte in das sonnige Gärtlein.
Nahm gedankenlos ein Werkzeug zur Hand.
Legte es wieder hin.
Dachte daran, wie alles geworden war.
Die Werkstatt hier war ihm längst zu klein, darum hatte er am Ufer der Mettau ein leerstehendes Gebäude gemietet. Er selbst ging mehrmals am Tag den steilen Fußweg mit den vielen Treppenabsätzen hinunter, um den beiden Gesellen und dem Lehrbuben Anweisungen zu geben und die Arbeit zu überwachen. Quirin war Kunsttischler und weithin bekannt für seine Geschicklichkeit und seinen ästhetischen Sinn. Vom Lehrbuben in Jičín hatte er sich zum gesuchten und hoch geschätzten Kunsttischler mit zwei Betrieben in Neustadt emporgearbeitet. Er war ernst und zuverlässig und lieferte pünktlich. Sein Ruf gründete sich vor allem auf seine Fertigkeit, Kommoden und Kästen, Tische und Sessel sowie kleinere Einrichtungsgegenstände und Schatullen in barockem Stil anzufertigen. Das war gerade in Mode gekommen und beliebt in Adelskreisen und bei zu Ansehen und Reichtum gekommenen Bürgern. Er war viel unterwegs in den zahlreichen Schlössern und neuen Villen des Böhmischen Paradieses, des Glatzer Grenzlandes und des Königgrätzer Kreises. Wenn er eine neue Bibliothek mit verzierten Einbauten auftragsgemäß ausgeführt hatte und die Bücher wieder in Reih und Glied standen, nahm er mit Staunen diese für ihn neue Welt wahr. Er hatte Scheu und Ehrfurcht davor. Und erzählte zuhause den damals noch kleinen Kindern davon, mit unterschiedlicher Resonanz. Nur Johannes hatte große Augen gemacht und wollte das nächste Mal mitgenommen werden. Rosa bewunderte liebevoll ihren Mann, der begonnen hatte, sich selbst eine kleine Bibliothek zu bauen, Bücher zu kaufen und sie auch zu lesen. Rosa war auf einem Bauernhof aufgewachsen, auf dem die tägliche Mühsal und Sorge um Kuh, Krautkopf und Heuschober das Leben bestimmt hatten, nur ein Kalender hing an der Küchenwand mit Heiligengeschichten.
Bei der adeligen Herrschaft von Neustadt war Herr Czermak beliebt. Das Schloss, das auf dem Felsrücken hoch über der Mettau lag, hatte mehrmals die Besitzer gewechselt, von den Leslies zu den Liechtensteins bis zu den Lambergs und anderen. Die herrschaftlichen Familien wohnten schon lange nicht mehr hier, sie kamen nur kurz auf Besuch und hatten einen Verwalter eingesetzt. Wichtig für sie waren allein die beträchtlichen Erträge aus Land-, Forst- und Handelswirtschaft. Dass diese mit zunehmender Liberalisierung und dem Aufkommen weitläufiger Industrieanlagen kleiner wurden, nahmen sie mit Unmut zur Kenntnis.
„Groß genug für das Adelspack“, sagte Karel, „jagt sie zum Teufel, diese österreichischen Ausbeuter!“
„Vergiss nicht“, entgegnete der Vater, „dass unter ihnen auch viele böhmisch-tschechische Geschlechter waren und sind, die Wallensteins zum Beispiel, die ursprünglich Valdštejna geheißen haben, wie du weißt, die Trčkas, Kinskys und so weiter –“
„Egal, sie haben uns alle lang genug regiert und ausgesaugt! Und die meisten sind ja doch aus Wien gekommen, zumindest aus dem Dunstkreis des Kaisers, dem das reiche Böhmen brav den immer leeren Säckel gefüllt hat.“
„Gebt doch Frieden“, sagte Rosa und brachte die süße Nachspeise. Der Nebel stand vor den Fenstern der Wohnstube im ersten Stock des Hauses am Marktplatz von Neustadt an der Mettau oder Nové Město nad Metují, dem Städtchen, das abseits lag und nur ein kleiner Reflex auf der Spiegelwand der großen Weltbühne war.
Der ganze Besitz des Schlosses zeigte Spuren von Verfall. Ab und zu kam die Gräfin Elisabetta, die volksnah und in vielen karitativen Organisationen tätig war, um nachzusehen und das Schlimmste zu verhindern. Sie hatte Quirin beauftragt, die vom Holzwurm zerfressene Bibliothek zu restaurieren. Es war eine langwierige und mühsame Arbeit. Die Gräfin unterhielt sich gerne mit dem Tischler. Eines Tages brachte sie einen bescheidenen Imbiss, schenkte aus einer verstaubten Flasche zwei Gläser Weißwein ein und forderte ihn auf, Platz zu nehmen.
„Lernt einer Ihrer Söhne nicht Trompete?“
„Ja, Johannes, der Jüngste.“
„Er geht doch in die Musikschule, die ich unterstütze?“
„Ja, seit zwei Jahren schon.“
„Scheint sehr begabt zu sein.“
„Das freut mich zu hören, Frau Gräfin.“
„Ist er auch ein Leser?“
„Ich glaube, auch das bejahen zu können.“
„Liest er mit Freude und Eifer?“
„Darüber könnte Ihnen meine Frau besser Auskunft geben. Eingeschrieben ist er jedenfalls im hiesigen Lesezirkel Zur Slawischen Linde, die, wie Sie wissen, nach dem Revolutionsjahr 1848 gegründet worden ist. Und in den Ferien bringt er aus dem Gymnasium von Braunau jeweils einen Stapel Bücher mit nachhause, die er sich aus der Klosterbibliothek leihen darf.“
„Dann habe ich ein Geschenk für ihn.“
„Frau Gräfin –?“
„Den Trompeter von Säckingen.“
„Ist mir nicht bekannt.“
„Joseph Victor von Scheffel hat das Buch geschrieben.“
„Es wäre meinem Sohn sicher eine Ehre! Verbindlichsten Dank, Frau Gräfin.“
Johannes war damals dreizehn Jahre alt. Als er zu Weihnachten nachhause kam, fand er das Buch und ward nicht mehr gesehen. Las den Sang vom Oberrhein in einem Tag zu Ende. Hatte einen roten Kopf und fliegende Gedanken. „… der Welt eins aufspielen und titanisch Himmelstürmen mit der Kunst um ewig ferne Schönheit…“ Johannes las und las wieder und lernte auswendig. „…in der Schlacht zum Angriff blasen, markig und bedeutsam…“ Und Johannes spielte. Und wollte werden wie der junge Trompeter von Säckingen. Bis dahin war er ein guter Trompetenschüler, ab jetzt war er eingeweiht.
Quirin Czermak ging in der Werkstatt auf und ab.
Spatzen hüpften durch den kleinen Garten, der bis an die Wehrstraße reichte, die das Städtchen umfasste. Durch die Fenster fiel Sonnenlicht, in dem feiner Holzstaub zitterte. Im schmalen Beet an der Mauer roch der Salbei, blühten die Rosen, reiften die Marillen am Spalier. Ein Truthahn schickte seine Koloraturen in den Tag. Er hörte Cäcilia Klavierspielen. Die Liebe zur Musik hatten sie und Johannes von der Mutter geerbt, die oft mit den Kindern sang, gut Akkordeon spielte und mit der tschechischen Volksmusik aufgewachsen war. Zu allen Festen wurde in den Dörfern ringsum aufgespielt, zur Kirchweih, zum Christfest, zur Auferstehung und zum Wochenmarkt, zu Geburtstagen, Ehrungen und Beerdigungen. Oder einfach zur Lust, um die Schinderei des Tages zu vergessen. Johannes hatte sein Trompetenspiel schnell vervollkommnet und durfte bei den Festen der Nationalgarde bereits in der ersten Reihe der Kapelle mitmarschieren.
Jetzt lag seine schlanke Ventiltrompete in einem Zimmereck.
Das Signalhorn hatte er ja mitgenommen in die Schlacht … Eine Dose Holzleim fiel dem Tischlermeister aus der Hand. Er grollte mit sich selbst, als er die Reste aus den Hobelspänen zu retten versuchte, es war ein teurer Leim, den er erst kürzlich in der Soukenická von Königgrätz gekauft hatte.
Sehr unruhig, zerfahren war Herr Czermak. Vormittags hatte er den Metzger Brandeis getroffen, der weit in der Gegend herumkam, um die besten Rinder, Schweine und Schafe zu kaufen. Quirin verstand sich gut mit dem Metzger, ihre Kinder waren ungefähr gleichen Alters. Brandeis konnte den Schmerz des Tischlers verstehen. Er selbst war verschont geblieben: sein einziger Sohn – die anderen fünf Kinder waren Mädchen – war unversehrt zurückgekehrt vom sinnlosen Schlachten. Im Gespräch hatte sich herausgestellt, dass Brandeis am Tag zuvor in Jičín gewesen war, wo er die Krüppel gesehen und erfahren hatte, dass das Lazarett der Johanniter bald geschlossen werden sollte, jetzt, mehr als acht Wochen nach dem Unglückstag vom 3. Juli. Und Brandeis sagte: „Kannst mit mir fahren, Quirin, übermorgen muss ich nach Münchengrätz, ich hab genug Platz im Rosswagen, da kann ich dich in Jičín abladen und am Abend wieder mit nachhaus’ nehmen.“
Jetzt konnte er nicht mehr aus.
Jetzt musste es sein.
Der Tischlermeister wusste, dass es in Jičín dieses private Lazarett eines Ordens gab, das im ehemaligen Schloss des Generalissimus Wallenstein untergebracht war. Das große österreichische Lazarett stand in Königgrätz, dort hatte er nachgefragt, jedoch nichts erfahren und die Verwundeten waren bald darauf nach Wien verlegt worden. Bis zum heutigen Vormittag hatte er einen Besuch in Jičín aufgeschoben – unentschuldbar war es und unerklärlich für ihn selbst. Flucht vor einer Nachricht, die er nicht hören wollte? Aber jetzt, wenn die Krankenstation geschlossen werden sollte, musste er hin.
Das Lazarett ist nur mehr schwach belegt.
Die Geheilten sind entlassen.
Viele der Moribunden sind gestorben.
Aber er, dieser junge, unbekannte Soldat, lebt.
Nur minutenweise ist er bei Bewusstsein.
Der Johanniter bleibt an seinem Bett.
Hält seine Hand.
Die eitrigen Wunden heilen langsam.
Der Arzt hat Zuversicht.
Hoffnung will er nicht sagen.
Gut wäre die Überstellung in ein Ordensspital.
Der Johanniter möchte den Verletzten mitnehmen.
Er hat ihn sich erwählt für das Leben.
Es wird langsam Herbst, erzählt er ihm. Und Nebel liegen morgens über der Stadt. Du weißt ja, sagt er, dass sie zwischen drei Flüssen liegt: der Cidlina, der Mrlina und der böhmischen Iser. Es ist Frieden und die Gefangenen kommen nachhause. Die Schwalben sammeln sich. Am Wochenende wird das erste Fest nach dem Krieg gefeiert: das Fest zum Erntedank. Es hat kaum Ernte und Früchte gegeben, aber das Wenige soll gefeiert werden. Vielleicht wird sogar getanzt. Die Mädchen werden in Überzahl sein, aber es gibt hübsche Mädchen hier, sagt der Johanniter mehr zu sich selbst als zum jungen Soldaten, und da …
da glaubt, ja, da sieht er, beugt sich näher …
kann es sein?
Kann es wirklich sein, dass ein schiefes kleines Lächeln in dessen Gesicht zu erkennen ist? Der Johanniter springt auf, öffnet das Fenster, „Er hört mich“, ruft er, schreit es fast in die Dunkelheit, „Er kann mich hören!“ … Vielleicht versteht er, was ich sage! Vielleicht versteht er schon längst, was ich ihm erzähle – –
Quirin Czermak steigt aus dem Pferdegespann.
Jičín ist ihm vertraut.
Hier ist er zur Welt gekommen.
Achtzehn Jahre hat er hier gelebt, bevor er auf die Walz ging, wie viele seiner Handwerkskollegen. Auf seiner Wanderschaft hat er bittere Armut gesehen in den Werkstätten von Schneidern, Tischlern und Schustern, in denen mitunter von fünf Uhr früh bis zehn Uhr nachts nur mit kurzen Pausen gearbeitet werden musste. Nicht nur einmal hat er mit einem Zweiten das Bett geteilt, um sich ein paar Kreuzer vom Kostgeld zu ersparen. Hat viel erfahren vom Elend in den Ziegeleien, den Steinbrüchen und Webereien, hat viele Neugeborene sterben sehen, viele Kinder, die nichts zu essen hatten, da der Lohn des Vaters kaum für mehr als ein Stück Brot für alle Neune reichte. Auch viel Heiterkeit und Lebensmut hat er in den Schenken und Wohnhäusern erlebt, die an größeren Orten für Handwerker und Arbeiter errichtet wurden, viel Zukunftshoffnung auch in den Fortbildungseinrichtungen der aufstrebenden sozialdemokratischen Bewegung sowie in den nationalpatriotischen tschechischen Turnvereinen der Sokoln, die später zu Zentren des Aufruhrs gegen Habsburg wurden. Bis Nürnberg, Basel und sogar bis Venedig ist er auf seiner Wanderschaft gekommen. Dann zog er weiter nach Wien und schließlich gründete er in Neustadt an der Mettau seine eigene Werkstatt. Wenige Jahre später konnte er bereits das Haus auf dem Marktplatz kaufen. Wann war das? Das war in einem anderen Leben, sagt er sich.
Ruhelos geht Herr Czermak über den Stadtplatz von Jičín. Gitschin heißt es auf Deutsch. Hier kennt er jedes Haus. Der Platz ist jenem von Neustadt ähnlich, viereckig, mit Arkaden eingerahmt, alles nur etwas größer, repräsentativer. In der Schule haben sie von Wallenstein gelernt, der Jičín reich gemacht und sich hier in den Jahren seines Aufstiegs ein Schloss hat erbauen lassen. Etwas heruntergekommen sieht es jetzt aus. Noch kein Licht aus den Fenstern, es ist früh am Morgen. Herr Brandeis hatte noch ein Stück des Weges bis Münchengrätz vor sich, so waren sie bei Dunkelheit aufgebrochen. Auf der Fahrt hatten sie schemenhaft die Türme von Königgrätz, ein Stück weiter den Swibwald und den Hügel von Chlum gesehen.
Der Stadtplatz belebt sich langsam.
Der Tischlermeister zieht sich zur Pestsäule in der Mitte des Platzes zurück, wo weniger Betrieb ist als unter den Arkaden. Kurz überlegt er, ob er beim jungen Kaufmann Jakob Kraus anklopfen soll, der ihn vor kurzem um Rat für den Umbau seines Papierkontors gefragt und eine mit Intarsien verzierte Kassette für den Schmuck seiner Frau, der schönen Arzttochter Ernestine, in Auftrag gegeben hat. Jakob Kraus war eine bahnbrechende, wenngleich höchst simple Erfindung gelungen: Papiersäcke, die geklebt waren – eine Erfindung, mit der Kraus die gesamte Monarchie belieferte und sich damit ansehnlichen Reichtum erwarb.
Aber Quirin zögert, hinüberzugehen.