Kitabı oku: «100 Boyfriends», sayfa 2
DER GEERBTE WINTERMANTEL
Mein Vater hat mal einen umgebracht. Es war ein Unfall.
Er war Lokführer auf der Strecke zwischen Tennessee und Alabama und sah einen jungen Mann reglos auf den Gleisen stehen – offenbar ein Selbstmörder.
Mein Vater sagte, er hätte geschrien und geschrien, aber um einen fahrenden Zug zum Stehen zu bringen, braucht man volle zwei Meilen. Er hat gesehen, wie es den Jungen beim Aufprall zerriss, wie die Gliedmaßen vom Torso abgetrennt wurden. Und er sagte, bevor der Zug ihn erfasst hatte, hätte er die Augen des Jungen gesehen – das war der Teil der Geschichte, den er nie vergessen konnte und selbst dann noch vor sich sah, wenn er die eigenen Augen schloss.
Ich hatte auch so ein Gefühl, als würde es mich innerlich zerfetzen, wenn auch weniger gewaltsam; ich saß verkatert in einem Auto, das an der Grenze zwischen Tennessee und Alabama entlangfuhr, und sah einen Zug vorbeirauschen und dachte wieder an meinen Vater, der nun ebenfalls tot war. Vor einigen Monaten war er überraschend gestorben und ich trauerte immer noch um ihn – manchmal versiegte der Schmerz, dann wieder prasselte er auf mich nieder wie Regen. Momentan erlebte ich eine Trockenphase.
Ich war auf dem Weg zum Haus meiner Großmutter, um mir mein eigenartiges Erbe abzuholen: ein paar Gewehre und Wintermäntel meines Vaters.
Am Steuer des Autos saß der Mann, den ich liebte. Er hatte mich begleiten wollen – damit ich eine Schulter hatte, an der ich mich ausweinen konnte. Denn es würden ganz sicher Tränen fließen, wie er gesagt hatte.
Ich hatte die Landschaft am Fuß der Appalachen vergessen, diese Decke aus Hügeln und Bäumen, die sich je nach Jahreszeit grün, golden, braun oder weiß färbt. Ich war schon zu lange in Kalifornien und hatte die Jahreszeiten und ihre dramatischen Phasen vergessen – die drückende Schwüle im Sommer, die überraschenden Schneestürme im Winter, die Überschwemmungen, Orkane. Ich hatte das Gefühl für Jahreszeiten verloren und ignorierte seit Kurzem auch meine inneren Jahreszeiten. Mein Leben unter der kalifornischen Sonne näherte sich dem Ende – das spürte ich. Oft saß ich nur da und wartete darauf, dass mein Instinkt mich zu etwas Neuem hinführte, ganz gleich, was es sein mochte.
Ich hatte vergessen, dass die Berge hier Wasser bluten. Wasserfälle schossen aus den Felsen, als hätte jemand eine Dusche angestellt. Und bei mir fand eine Eruption der Emotionen statt.
Mein Lover fuhr. In der letzten Nacht hatte ich ihn im Bett festgehalten und war ganz bei ihm und ganz bei mir gewesen. Warum fühlte sich das so gut an? Mein Sexleben war absurd. Wenn ich mich wie üblich in Saunen herumtrieb, dann um mich zu verlieren; mit ihm war Sex weder geil noch «machomäßig» noch voller unausgesprochener Wut. So was wie mit ihm hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Es war beinahe vertraut. Als wäre ich wirklich ganz nah bei ihm – ich war DA. Fühlte sich so Liebe an?
Doch zurück zu unserer Mission. Mein Vater hatte sich auf dem Grundstück meiner Großmutter im Süden Alabamas einen Bunker gebaut. Dort lagerten seine Vintage-Wintermäntel aus der Mod-Ära und seine Sammlung von alten Gewehren. Im Schaft einer Flinte war der Name «Jody» eingraviert, so hieß mein Ur-Urgroßvater. Wir wollten auf dem Grundstück meiner Großmutter die Mäntel und Gewehre einsacken und dann für zwei Tage nach New Orleans, bevor wir zu Loverboys Haus in Tennessee weiterfuhren. Von dort aus würde ich nach Kalifornien zurückfliegen. Wenn wir Waffen über die Grenzen dieser ganzen Bundesstaaten schmuggeln wollten, dann ließ ich den Wagen lieber von einem Weißen fahren, wie ich mir überlegt hatte – das gelang ihnen besser.
Ich dachte an meinen Vater – er war old-school, immer sehr gepflegt, und besonders stolz war er auf seine Mantelsammlung gewesen; selbst ich, als sein einziger Sohn, hatte nicht gegen sie ankommen können. Als ich klein war, hatte ich ihn mal gefragt: «Dei-dii» – so sprach ich Daddy aus – «darf ich deinen Mantel haben?» Er trug dieses braungrüne Hahnentrittteil mit Holzknöpfen und breitem Kragen, das ihm fast bis zu den Knien reichte. Sein älterer Bruder war in den 70ern Mod gewesen und hatte in Soulbands gespielt – seinen Style hatte er bei ihm geklaut.
«Dads Mantel passt dir noch nicht. Aber du kriegst ihn, wenn ich tot bin.» Damals war ich bestimmt nicht älter als acht. Aber so, wie er es sagte, war mir schon klar, dass er nicht vorhatte, jemals zu sterben. Daran musste ich denken, als wir auf einen Rastplatz fuhren, und ich hätte beinahe geweint, riss mich aber zusammen.
«Hey, Baby – halten wir bei Popeyes?»
«Yes, Sir», sagte mein hübscher Fahrer.
In meiner Kindheit war ich die Strecke zu meiner Großmutter unzählige Male gefahren. Wenn er mich in den Weihnachts- und Sommerferien hinbrachte, fuhr mein Vater vier Stunden Richtung Norden, ich saß daneben, folgte den Straßenschildern mit den Augen und war glücklich und zufrieden. Loverboy und ich machten in Birmingham Pause, wo wir einen Popeyes fanden, und waren nach weiteren anderthalb Stunden in Richtung Süden fast da.
Der Weg zum Haus meiner Großmutter war so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Meile um Meile Spanish Moss, zweispurige Landstraßen, Schotterwege und Ruinen aus der Zeit der Reconstruction. Alles – sogar die wenigen Häuser, in denen offenbar noch jemand wohnte – wirkte gespenstisch verlassen. Ich fühlte mich verlassen.
Meine Großmutter stammte aus Gee’s Bend; vor Jahrzehnten hatte ein Trupp superängstlicher Weißer dort eine Fähre abgefackelt, um die Schwarzen daran zu hindern, zum Wahllokal zu gelangen. Mehr hatte meine Familie mir davon nicht erzählt. Mein Freund war white as fuck und (abgesehen von Versicherungsvertretern) schätzungsweise einer von einem Dutzend Weißen, die in den letzten zwanzig Jahren einen Fuß in diesen Teil des Landes gesetzt hatten.
Wir sahen etliche aufgegebene Kirchen. Eine Meile vor dem Haus meiner Großmutter hielten wir an, um eine zu besichtigen. Eine Ruine. Wenn mein Vater mich zu Grandma nach Wilcox County gefahren hatte, waren die unbefestigten Straßen an den Sonntagen von Autos gesäumt gewesen. Wir gingen rein. Die Polster der Kirchenbänke waren herausgerissen, überall Schimmel, Löcher im Boden, kreuz und quer liegende Holzbalken, Löcher im Dach. Wie hatte die Kirche so schnell verfallen können? Seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, waren neun Jahre vergangen. Es schien unmöglich, dass ein Gebäude so schnell … nahezu verschwinden konnte.
Wie meine Mutter mir mal erklärt hatte, brauchten Häuser den Atem der Menschen, damit sie nicht austrockneten und zerfielen. Verlassene Häuser sind wie verlassene Menschen – sie sterben schneller.
Wir erkundeten die Kirche. Loverboy hatte eine Vintage-Kamera aus den 60ern dabei, und das Licht in der Ruine reichte gerade eben zum Fotografieren. Ich schaute zu ihm hin und erstarrte. Seine Kamera war genau auf mich gerichtet.
Wie heißt er nochmal? überlegte ich und schwieg volle zwanzig Sekunden. Trevor, TREVOR, Trevor, er heißt Trevor … uff!
Er sagte, ich solle mich vor ein Buntglasfenster stellen, mit einem Loch in der oberen Ecke. Ihm gefiel das hindurchfallende, gebrochene Regenbogenlicht – obwohl das letztlich keine Rolle spielte, da er Schwarz-Weiß-Fotos machte. Trotzdem tat ich ihm den Gefallen, weil ich wusste, dass er die Atmosphäre einfangen wollte.
Er machte das Foto, aber ich bekam wegen der vielen morschen Bodenbretter langsam Angst und fragte, ob wir weiterkönnten.
Wir erreichten das Haus meiner Großmutter, stiegen aus und liefen hinter dem Hof noch eine halbe Meile durch den Wald. Auf einer Lichtung, die mein Vater für die Jagd geschlagen hatte, hielten wir an. Unter dem Hochsitz, den er in einem Baum errichtet hatte, befand sich der Bunker. Meine Tante hatte mir den Schlüssel vor ein paar Wochen mit der Post geschickt. Wir schlossen auf und gingen rein. Der Bunker war nicht größer als ein Geräteschuppen, und drinnen herrschte perfekte Ordnung.
Strom gab es keinen, aber das Sonnenlicht reichte gerade eben aus, um alles einigermaßen erkennen zu können. An der hinteren Wand hatte mein Vater Halterungen befestigt, an denen die Gewehre hingen. Insgesamt fünf, darunter das aus den 1920ern, mit dem eingravierten Namen meines Ur-Urgroßvaters im Schaft. Ich strich mit den Fingern über die Buchstaben. «Jody» – es sah schäbiger aus als in meiner Erinnerung, und ich drückte, etwas zu gefühlsselig, einen Kuss darauf.
Rechts unter einem Tisch entdeckte ich den alten Armeekoffer, den mein Vater als nicht ganz Zwanzigjähriger beim Militärdienst benutzt hatte. Die Mäntel waren darin. Das wusste ich einfach.
Ich öffnete den Koffer, und ganz oben lag der braungrüne Hahnentrittmantel. Er hatte ihn als Letztes hineingelegt, als hätte er gewusst, dass ich es sein würde, der ihn eines Tages fand. Der Mantel war in exzellentem Zustand – er hatte ihn extrem pfleglich behandelt. Bevor mich meine Gefühle wieder übermannen konnten, rief mir Trevor vom Ausgang her etwas zu.
«Baby, lass uns doch auf dem Rückweg von New Orleans noch mal herkommen. Wir sollten lieber weiter, es wird bald dunkel, und ich möchte endlich von den Landstraßen runter», sagte er sachlich. Ich schnappte mir den alten Jagdrucksack meines Vaters und stopfte drei Mäntel rein. Loverboy und ich nahmen vier Gewehre mit und beschlossen, die restlichen Sachen auf dem Rückweg zu holen.
Als wir über die Brücke Richtung Highway fuhren, wurde mir klar, dass mir Kalifornien fehlte und ich nie wieder an diesen Ort zurückkehren würde. Nach einer weiteren halben Stunde fragte Trevor, ob ich ihn heiraten würde. Ich sagte ja.
BOYFRIENDS
BOYFRIEND 007 / DER KELLNER
Einmal hat er meinetwegen einen Typen plattgemacht. Hat die Schwuchtel einfach k. o. geschlagen. Wir waren Anfang, Mitte zwanzig und Samuel Myers (dieser WICHSER) machte eine fiese Bemerkung über meine Figur. Mein heldenhafter Retter vergaß seine gute Kinderstube und den Kellner-Knigge (hab ich schon erwähnt, dass es in dem Vierundzwanzig-Stunden-Diner-Drecksloch passierte, wo wir beide arbeiteten?), riss sich die Schürze runter und zimmerte dem Wichser Samuel Myers eine rein. Ich war ihm was schuldig – am Valentinstag steckte ich ihm einen Fünfziger ins Tippglas und einen Zettel: DU HAST MEINETWEGEN EINEN TYPEN PLATTGEMACHT .
BOYFRIEND 99,5 (%) / DER TRÄUMER
Er sagte zu mir (als er MEGA betrunken war): «Ich wollte nie ein Stern am Himmel sein. Irgendwann sterben die sowieso, und ich bin zum Sterben viel zu belanglos. Ich bin Äther oder wie das Zeug heißt. Dieses negative Nichts, in dem die Sterne rumschweben. Da ist das Olberssche Paradoxon am Werk, wenn du so willst. Der Stoff, der schon vor den Sternen da war und auch lange danach noch da sein wird. Wir sind davon umgeben, können ihn aber nicht berühren. Es ist Treibsand, glaube ich. Ich kann das genauer erklären … Ist dir schon mal aufgefallen, dass dich alles im Leben verlässt? Männer verlassen dich, dein Aussehen verlässt dich (deshalb übe ich oft, scheiße auszusehen), dein Geld verlässt dich. Das ist schon okay. ABER. Wenn du etwas mit deinen Händen erschaffst, dann kannst du es (manchmal) für immer behalten. Nehmen wir mal an, du schreibst ein Buch. Und nehmen wir mal an, es ist so gut, dass es nicht nur dich und seine schärfsten Kritiker überlebt, sondern mehrere Generationen, die nicht mal von seiner Existenz wissen. Vielleicht gibt es auf meine Frage keine Antwort, und es läuft auf das Gefühl hinaus, das ich am Anfang beschrieben hab – dein unsterbliches Buch und die Wörter darin schweben bis in alle Ewigkeit auf der Seite, segeln für immer auf demselben Meer, tänzeln und hüpfen unaufhörlich darüber hinweg, als hätten sie nichts zu befürchten. Unberührbar, unerreichbar, und trotzdem überall – kannst du dir das vorstellen?» Er lächelte, aber ich war längst eingeschlafen.
BOYFRIEND ZERO / DER MODEREDAKTEUR
Die Stille war ohrenbetäubend, und das war nicht das einzige Klischee im Raum. Der Mann hatte seine Rummachmusik seit den Neunzigern nicht verändert – bis zum Abwinken Cibo-Matto-Tapes und der ganze andere Kram aus seiner ehemaligen Hipsterzeit, den er wie Duffel Bags mit sich rumschleppte. Die Zeit, die sie zusammen verbrachten, fühlte sich an wie zwischen Sonnenuntergängen; das letzte orangerote Glühen der letzten Minute des Tages hatte sich noch nicht mit dem neuen Violett der Nacht vermischt. Der Sex hatte sich im selben Stillstand verfangen. «Hab heute keine Lust», sagten sie wie aus einem Mund und mussten beide kichern. Weil es keinen anderen Grund gab, sich dem anderen zu widersetzen, und sie sich auch nichts beweisen mussten, gingen sie ins Bett und hielten einander selbst dann noch fest, wenn das Bett vom Aufeinanderpressen ihrer Haut schweißnass und ungemütlich geworden war, und keiner von ihnen machte sich die Mühe, die Bettwäsche zu wechseln, denn so schlimm war es dann doch nicht.
BOYFRIEND #77 / DER CHEFKOCH
Er lud mich in sein Restaurant ein. Er kochte für die Kings und Queens der Kunstszene, meistens teuren Vegan-Scheiß, inspiriert von Rockmusikern aus den Neunzigern. Oft erklärte er mir meine Gefühle. Oh my god, er war alles, was ich niemals haben würde, aber als ich ihn dann hatte, wollte ich ihn nicht mehr. Als hätte man einen Whiskey haben wollen und das Glas dann minutenlang verführerisch vor sich auf dem Tresen stehen lassen. Um den Whiskey selbst ging es nicht, eher darum, die Vorfreude zu steigern. Und schon bald kippte ich ihn gläserweise runter, als würde man mich dafür bezahlen.
BOYFRIEND 2.0 / DER FEUERWEHRMANN
Er sagte, er wolle mich anzünden wie eine Zigarette – er inhalierte mich gierig, genüsslich und absolut sorglos. Ich war nur einer von vielen in seiner Schachtel, vielleicht sogar in einer ganzen Stange; ein Morgen war für ihn offenbar wie der andere, ganz gleich, wer nachts bei ihm gewesen war. Ich glaube nicht, dass er sich viel aus den Jungs machte. Seine Kettenraucherei schien im Einklang mit (im Widerspruch zu?) allem anderen zu stehen. Er war Feuerwehrmann, noch dazu groß und stark. Die Muskeln stammten aus seiner frühen Teenagerzeit. Er zeigte mir Videoclips, wie er auf dem Skateboard durch eine südkalifornische Vorstadtsackgasse bretterte; der Grund für seinen kräftigen Körper und die ausdefinierten Muskeln und vermutlich auch für sein scheißausgeprägtes Selbstbewusstsein. Kennengelernt hatte ich ihn vor Jahren – als ich in einer Fabriketage nahe Downtown wohnte. Er lief mir wie ein Welpe bis in mein Zimmer hinterher, und dann passierte es: Sperma flog in alle Richtungen. Er war um einiges größer als ich, deshalb passte ich nach unseren epischen Sperma-Spritz-Battles perfekt in ihn rein. Irgendwann zog er weg, in ein Waldgebiet in Nordkalifornien. Nur seinetwegen verwandelte sich das ländliche Kalifornien nicht in einen Haufen Asche.
Er hatte in Mendocino gerade eine Reihe von Bränden gelöscht. Er zog sich nackt aus. Ich konnte sehen, wo der Löschrucksack seine Haut gereizt hatte. Immerhin war sie noch dran. «Sorry, dass ich dir bei meinem letzten Besuch in der Stadt meinen Schwanz vorenthalten hab», sagte er. (Richtig gepoppppppt hatten wir noch nie.) Doch jetzt wollten wir es wissen. Es fühlte sich – anders kann ich es leider nicht sagen – «schön» an, als hätten wir uns füreinander aufgespart. Er war der einzige, mir bekannte Mensch, der tatsächlich genderfluid war: Mann, Frau, alles dazwischen und dazu noch sämtliche Hautfarben. Der Junge steckte seinen Schwanz in jeden und jede rein, und ich bewunderte ihn, weil er so eine Megaschlampe war. Er zeigte mir Fotos von seiner kleinen Tochter, und wir lasen uns den ganzen Nachmittag gegenseitig etwas vor. Danach ging er und kam nie wieder.
BOYFRIEND #33 / DER FRISÖR
Ich brauchte Asymmetrie und wollte mir deshalb die Haare blondieren lassen, einmal quer über den Kopf. Das war es nämlich, was mir fehlte: dieser eine zündende Funke, damit die Leinwand endlich aufflackerte. Ich war Filmemacher und kurz davor, endlich den Dreh rauszukriegen und meine große Vision wahr werden zu lassen. Waren meiner Fantasie Grenzen gesetzt? Nein, entschied ich. Bei meinen Haaren – bisher unblondiert – fing ich an. Mein Frisör war sexy. Pummeliges Engelsgesicht mit pummeligem Engelsschwanz. Mir fiel auf, wie rau und rissig seine Hände waren von den vielen Chemikalien, Haarfarben und Extensions, mit denen er bis zwei Uhr morgens rumhantierte, weil er als einziger nach zweiundzwanzig Uhr noch Kundinnen ohne Termin in den Laden ließ. Manchmal nahm er sogar nach eins noch eine dran, was für einen Frisör für Schwarze Frauen eine gottverdammte Leistung war. Und er war schnell, brauchte fürs Einkleben von Extensions so was wie fünfundvierzig Minuten (ich hab’s selbst gesehen). Auf der Kinoleinwand in meinem Kopf schaute ich von meinem Regisseur-Thron zu (in Wahrheit saß ich natürlich auf dem Frisierstuhl), wie er lila Paste quer über meinen Kopf schmierte. Das Chemiezeug blieb so lange drauf, bis mir fast schwindelig wurde. «Je länger du’s drauflässt, umso blonder wird’s», sagte er. Ich wurde nicht weich – ich wurde blond, gottverdammt. Ich schwitzte es aus. Er tat eine Pflegespülung rein, und wir fickten hinten in seinem Laden. Er filmte es. Am nächsten Tag hatten meine Haare die Farbe und Textur von Zuckerwatte und fielen komplett aus.
BOYFRIEND #40 / DER GENTLEMAN
Sie waren das seltsamste Paar, mit dem ich jemals gefickt hatte. Richtig wohl fühlte ich mich bei ihnen nicht. Sie tranken Wein und stritten sich in einer Tour, und zwar so, dass klar war, wie sehr sie sich gegenseitig hassten. Ein Boyfriend war weiß und der aktive Part, er hatte einen Riesenschwanz, gottseidank, er war nämlich strunzdumm. Von Integralrechnung hatte er keinen Schimmer. Er hatte einen Mega-Landeiakzent und erzählte uns diese Geschichte, dass er mal von oben bis unten mit Fäkalien beschmiert im Knast aufgewacht und beinahe für längere Zeit ins Gefängnis gewandert war, aber zum Glück hatte seine Mutter ihm 12.000 Dollar geliehen und alles hatte sich geklärt. Sein Boyfriend war ein mexikanischer Künstler, der mich die ganze Zeit anglotzte, als wollte er mich abstechen, weil ich seinen scheißweißen Boyfriend vögelte. Der Aktive war bald richtig besoffen und musste ins Bett, und weil es schon spät war, blieb ich da und schlief auf der Couch. Mitten in der Nacht weckte mich der Mexikaner auf, weil er ficken wollte, ich konnte mich gar nicht schnell genug ausziehen. Er kam sofort und baute sich dann vor mir auf. Ich spürte das Innere meines Arschlochs, dieses nasse, klebrige Gefühl, als hätte er einen Beweis hinterlassen wollen, dass er dort gewesen war. Er faltete meine Sachen ordentlich zusammen und legte sie neben mich. Dann küsste er mich auf die Stirn und sehr leidenschaftlich auf den Mund und flüsterte: «Du musst jetzt gehen.»
DAMN A LOVER COMES HOME TO DIE
Wieder einmal steht er unangemeldet vor meiner Tür – nach einem wie-viel-auch-immer-tägigen Speed-Gelage. Seine Schuhe sind weg. Er atmet schwer und stinkt, als wäre er stundenlang durch heiße Straßen gelaufen.
Mein Herz zieht sich zusammen. Er ist so anders als der duftende europäische Dandy, den ich damals kennengelernt habe; gleich bei unserer ersten Begegnung hat er mich verzaubert. Viel Mühe musste er sich nicht geben, das war mir sofort klar – sein Wunsch war mir Befehl, selbst dann, wenn er nichts zu sagen hatte. Dabei war er nicht der Typ, den man einfach lieben musste. Eigentlich war er sogar ein Arschloch, doch vor allem war er jemand, den Gott nur für mich gemacht hatte.
Er war witzig, besorgniserregend schön, dauergeil, und wäre es nicht so traurig gewesen, hätte man seinen Selbstzerstörungstrieb sexy nennen können. Vielleicht war so was sexy gewesen, als wir noch jünger waren – aber es hatte sich längst von sexy in dämonisch verkehrt. Trotzdem hatte er immer noch Macht über mich, erklären konnte ich es nicht, aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, nein zu ihm zu sagen.
Es dauert nur eine halbe Sekunde, bis all diese Gedanken mein Hirn durchfluten, aber ich merke, dass er bereits sauer ist, weil ich fürs Wiedererkennen so lange brauche. Als wollte er mich provozieren und abwarten, ob ich es wage, ihn nicht reinzulassen.
Er sagt nichts, was mich irritiert, denn als es das erste Mal passierte, knallte es gewaltig – nun taucht er zum zweiten Mal völlig neben der Spur bei mir auf, und ich sage mir, nie wieder, aber das habe ich auch schon beim letzten Mal und jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Beim ersten Mal stand er komplett neben sich und war völlig irre. Eine extrem aktive Dissoziation. Er hatte Krämpfe, keuchte, würgte. Er machte Sachen kaputt und brüllte, dass ich mich aus seiner Wohnung verpissen sollte, dass er mich umbringen würde. Die Stimmung wandelte sich so schnell, dass ich nur stumm da stand. Er zog Shirt und Hose aus, und die Einstichstellen auf seinen Armen und Beinen erinnerten mich an Sternbilder. Er legte sich auf die Couch, sprang aber im nächsten Moment wieder auf; in Unterwäsche rannte er aus meiner Wohnung, ich lief ihm nach, verfolgte ihn, rief ihm hinterher, er solle zurückkommen, doch er rannte schneller und schneller. Das ist Jahre her. Ich war davon ausgegangen, dass er längst tot ist, und hatte die Erinnerungen an ihn begraben.
Dieses Mal ist er ruhiger. Er hat keine Energie mehr und ist so dünn, dass ich weinen möchte. Ich rasiere ihm den Schädel, lasse ihm ein Bad ein und schmeiße seine stinkenden, zerlumpten Klamotten weg. Ich schaue nach, ob ich saubere Sachen habe, damit er später bei mir im Bett liegen kann. Weil ich weiß, dass er innerlich verbrennt und sich beim Schlafengehen am liebsten unter eine kühle Decke legt, drehe ich die Klimaanlage hoch. Das habe ich aus der Zeit, als wir zusammen wohnten, noch in Erinnerung.
Vor fünfzehn Jahren war es noch seine Wohnung. Heute regen sich die Leute über die Preise in der Stadt auf, aber, mein Gott, selbst als man für eine Ein-Zimmer-Wohnung noch 650 Dollar zahlte, konnten wir sie uns kaum leisten. Ich war aus meiner Bude rausgeflogen, und er ließ mich bei sich einziehen, weil er mich in seiner Nähe haben wollte. Er wollte Ehepaar spielen. Und es lief gut. Oder sagen wir, es lief länger gut, als ich erwartet hatte.
Meinetwegen hätte er mit dem Kopf unter dem Arm vor meiner Tür stehen können, ich hätte ihn trotzdem reingelassen – so sehr fühle ich mich ihm gegenüber überflüssigerweise verpflichtet. Als wir jung waren, sagte ich zu ihm: «Nein, ich werde dich niemals verlassen» – und er hielt mich im Klammergriff meines Versprechens wie ein Fangeisen eine Bärentatze.
Ich lasse ihm ein Bad ein und helfe ihm in die Wanne. Der Junge, der mir gefehlt hat, existiert schon sehr, sehr lang nicht mehr. Aber von dem, was von ihm noch da ist, kann ich mich nicht trennen. Der ehemals große, schöne Stern ist unter seinem eigenen Gewicht kollabiert und hat sich in ein schwarzes Loch verwandelt.
Ich erinnere mich an die Zeit, als wir jünger waren – er war derjenige, der mich ausgesucht hatte. Das weiß ich noch. Ich kellnerte in dem Diner um die Ecke von dem Laden, wo er Barkeeper war. Wir können nicht älter als zweiundzwanzig gewesen sein. Nach seiner Schicht schaute er im Diner vorbei, eine Woche lang kam er jede Nacht um Punkt drei Uhr rein. Er saß immer auf demselben Platz und glotzte mich an. «Haben Sie noch einen Wunsch, Sir?», fragte ich. «Ja, aber nichts, was auf der Karte steht», antwortete er dann mit freundlichem Zwinkern und hielt sich noch ein halbe Stunde an seiner Tasse Kaffee fest. Ich sah, wie er jede meiner Bewegungen mit den Augen verfolgte, und fand das ziemlich unhöflich. Nachdem ich bei ihm eingezogen war, meinte er, so habe er nicht rüberkommen wollen, und sagte: «So was wie dich hatte ich noch nie gesehen.» Bis heute hat er mir nicht erklärt, was er damit meinte. So was wie mich? Meinte er einen Punk, der in einem Diner arbeitet? Mein Gott, damals WIMMELTE es in der Stadt nur so von Jungs wie mir. Oder meinte er einen Schwarzen wie mich? Oder meinte er jemanden außerhalb des Mengendiagramms der sozialpolitischen Identitätspolitik?
Ich kann nur vermuten, dass er Schwarz meinte, weil er uns beide, obwohl er mich liebte, nie als etwas Gleiches ansah. Ich wusste, dass ich in seinen Augen «anders» war, und sollte eines Tages auch erfahren, warum das so war.
Vom Aussehen her war er der Typ Cholo – wenigstens hätten sich die sexuellen Erwartungen bei seinem Anblick in diese Richtung bewegt. Er war Mexikaner, eins neunzig, etwas kräftiger gebaut, mit dem Gesicht eines gefallenen Engels (überall tätowiert) und hatte genau den Style: besprühtes Skateboard, schwarzer Hoodie, Giants-Cap. Um seinen Hals hing eine Goldkette mit Kruzifix, auf das ich mich konzentrierte, wenn er es trug, also praktisch jeden Tag. Ich hatte genug Jungs mit katholischem Dachschaden gefickt, um zu wissen, dass einer, der ein Kruzifix um den Hals trägt, definitiv eine Nutte ist. Dieser war eine Nutte. Trotzdem war die ganze scheiß Aufmachung totaler Fake, denn sein Arsch war so Orange County wie eine Shoppingmall direkt neben Disneyland.
Ich weiß noch, wie er mich an Thanksgiving nach Südkalifornien schleppte, damit ich seine Familie kennenlernte. Ich hatte mit einem spanischen Festmahl à la Kolonialzeit gerechnet, mit Tamales oder Mole, doch dann hing im Wohnzimmer seiner Familie eine gerahmte amerikanische Fahne, und ich glaube, seine Mutter war beleidigt, weil ich sie wohl entgeistert angesehen habe, als sie an Thanksgiving ein Fertiggericht auftischte. Außerdem lief die ganze Zeit der Fernseher mit den Nachrichten. Ich kam mir vor wie in der Hölle und bekam Mitleid mit ihm. Wie war es möglich, dass dieser Mensch hier aufgewachsen war?
Ich weiß noch, dass er mal zu mir sagte: «Ich find’s toll, dass du von irgendwo herkommst – ich hab nicht das Gefühl, von irgendwo herzukommen.» Ich dachte wieder an Thanksgiving und wusste sofort, was er meinte. Doch das war nur eine der vielen Leerstellen in seinem Leben, eins der vielen Löcher, die er mir so gerne zeigte.
Ich musste nicht erst in eine Glaskugel blicken, um seine Probleme zu erkennen. Er hatte die Angewohnheit, sie gut sichtbar vor mir auszubreiten.
Als wir zusammen wohnten, hatte er zum Beispiel noch andere Boyfriends – etliche Daddys, aber auch Jungs in unserem Alter. Manchmal musste ich einen kennenlernen, und es war immer dasselbe. Irgendein bizarrer Typ, der außerhalb unserer Welt existierte; er versuchte immer, sich «hochzudaten». Mit keinem dieser Männer lief es lang, und ich fand es scheißunhöflich, dass er den Nerv hatte, mir seine Nutten vorzuführen.
Aber mich hatte er nun mal zu seinem Liebling auserkoren, und lange Zeit waren wir glücklich. Jedenfalls länger, als ich erwartet hatte.
Aus unseren ersten Begegnungen erwuchsen Nächte, in denen wir komplett zugedröhnt bis weit nach Sonnenaufgang durch die Stadt zogen. Er tauchte in meinem Diner auf, mit Tütchen von irgendwelchen Drogen, die er in seiner Bar abgestaubt hatte. Wir zogen uns alles rein, warteten das Ende meiner Nachtschicht um sechs Uhr früh ab, begaben uns zu dieser einen Bar, die rund um die Uhr geöffnet hatte, und feierten dort bis in den Nachmittag. So machten wir es gefühlte Jahre, in Wahrheit waren es wohl nur ein paar Monate. Mit ihm kam mir die Zeit immer verschwommen und verzerrt vor. Ein Tag mit ihm fühlte sich an wie eine Stunde und gleichzeitig ein ganzes Leben. Das war die Art Liebe, die uns verband.
Ich weiß noch, eines Nachts prügelten wir uns sternhagelvoll wegen gar nichts in einer Bar und flogen raus. Etliche Blocks weiter versöhnten wir uns in einem Ladeneingang – wir hockten uns auf den Boden, knutschten rum und hatten dann auf der Straße Sex, drei Leute kamen vorbei und blieben nicht mal stehen. Gott schütze San Francisco.
In einer anderen Nacht meinte er total besoffen zu mir, wenn ich ihn wirklich liebte, würde ich alles tun, was er von mir verlangte. Ich erwiderte: «Ja, ich liebe dich. Ich würde alles tun, was du von mir verlangst.» Daraufhin zog er mich am Arm unter einen Sattelschlepper, der vor einer roten Ampel hielt. Dort machten wir eine halbe Ewigkeit rum, dann hörten wir das Getriebe und liefen weg, bevor uns der Laster überfahren konnte.
Natürlich gab es auch Regeln – er bezeichnete mich nie als seinen Boyfriend. Wir vögelten zusammen, wohnten zusammen und wären beim Feiern fast zusammen draufgegangen – das komplette Scheißprogramm. Aber er war der Liebhaber und ich der Geliebte. Ich musste alles tun, was er von mir verlangte; als wären wir so ein inzestuöses Geschwisterpaar, ich der jüngere Bruder, der sich immer nach dem anderen richtet, was schon komisch war, denn wir waren ja gleich alt.
Meine Beziehung zu ihm war eine besondere Form von Mindfuck – wir benahmen uns wie Boyfriends, obwohl wir es offiziell nicht waren, in Wahrheit jedoch schon. Wir machten alles, was Leute machen, die sich zu gut kennen. Oft wechselten wir einander darin ab, tödlich gelangweilt zu sein. Wenn ich körperlich oder mental präsent war, war er es nicht – sogar, wenn wir am selben Tisch aßen oder im selben Bett miteinander Sex hatten.
Es fing damit an, dass er immer öfter nicht nach Hause kam. Er stand auf ältere Daddys, vor allem solche, die ihn auf Pfade lockten, die finsterer waren, als er sie für mich vorgesehen hatte. Er gab damit an, dass er tagelang bei dem einen Daddy mit den blickdichten Ledervorhängen rumhockte, Drogen nahm und kein Tageslicht sah. Irgendwann hatte ich genug davon, ihn nach seinen Exzessen wieder aufzupäppeln. Ich hatte immer das Gefühl, seine Daddys wollten alles Gute an ihm mit den Drogen, die sie in ihn reinpumpten, abtöten und ihn in ein zugedröhntes Porno-Püppchen verwandeln. Waren sie mit ihm fertig, musste ich die Scherben wieder zusammenkleben. In einem Winkel meines Hirns muss ich – obwohl alle Faktoren dagegen sprachen – geglaubt haben, er würde mich bitten, ihn zu heiraten. Doch irgendwann wurde mir klar, dass ich für ihn nie mehr sein würde als ein Krankenpfleger und Ersatz-Boyfriend. Hätte er mich Jahre zuvor nicht vor der Obdachlosigkeit bewahrt, ich hätte mich von seinem Zauber womöglich lösen können, doch seine frühere Großzügigkeit hielt mich wie ein Sicherheitsgurt in meiner Position. Die Fahrt ging immer weiter, Aussteigen unmöglich. Inzwischen sind wir beide zweiunddreißig.
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