Kitabı oku: «Franzosenkind»
Eduard Spörk
Franzosenkind
Meine Suche nach dem unbekannten Vater
Aufgezeichnet von Britta Lauber
Mit einem Vorwort von Barbara Stelzl-Marx
Die Drucklegung dieses Werkes wurde unterstützt durch den
Zukunftsfonds der Republik Österreich.
2015
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: Tyrolia-Verlag unter Verwendung eines Bildes von:
Alle Bilder aus dem Archiv von Eduard Spörk, mit Ausnahme von: Seite 21: Bundesarchiv, Bild 146-1982-089-18 / CC-BY-SA; Seite 22: Wikipedia; Seite 38: Österreichische Nationalbibliothek, Inv.-Nr.: AF 1678-C; Seite 67 und 79: Wikipedia; Seite 119: Österreichische Nationalbibliothek, Inv.-Nr.: 224038-B; Seite 130: Österreichische Nationalbibliothek, Inv.-Nr.: KS 16216297; Seite 139: Wikipedia
Layout und digitale Gestaltung: GrafikStudio HM, Hall in Tirol
Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien
ISBN: 978-3-7022-3445-4 (gedruckte Ausgabe)/978-3-7022-3446-1 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Der Zettel
Übersbach 1940
Der Krieg in Europa
Stammlager XVIII A Wolfsberg
Das Grauen des Krieges
Die letzten Tage
Die Zeit danach
Ein Bub zwischen zwei Müttern
Offene Geheimnisse
Dorfleben
Einsam am Weinberg
Freiheiten in Fürstenfeld
Erste Berührungen mit Wien
In den Bergen
Zwischen Arbeit und Schule
Edith
Die Liebe
Nicht nur Musik liegt in der Luft
Unter Lustern zwischen Glas und Porzellan
Die Verarbeitung von Daten
Soziales Engagement
Der Papst bei der Caritas Socialis
Die Suche
Der Beweis
Das Glück
Antoine est revenu
Nachwort
Anhang
Quellen
Vorwort
von Barbara Stelzl-Marx
Eduard Spörk kam als „Kriegskind“ auf die Welt: Seine Mutter war Österreicherin, sein Vater ein französischer Kriegsgefangener. Er ist nicht allein mit seinem Schicksal. In der gesamten „Ostmark“, im gesamten „Dritten Reich“, wurden Kinder aus Beziehungen zwischen Einheimischen und ausländischen Kriegsgefangenen bzw. Zwangsarbeitern geboren, teilweise auch als Folge von Vergewaltigungen.
Allein in der „Ostmark“ waren Anfang 1944 mehr als 200.000 Kriegsgefangene untergebracht, darunter rund 81.000 Franzosen.1 Ihr Leben und Überleben war von einer rassisch-ideologisch aufgebauten Hierarchie geprägt, die sämtliche Bereiche der Gefangenschaft – von der Gefangennahme über die Unterbringung in den Lagern, die Versorgung bis hin zu Krankheit und Tod – betraf. An unterster Stelle standen sowjetische Gefangene, von denen rund 60 Prozent ihr Leben in deutschem Gewahrsam verloren; an oberster Briten und Amerikaner, gefolgt von den französischen Kriegsgefangenen. Die Mannschaftsränge kamen in allen Bereichen der Kriegswirtschaft zum Einsatz, in der Industrie, im Gewerbe, Bergbau und natürlich in der Land- und Forstwirtschaft. Gerade hier ergaben sich trotz genauer Reglementierungen persönliche Kontakte mit der österreichischen Bevölkerung, die mitunter in – streng verbotenen – Liebesbeziehungen resultierten.
Sogenannte „lose“ Frauen, die im „Dritten Reich“ Verhältnisse mit ausländischen Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern eingingen, zogen während der NS-Zeit starke Ressentiments und Strafmaßnahmen auf sich. Aus „volkstums- und rassenpolitischer“ Sicht sollte die „Reinheit des deutschen Blutes“ nicht befleckt werden. Die Frau verkörperte als „Inbegriff der deutschen Seele“ ein „Bollwerk gegenüber den anderen, den Fremden, dem Feind“.2 Insbesondere Beziehungen zu sowjetischen Kriegsgefangenen wurden hart geahndet, dominierten doch in diesem Zusammenhang Vorstellungen einer rassischen Überlegenheit germanischer „Herrenmenschen“ gegenüber den slawischen „Untermenschen“. Die Personalkarten sowjetischer Kriegsgefangener enthielten daher vielfach den Vermerk „Belehrt über das Verbot betr. Verkehr mit deutschen Frauen“.
Doch auch bei Beziehungen mit Gefangenen anderer Nationalität drohte im Falle von „Verstößen gegen das gesunde Volksempfinden“ nach Paragraf vier der „Wehrkraftschutzverordnung“ eine mehrmonatige Gefängnishaft. Manchen Frauen wurden zudem als Zeichen öffentlicher Stigmatisierung ihre Haare abgeschnitten. Bei den betroffenen Kriegsgefangenen konnte Geschlechtsverkehr mit „deutschen Frauen“ bis zur Einweisung in ein Konzentrationslager oder zur Todesstrafe führen, wobei das Ausmaß der Strafe von der jeweiligen Nationalität des Gefangenen abhing.
Die Diskriminierung einheimischer Frauen, die sich mit dem „Feind einließen“, war kein singuläres Phänomen des „Dritten Reiches“. In den Niederlanden etwa warf man nach Ende der deutschen Besatzung Frauen und Mädchen, die Beziehungen mit deutschen Soldaten eingegangen waren, „Vaterlandsverrat“ vor. Als Strafe wurden diesen „moffenmeiden“ öffentlich die Köpfe geschoren. Manchen malte man ein Hakenkreuz auf die noch blutende Kopfhaut. Anschließend wurden die derart Gebrandmarkten zu Fuß oder auf einem offenen Wagen durch das Dorf bzw. die Stadt geführt.3
Analog dazu wurden nach der Befreiung auch in Frankreich rund 20.000 Frauen kahl geschoren – die eine Hälfte wegen Kollaboration mit den Deutschen oder Denunziation, die andere wegen sexueller Beziehungen zum „Feind“. Man klagte Letztere der „collaboration horizontale“ – der „horizontalen Kollaboration“ – an, wofür sie öffentlich gedemütigt wurden. Die Inszenierung dieses Phänomens lässt sich mit mittelalterlichen Schauprozessen vergleichen. Das Bild der „femmes tondues“ – der „geschorenen Frauen“ – blieb im kollektiven Gedächtnis Frankreichs verankert: In den 1980er-Jahren gaben immerhin acht Prozent der Befragten an, primär die „kahl rasierten Kollaborateurinnen“ mit der Befreiung Frankreichs zu assoziieren. Hier standen weniger „rassische“ Überschreitungen als vielmehr das nationale „Fremdgehen“ im Vordergrund.4
Vor diesem Hintergrund galten die Nachkommen von Kriegsgefangenen in Österreich – auch über das Kriegsende hinaus – als „Kinder des Feindes“. Häufig waren sie unterschiedlichen Formen von Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt. Ihre „Schande“ bestand nicht nur darin, meist unehelich geboren worden zu sein, sondern auch darin, den „falschen“ Vater zu haben. Sie waren häufig – jahrzehntelang – von einer Mauer des Schweigens und versteckten Anspielungen umgeben.5 Ihr Schicksal unterscheidet sich darin kaum von jenem der ab Ende 1945 geborenen Besatzungskinder.6
Auch innerhalb der Familie von Eduard Spörk war somit seine Herkunft lange ein Tabu. Er blieb das einzige Kind im Dorf ohne Vater und fühlte sich nicht zugehörig, auch das ein Charakteristikum vieler „Kriegskinder“.
Die Suche nach dem Vater ist für viele „Kriegskinder“ – und auch deren Kinder – zeit ihres Lebens ein Thema. Im Vordergrund steht die Ergründung der eigenen Identität, die Frage nach den „persönlichen Wurzeln“. Auch das Bedürfnis, diese Lücke in der eigenen Vita zu schließen, unabhängig davon, ob die Betroffenen eine „glückliche“ Kindheit verbrachten, ob sie in einer liebevollen Familie oder in einem Heim aufwuchsen, Diskriminierung ausgesetzt waren, früh oder spät, direkt oder indirekt, zufällig oder durch die Erziehenden gelenkt von ihren Vätern erfuhren. Selbst Kinder, die als Folge einer Vergewaltigung auf die Welt kamen, widmen sich dieser Lebensfrage.
Die Biografie von Eduard Spörk trägt dazu bei, das jahrzehntelang tabuisierte Thema der Nachkommen von ausländischen Kriegsgefangenen und österreichischen Frauen sichtbar zu machen. Sie verdeutlicht, wie schmerzlich die Lücke in der eigenen Biografie durch den absenten, lange auch verschwiegenen Vater sein kann. Seine Geschichte macht gleichzeitig Mut, sich auf die Spurensuche nach den eigenen Wurzeln zu begeben und trotz zahlreicher Rückschläge nicht aufzugeben.
Eduard Spörk und Britta Lauber sei für dieses Buch gedankt. Es stellt einen wichtigen Beitrag dar, die vielfach bis heute vorhandene Mauer des Schweigens, die zahlreiche „Kriegskinder“ in ihrer unmittelbaren Familie und Nachbarschaft umgibt, einzureißen.
Graz, im April 2015 | Doz. Dr. Barbara Stelzl-Marxstellvertretende Leiterin des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung |
1Hubert Speckner, In der Gewalt des Feindes. Kriegsgefangenenlager in der „Ostmark“ 1939 bis 1945. Wien – München 2003, S. 32 f.
2Ingrid Bauer, „Besatzungsbräute“. Diskurse und Praxen einer Ausgrenzung in der österreichischen Nachkriegsgeschichte 1945–1955, in: Irene Bandhauer-Schöffmann – Claire Duchen (Hg.), Nach dem Krieg. Frauenleben und Geschlechterkonstruktionen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Herbholzheim 2000, S. 261–276, hier: S. 269.
3Monika Diederichs, Stigma and Silence: Dutch Women, German Soldiers and their Children, in: Kjersti Ericsson – Eva Simonsen (Hg.), Children of World War II. The Hidden Enemy Legacy. Oxford – New York 2005, S. 151–164, hier: S. 157f.
4Fabrice Virgili, Enfants de Boches: The War Children of France. Translated by Paula Schwartz, in: Kjersti Ericsson – Eva Simonsen (Hg.), Children of World War II. The Hidden Enemy Legacy. Oxford – New York 2005, S. 138–150, hier: S. 145.
5Barbara Stelzl-Marx – Silke Satjukow (Hg.), Besatzungskinder. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland. Wien – Köln – Weimar 2015.
6Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung. Wien–München 2012, S. 509 f.
Der Zettel
Matt lehnte sich die Wärme des Sommers an einen wolkenlosen Himmel. Die trockene Luft knisterte.
„Immer noch besser als in der Ziegelfabrik“, dachte Eduard müde. Seit einer Woche arbeitete er in der Hitze des Brennofens, die seine Haut glühen ließ und ihm den Atem nahm. Doch er brauchte das Geld, sparte für ein Moped und nutzte die Ferientage. Seine Mutter nickte ihm zu und reichte ihm wortlos ein Glas Wasser. Mit seinen vierzehn Jahren begegneten sie sich von der Größe auf Augenhöhe, der schmale, blonde Junge und die brünette Frau, deren Figur die Geburten von drei Söhnen gerundet hatten.
Der Tag neigte sich dem Abend entgegen. Hans, Eduards achtjähriger Bruder, spielte mit Freunden irgendwo draußen am Bach, und der Mann der Mutter schien unterwegs zu sein.
„Wie war es heute?“, fragte Eduard, obwohl er die Antwort bereits kannte.
„Wie immer“, die Mutter überraschte ihn nicht. Sie sprach nie viel, auch nicht über ihre Arbeit in der Tabakfabrik, wo sie seit einigen Jahren Zigarren aus feinen Tabakblättern rollte. Anfänglich nur mit den Händen, die von Maschinen abgelöst wurden, schneller und präziser. Nur die teuersten und edelsten Zigarren durften nun noch zwischen Mutters langen, schmalen Fingern schonend geformt werden.
„Wasch dir die Hände, es gibt gleich Essen“, wies sie ihn an. Als Eduard zurück in die Küche kam, standen nur zwei Teller auf dem Tisch. Er fragte nicht nach dem Grund. Die Stühle wurden gerückt, sie setzten sich. Beim Anblick der dampfenden Kartoffeln spürte Eduard keinen Hunger, sondern seine Nervosität. Zu selten hatte er die Mutter für sich allein.
Eduards französische Großeltern Antoine und Anne Ménan mit ihrer Familie 1936 – sein Vater steht in der hinteren Reihe ganz rechts.
„Ich bin wieder nach meinem Vater gefragt worden“, platzte es aus ihm heraus. „Bitte, Mutter, erzähle mir von ihm! Irgendetwas! Seinen Namen. Wie er war. Ich muss es wissen!“ Unter der Flut der Worte erstarrte sie. Die Gabel klirrte gegen den Tellerrand.
„Lass es, Edi!“, flüsterte sie kraftlos.
„Immer sagst du, lass mich in Ruh! Nein, Mutter, ich muss es wissen! Ich muss!“
Es schien der Zeitpunkt gekommen zu sein, an dem sie ihn nicht mehr mit einem Blick zum Schweigen bringen konnte. Seine jugendliche Energie sprengte gegen die verkrustete Hülle, die ihre wunde Seele umschloss.
Sie stand auf und suchte für einen Moment den Halt in ihren Handflächen auf der Tischplatte. Eduard wagte nicht, ihr in das blasse Gesicht zu sehen. Er spürte ihren Schmerz wie seinen eigenen. Erst als sich die Mutter wegdrehte, hob er enttäuscht den Kopf. Seine Fragen sollten wieder ohne Antwort bleiben.
Eduard hörte den schweren Atem der Mutter und Schritte, die die Last ihrer inneren Qual trugen. Eine Schublade im hölzernen Küchenschrank wurde geöffnet und dumpf zugeschoben. Für einen Moment bewegte sich niemand von beiden, und Eduard fragte sich, was sie gesucht hatte. Dann bemerkte er, dass sich die Mutter schwerfällig wieder auf den Stuhl neben ihn setzte, einen Bleistift und ein Stück Papier in der rechten Hand haltend. Eduards Herz schlug so heftig, dass er es in seinem ganzen Körper spüren konnte.
Während sie mit gebeugtem Kopf und zusammengepressten Lippen schrieb, verharrte Eduard regungslos und wagte kaum zu atmen. Nichts sollte die Mutter unterbrechen.
Stumm schob sie ihm den Zettel zu. Zwei Wörter. Ein Datum.
Ansonsten Leere, die sich für Eduard langsam mit Vergangenheit zu füllen begann. Und Zeichen, die eine Zukunft versprachen:
Antoine Ménan
26. 11. 1917
Übersbach 1940
Aufrecht saß Karl Sommer auf dem Pferdewagen. Die grauen Augen im hageren Gesicht glitten über die goldenen Getreidemandeln, die zum Trocknen auf den Feldern standen. Stundenlang hatten er und Juliana, seine Frau, in diesem Jahr die von den Pferden gezogene Mähmaschine allein führen und ihre Kinder die geschnittenen Halme zu Garben binden müssen. Dem Bauern fehlten die Tagelöhner, die sich in der Erntezeit Geld auf seinem Hof verdienten. In diesem Jahr wurden sie auf anderen Feldern gebraucht, auf Schlachtfeldern.
Schmerzhaft pulsierte sein rechtes Bein, eine lästige Erinnerung aus dem letzten großen Krieg, der so verlustreich verloren gegangen war. Eine Granate hatte nicht nur den Knochen zersplittert, sondern auch seine Seele. Doch davon wusste niemand. In den Falten seiner Haut waren mehr als nur die siebenundvierzig Jahre vergraben.
Sonne, Wind und Wolken zeigten Karl Sommer, dass in den nächsten Tagen die Ernte eingefahren werden musste. Im Dorf konnte er nur wenige um Hilfe bitten. Auf den meisten Höfen gab es nur noch Frauen, Kinder und Männer, die zu alt oder zu schwächlich für Hitlers Pläne waren. Sorgenvoll verzog er die Mundwinkel. Harte, einsame Arbeit wartete noch auf ihn, bevor der Winter eine weiße Decke über das Land breiten würde.
Karl griff die Zügel: „Berta!“
Das Pferd wendete und trabte an. Es folgte dem Weg am Feldrand entlang auf den kleinen steirischen Ort Übersbach zu. Friedlich lag er vor Karl Sommer. Trügerisch friedlich, seit dem Einmarsch von Soldaten der deutschen Wehrmacht am 12. März 1938 in Österreich. Einen Tag danach war das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ beschlossen worden. Scheinheilig hatte Hitler für den 10. April 1938 die österreichische Bevölkerung zu einer Volksabstimmung aufgerufen. Auch in Übersbach war ein Zimmer im Wirtshaus der Felgitschs leer geräumt worden. Bei dem Gedanken an diesen Tag spürte Karl Sommer wieder das Unbehagen, als er damals über den Dorfplatz gegangen war. Er hatte gewusst, dass er sich dieser Abstimmung nicht entziehen konnte.
Schon am Eingang beobachteten braune Uniformierte mit starren Gesichtern die ankommenden Bauern. Ihr Führer gierte nach absoluter Zustimmung. Sie wollten dafür sorgen.
In dem Raum, den Karl Sommer an diesem Apriltag betreten hatte, standen drei Tische und drei Stühle. Kein Tuch, keine Wand dazwischen. An den Wänden lehnten die, die nicht gefragt werden mussten.
Karl Sommer kannte alle, wie es in einem Ort mit vierhundert Einwohnern unvermeidlich war. Die Kindheit, die Schulzeit verbrachten sie gemeinsam, übernahmen die Höfe ihrer Vorfahren, halfen sich bei der Ernte und sahen die Kinder aufwachsen. In der Gaststube beobachtete jeder jeden.
Auf dem Stimmzettel, der Karl Sommer, den anderen Bauern und ihren Frauen vorgelegt wurde, stand: „Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?“
Das trügerische Ergebnis von 99 Prozent, in dem sich zum einen die allgemeine, von der nationalsozialistischen Propaganda angetriebene Begeisterung für den „Anschluss“ widerspiegelte, das aber auch durch gezielte Einschüchterung zustande gekommen war, hatte Hitler sicher ein selbstgefälliges Grinsen entlockt. Doch Übersbach durchzog nach der Wahl eine unsichtbare Linie.
Leute wie Karl Sommer hatten ohne innere Überzeugung mit „Ja“ gestimmt. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), die Partei des Führers, gewann in ihm kein neues Mitglied, denn als Steirer und alter Kriegsveteran krümmte er nicht seine aufrechte Haltung. Im oberen Ortsteil, in dem sich sein Bauerngehöft befand, war er nicht allein mit dieser Einstellung. Im unteren musste er dafür umso leiser reden. Dort wohnten viele überzeugte Nazi-Anhänger. Unter ihnen der Ortsbauernführer Karl S., der Bürgermeister Eduard F. und der Ortsgruppenleiter und Kreisbauernführer Karl H. Letzterer stand rangmäßig noch über dem Bürgermeister und war unter anderem für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln verantwortlich. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Bauern Karl Sommer konnte in den vorangegangenen zwei Jahren nicht als freundschaftlich bezeichnet werden.
Als Karl Sommer durch das rückseitige große Tor seines vier Seiten umfassenden stattlichen Hofes fuhr, schob er seine Sorgen für einen Moment beiseite. Stolz betrachtete er seinen Besitz. Die Düngerstätte in der Mitte hatte er vor vier Jahren auf einem betonierten Untergrund mit einer Umrandung bauen lassen. Seitlich abgegrenzt befand sich hinter einer schmalen Holztür der Abort. In der Nähe des Einganges zur Küche sprudelte ein für die Region typischer artesischer Brunnen. Er war durch einen Schacht bis unterhalb des Grundwasserspiegels in einer Senke angelegt worden. Der Überdruck bewirkte, dass das Wasser durch unterschiedliche Gesteinsschichten von selbst und dauerhaft an die Erdoberfläche gelangte.
Rechts führte ein mit Beton ausgegossener, schmaler Fußweg unter dem vorspringenden Hausdach am Pferdestall und der Wohnung der Sommers entlang. Im Herbst hingen hier die Maiskolben zum Trocknen. Gegenüber hörte Karl Sommer das Grunzen der Schweine und das Schnauben der Kühe.
Nachdem er das Pferd in den Stall geführt hatte, trat er durch eine niedrige Tür in die Küche ein.
Am großen gekachelten Herd kochte seine Frau in Streifen geschnittenes, weißes Kraut. Unter dem eisernen Topf loderte ein Feuer, durch Holzscheite gefüttert. Für einen Augenblick ruhte sein Blick auf Julianas blau-weiß geblümtem Kopftuch, unter dem sie ihr hochgestecktes, braunes Haar verbarg. Sie hatte ihm neun Kinder geboren, von denen eines gestorben war. Hans war mit seinen vier Jahren der Jüngste und saß zu ihren Füßen. Er spielte mit einem Holzlöffel.
Eduards Großeltern Sommer bei ihrer Goldenen Hochzeit 1970, dahinter Eduards Mutter
Ihr erstes Kind hatten sie Maria genannt, mittlerweile eine junge Frau von einundzwanzig Jahren. Frühzeitig hatte sie auf dem Hof und auf den Feldern helfen müssen. Karl Sommer schätzte an ihr, dass sie tat, was ihr aufgetragen wurde, ordentlich sogar. Nur einmal hatte sie sich seiner Autorität widersetzt: als sie den jungen Leopold Passath aus Leoben, der als besitzloser Knecht auf einem Nachbarhof arbeitete, kennengelernt und sich in ihn verliebt hatte. Alle Versuche Karls, die Beziehung zu unterbinden, scheiterten. Maria wurde schwanger und Juliana drängte ihn, der Verbindung seinen Segen zu geben. Erst im April 1940 hatte die Hochzeit stattgefunden, mit Franz, dem dreijährigen Sohn des Paares.