Kitabı oku: «Es war einmal ein kleines Mädchen ...»
Aus dem Englischen übersetzt
von Paul Fleischmann
Impressum
Die Autorin: Brooke Shields
Deutsche Erstausgabe 2015
Amerikanische Originalausgabe by DUTTON an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC (USA) mit dem Titel „There Was A Little Girl“
ISBN: 978-0-525-95484-2
© 2014 by Brooke Shields
Coverfoto: © by Jack Mitchell/Getty Images
Coverdesign: www.bw-works.com
Lektorat: Verena Zankl
Übersetzung: Paul Fleischmann
Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com
© 2015 by Hannibal
Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen
ISBN 978-3-85445-482-3
Auch als Printversion erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-481-6
Hinweis für den Leser:
Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.
Inhalt
Vorwort
Teil 1
Kapitel 1
Teri Terrific
Kapitel 2
Shields & Co
Kapitel 3
Sie konnte es regnen lassen
Kapitel 4
Wenn du stirbst, sterbe auch ich
Teil 2
Kapitel 5
Pretty Baby
Kapitel 6
Scheiß auf sie, wenn sie nicht damit umgehen können
Kapitel 7
Bist du jetzt fertig?
Kapitel 8
Blau
Kapitel 9
Eine Puppe namens Brooke
Teil 3
Kapitel 10
Erinnere dich an den Hula-Hoop
Bildstrecke
Kapitel 11
Amerikas Sweetheart
Kapitel 12
Ich wünschte, ich würde dich nur am Morgen kennen
Teil 4
Kapitel 13
Wir trafen uns per Fax
Kapitel 14
Verschollen
Kapitel 15
Toots
Kapitel 16
Typen wie du
Teil 5
Kapitel 17
Ramschverkauf
Kapitel 18
Sie sterben mit den Füßen zuerst
Kapitel 19
Asche zu Asche
Kapitel 20
Zurück zu den Wurzeln
Epilog
Danksagungen
Das könnte Sie interessieren
Am 5. November 2012, sechs Tage nachdem ich meine Mutter vor meinen Augen hatte sterben sehen, schlug ich die Todesanzeigen in der New York Times auf und eine Welle des Zorns überkam mich. Ich fühlte mich so gekränkt, dass die Welt vor meinen Augen verschwamm. Ich konnte nicht glauben, was ich da las. Ich fragte mich selbst, wie ich nur so dumm und naiv hatte sein können? Wie hatte ich nur so unachtsam sein können? Wie konnten sie meiner Mommy das nur antun?
Ein paar Tage zuvor hatte ich einen eher simpel und kurz gehaltenen Nachruf geschrieben sowie die erforderlichen 1.500 Dollar bezahlt. Am darauffolgenden Nachmittag erhielt ich einen Anruf von der New York Times. Sie meinten, sie würden den Nachruf gerne auf der ersten Seite der Todesanzeigen veröffentlichen. Ich sagte, dass sie ihn positionieren könnten, wo es ihnen gefiele.
Man erklärte mir, dass meine Mom es verdient hätte, an prominenter Stelle zu stehen. Das gab mir das Gefühl, dass Mom nach all den Jahren vielleicht doch noch ein gewisses Maß an Respekt zuteilwerden würde. Und tief drinnen wissen wir wohl alle, dass unsere Mütter Respekt verdienen, oder? Die Times versicherte mir außerdem, dass sie meine 1.500 Dollar gar nicht haben wollte, aber ich erklärte, dass das schon okay sein würde, und bedankte mich für das Angebot. Die Person am anderen Ende der Leitung gab daraufhin an, dass jetzt, wo die Anzeige für eine etwas augenscheinlichere Stelle der Zeitung vorgesehen wäre, sie nun etwas mehr Text benötigten. Das wäre das erste Warnsignal gewesen.
„Ich werde kein Interview geben. Veröffentlicht bitte meinen schriftlichen Nachruf.“
„Nun, wir bräuchten vielleicht ein oder zwei zusätzliche Fakten.“
„Hören Sie, ich habe meinen persönlich verfassten Nachruf auf meine Mutter und einen Scheck eingeschickt. Danke.“
„Okay, wir wollten Sie nicht aufregen … Wie wäre es, wenn wir zusätzlich zum Nachruf noch ein oder zwei Fakten über ihre Kindheit oder so drucken?“
„Gut.“
Sie riefen tatsächlich an und stellten eine Frage über Moms verstorbenen Bruder beziehungsweise darüber, ob sie in New Jersey noch in einer anderen Stadt gelebt hatte, bevor sie nach New York City gezogen war. Es war ein zweiminütiges Telefonat und alles schien in Ordnung zu sein. Ich war zufrieden.
Ein paar Tage danach stand ich auf meiner Türschwelle und war gleichermaßen schockiert und entsetzt, als ich den Text las. Es war eine beleidigende und voreingenommene Kritik am Leben meiner Mutter. Ich rang nach Luft und starrte mit großen Augen auf dieses widerliche, ätzende Stück sogenannten Journalismus.
In der ersten Zeile stand: „Teri Shields, die ihre Tochter Brooke als Kindermodel und Schauspielerin vorantrieb, als diese ein Kleinkind war, und erlaubte, dass sie als Kinderprostituierte besetzt wurde, … verstarb am Mittwoch.“ Was für ein Einstieg!
Der Autor des Nachrufs betonte – völlig aus dem Kontext gerissen – die schlüpfrigsten Tatsachen und Zitate. Er stellte sie als verzweifelte Alleinerziehende dar, die ihre Tochter zu ihrem eigenen Profit in die Prostitution und zu Nacktauftritten gezwungen hätte. Er verdrehte auch Moms berühmtestes Zitat und fehlinterpretierte ihren trockenen Humor als abgründigen Missbrauch: „Zum Glück war Brooke in einem Alter, in dem sie nicht widersprechen konnte.“ Dieser Ausspruch hatte sich eigentlich auf die Tatsache bezogen, dass ich elf Monate alt war, als ich meine erste Werbung für die Seifenfirma Ivory machte – und nicht darauf, dass ich als Minderjährige in die Prostitution verkauft worden wäre.
Was zum Teufel dachte sich dieser Typ dabei, so etwas über eine Frau zu schreiben, die er nie kennengelernt hatte. Wie konnte er nur so gemeine Anschuldigungen ausstoßen? Ein solcher Nachruf sollte doch auf Fakten beruhen, oder? Der Text war aber abscheulich und auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht, was besonders furchtbar war, da er von jemandem, der sich selbst als seriösen Journalisten bezeichnete, verfasst worden war.
Während ich mir den Nachruf durchlas, spürte ich, wie ich durchzudrehen begann. Ich atmete tief ein und aus und versuchte, nicht in Panik zu geraten oder auszurasten. Ich eilte in die Küche und ging schnellen Schrittes um den Tisch, während ich schluchzte und schimpfte. Warum sind sie so grausam? Warum können sie sie nicht in Ruhe lassen? Warum können sie nicht ein einziges Mal nett zu ihr sein? Warum ist es diesem Typen so leicht gefallen, sie niederzumachen? Wo bleibt da der menschliche Anstand? Schließlich war ja jemandes Mutter gerade gestorben.
Ich lief im Kreis, heulte und verschluckte mich an meinen Tränen. Dann ließ ich die Küche hinter mir und ging die Treppen zu meinem Schlafzimmer hoch. Ich weinte mir die Augen aus und fluchte noch ein paar Minuten lang. Dann fing ich an, den Zorn in mir zu spüren. Er fühlte sich an wie eine heiße Flüssigkeit, die sich ihren Weg entlang meiner Beine bahnte, bis sie schließlich meine Wangen erreichte. Mein Gesicht glühte förmlich vor Entrüstung.
Die Wut war schrecklich, aber schließlich schaltete ich innerlich einen Gang zurück und dachte: Wer ist dieser Kerl? Was ist mit seinem eigenen Leben und seinen Beziehungen los, dass er sich veranlasst fühlt, so ignorant und giftig daherzuschreiben? Was steckt dahinter, dass er eine Frau, mit der ihn keine persönliche Erinnerung verbindet und die er nie getroffen hat, so attackiert? Wofür steht sie in seinen Augen?
Wenn diese tote, 79-jährige Frau so viele Jahre, nachdem sie aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden war, so eine energische Reaktion bei ihm auslösen konnte, dann musste doch etwas hinter der Sache stecken, dem es wert war, auf den Grund zu gehen. Abgesehen davon war er ja weder eine Mutter noch eine Tochter. Die Beziehung zwischen Müttern und ihren Töchtern sind oft gespannt und auf faszinierende Weise kompliziert. Ich wusste, dass das bei mir so war. Aber was hatte sie in ihm ausgelöst? Was kümmerte es ihn?
Ich wusste sofort, was ich tun würde. Es war an der Zeit, unsere Geschichte zu erzählen, jene meiner Mutter und mir, die Flugbahn ihres Lebens und des meinigen nachzuzeichnen und zu zeigen, wie ich wurde, wer ich bin, durch alles, was sie war.
Dieses Buch handelt von allem, was mit Teri Shields Dasein zu tun hatte. Es ist keine Erzählung im Stile von Meine liebe Rabenmutter. Aber ich hebe meine Mutter auch nicht auf ein Podest. Über sie wurde schon so viel geschrieben und das meiste davon scheint ziemlich negativ zu sein. Dies ist auf keinen Fall ein Versuch, sie zu idealisieren, aber auch nicht, sie zu verdammen. Es ist einfach nur so, dass nun ich an der Reihe bin, die Geschichte so wiederzugeben, wie ich sie erlebt habe. Sie erzählt von den 48 Jahren, die ich meine Mutter gekannt habe – obwohl ich sie nie wirklich gekannt habe. Mein Leben, diese 48 Jahre standen dennoch stets in Beziehung zu ihrem Leben. Sie hatte auf alles in meinem Leben Einfluss gehabt. Sie befand sich am Scheitelpunkt von allem. Fast alles, was ich tat, tat ich für sie, als Reaktion auf sie, wegen ihr oder trotz ihr. Ich ahmte sie entweder nach oder versuchte, mich von ihr unabhängig zu machen. Entweder probierte ich, von ihr loszukommen oder in sie hineinzukrachen.
Ich dachte die ganze Zeit an sie. Sie war Teil meines Alltags. Obwohl ich hart arbeitete und erfolgreich ein gesundes Privatleben und Heim mit meinem bodenständigen Mann und meinen beiden lieben Töchtern erschuf, waren Moms Anforderungen, solange sie lebte, nie weit weg.
Sie hatte mich beschäftigt, bis sie schließlich starb. Und nachher offenbar ebenso, weil ich jeden Tag über sie geschrieben habe. Nun aber entfernt sich ihre Stimme langsam.
Als Kind konnte ich mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Ich stellte mir vor, dass auch ich sterben würde, wenn sie es täte.
Nun bin ich aber immer noch hier, mit meinen beiden eigenen Töchtern. Dieses Buch handelt davon, was vor ihrem Tod passiert ist und was danach.
„Meine Gefühle bezüglich meiner Mutter und unserer Beziehung zueinander sind so verwirrend, dass sie in Klarheit niederzuschreiben heißen würde, ich hätte sie verstanden, was ich aber nicht tue.“
– aus Brookes Tagebuch
Wer war meine Mutter? Ich glaube, dass ich sie besser als irgendwer sonst kannte. Und ich kannte sie eigentlich überhaupt nicht. Ich könnte jetzt einen auf philosophisch machen und sagen, dass sie sich selber nie wirklich gekannt hat, und die Person, die sie erschuf, schließlich zu ihrer Wirklichkeit wurde. Sie sah sich selbst so, wie sie gerne gehabt hätte, dass andere sie wahrnehmen würden, und sie errichtete die notwendigen Barrikaden zwischen ihrem wahren Ich und der Person, die sie darstellte. Sie machte es selbst für ihre Tochter unmöglich, hinter den Vorhang dieses Mythos zu blicken.
Jahrelang dachte ich, sie wäre die stärkste, ehrlichste und unverblümteste Frau überhaupt. Rückblickend wird mir klar, dass sie die aufrichtigste Erzählerin harmloser Schwindeleien war, die ich jemals kennen lernen würde.
Ich verstehe sehr viel von dem, was meine Mutter betrifft, und auch ihr kompliziertes Naturell, aber manche Fakten hatte sie verschleiert oder verdreht. Manche Informationen kamen entweder falsch an oder gingen im Alkohol unter. Und da gab es noch viel Traurigkeit, Schmerz und tiefe Unsicherheit. Ich hatte immer das Gefühl, dass es eine gewisse Bereitschaft, verletzlich zu sein, voraussetzt, wenn man eine Person wirklich kennen will. Verletzlichkeit stellte in den Augen meiner Mutter eine Schwäche dar.
Ich habe mir lange schon die Fragen gestellt: Wie gut kenne ich Mom? Wie gut kennt jeder von uns seine Mutter? Und wie gut kennen unsere Mütter uns? Wie viel von mir macht umgekehrt meine Mutter aus? Muss ich sie besser kennen, um mich selbst zu kennen?
Selbstverständlich gibt es da viel, das man wissen kann. Es gibt Geschichten – jene, die sie mir erzählt hat, und jene, die ich von anderen gehört habe. Und Fotos – so viele Fotos! Sie erzählen ihre ganz eigene Geschichte.
Ich weiß, dass meine Mutter, Theresa Lillian Schmon, in Newark im US-Bundesstaat New Jersey am 11. August 1933 zur Welt kam. Sie hatte einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester, die der Augenstern meiner Mutter war. Mom war ein perfektes Beispiel für ein Sandwich-Kind. Sie überwand ihr niedriges Selbstwertgefühl, indem sie rebellierte und ein Wildfang war.
Ich lächle, wenn ich an sie als süßes, aber taffes Kind denke, dessen Einstellung und Humor es zu einer Überlebenskünstlerin machten. Ich bin stolz auf meine Mutter als kleines Mädchen, doch machen mich Gedanken an ihre Kindheit in erster Linie eher traurig.
Nachweislich musste ihre eigene Mutter, die ebenfalls Theresa hieß, aufhören, zur Schule zu gehen, als sie neun Jahre alt war, um sich um ihre drei Geschwister zu kümmern. Die Mutter meiner Großmutter war nämlich gestorben, was sie zu einer Art Ersatzmutter für drei Kinder machte. Später verlor sie ihren Bruder bei einem tragischen Badeunfall in Newark. Ich kann mir die Schuld und die Wut, die sich daraus ergibt, ein Geschwisterchen in so einem zarten Alter und unter meiner Aufsicht zu verlieren, nur ausmalen. Als ich bei der Newark History Society Nachforschungen zu meinem Stammbaum betrieb, fand ich auf Mikrofilm ein Dokument, das belegt, dass der Vater meiner Großmutter neben diesen Kindern auch noch für eine zweite Familie auf der anderen Seite der Stadt aufkam. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Großmutter je vom Doppelleben ihres Vaters erfahren hat, aber ich habe so ein Gefühl, demzufolge all diese Umstände sicherlich ihren Tribut gefordert haben müssen. Ihre hartgesottene Persönlichkeit muss darin ihren Ursprung haben. Meine Großmutter war in meinen Augen stets eine kalte Person und gab oft spitze Bemerkungen über meine Mutter ab. Aus irgendeinem Grund lehnte sie sie ab und ich bekam das mit, wenn sie zu Besuch war. Grandma schenkte meiner Mutter nie Anerkennung für die Dinge, die sie von ihr geschenkt bekam, ihrer anderen Tochter aber schon. Ich denke, sie nahm meiner Mom übel, dass sie sie verlassen hatte, anstatt für immer bei ihr zu bleiben und sich um sie zu kümmern. Wenn ich ungezogen war, wenn wir Grandma besuchten, war ihre Vorstellung von einer passenden Beleidigung: „Oh, du bist genau wie deine Mutter!“
Ich nahm das als Kompliment und bedankte mich bei ihr. Sie schimpfte mich dann ein sarkastisches Balg. Eines Tages bat mir Grandma an, mir ihre dritten Zähne zu zeigen. Ich saß auf ihrem Schoß und griff mit meinem Daumen und meinem Zeigefinger ihre Vorderzähne, woraufhin sie meinte, ich solle ziehen. Das tat ich dann und hatte plötzlich ihren Zahnersatz in der Hand. Ich brach daraufhin in Tränen aus und dachte, dass ich ihren Kopf am Kiefer auseinandergerissen hätte. Sie lachte nur wie von Sinnen.
Irgendwann, als meine Großmutter erwachsen geworden war, hatte sich ihr ein Licht am Ende des Tunnels offenbart. Sie hatte John Schmon getroffen und geheiratet. Zusammen hatten sie drei Kinder: Johnny, Louise und meine Mutter, Teri. Ursprünglich schrieb sich der Name meiner Mutter gleich wie der meiner Großmutter, aber sie musste schließlich die Schreibweise ändern, da es in ihrer Mittelschule bereits zu viele Terrys und Theresas gab.
Als Kind war Mom oft alleine und lernte so, recht unabhängig zurechtzukommen. Sie war eine ziemlich süße kleine Brünette mit dunkelbraunen Knopfaugen. Auf Fotos stachen ihre Augen immer heraus, weil sie so dunkel waren. Sie war ein hübsches, albernes und beliebtes Mädchen, das über einen lustigen, ehrlichen Sinn für Humor verfügte. In der ersten Klasse fragte einmal die Lehrerin die Schüler, warum die umliegende Gegend von Newark Ironbound genannt würde. Mom hob ihre Hand und sagte, dass sie so hieße, weil die Leute dort so stark wären!
Moms Vater war Busfahrer. Ihre Mom wiederum arbeitete in einem Donut-Laden. Sie war diejenige, die Creme und Marmelade in die Donuts einfüllte. Offenbar wurde sie aber gefeuert, weil sie zu viel Marmelade einspritzte. Großmutter hatte zwar noch andere Jobs, war aber im Grunde genommen Hausfrau und Mutter. Das war während der Wirtschaftskrise und es war nichts Außergewöhnliches, dass Frauen mehrere Jobs hatten, etwa in Konditoreien oder als Reinigungskraft. Sogar meine Mutter arbeitete von einem sehr jungen Alter an als Putzfrau in Newark.
Mom erzählte mir, dass sie sich vor Ostern einmal ein kleines Küken, das sie in der Auslage eines Spielzeugladens gesehen hatte, gewünscht habe. Das Küken habe nur zwei Cent gekostet, aber ihre Mom habe ihr für so etwas Albernes kein Geld geben wollen. So putzte Mom zwei Wochen lang nach der Schule Häuser, um die zwei Cent selbst zu verdienen. Als sie aber in den Laden ging, um das Küken von ihrem eigenen Geld zu kaufen, war der Preis auf drei Cent angehoben worden, weil nun Ostern unmittelbar vor der Tür stand – und so hatte sie das Küken nie gekriegt.
Sie war immer sehr geistreich und erfinderisch gewesen. Später – sie war ungefähr sieben – verdiente sie sich einen Dollar, indem sie einer Seifenfabrik eine Idee zusandte. Ihre Idee war es, Abziehbilder in die Seife einzuarbeiten, um Kinder zum Baden zu motivieren. Um das nächste lustige Bildchen sehen zu können, mussten sie sich erst mit der Seife waschen. Sie schickte der Firma eine von Hand geschriebene Notiz und erhielt im Gegenzug ein Dankesschreiben und einen Dollarschein. Sie behauptete, dass die Firma die Seife tatsächlich gemäß ihrer Idee hergestellt und mit ihrer Erfindung viel Geld gemacht hätte. Ihren Dollar hatte Mom aber ihrer Mutter gegeben.
Sie war außerdem sehr fantasiebegabt und abenteuerlustig und mit ihrer kreativen Art zu denken vermittelte sie mir das Selbstvertrauen, ebenso über den Tellerrand zu blicken und daran zu glauben, dass meine Gedanken einzigartig wären. Natürlich war es für sie auch damals schon in Ordnung, ein wenig Unruhe zu stiften. Als sie noch ein kleines Mädchen war, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, riss sie gelegentlich von zuhause aus und schlich sich in Kinovorstellungen, indem sie sich auf ihre Zehenspitzen stellte und ihren Hals reckte, um der Ticketverkäuferin mitzuteilen, dass ihre Mutter „da drinnen“ wäre. Die Dame an der Kassa schickte sie daraufhin in die Vorstellung hinein und bekam gar nicht mit, ob sie wieder herauskam oder nicht. Sobald sie die sichere Umgebung des unklimatisierten Kinosaals erreicht hatte, machte sie es sich irgendwo in der Mitte gemütlich und verlor sich in den Geschichten, die auf der großen Leinwand erzählt wurden. Das war so um 1938 herum. Laut meiner Mutter war das eine Zeit, in der den ganzen Tag lang Filme liefen und zwischen den Vorführungen Nachrichtensendungen gezeigt wurden – zwischen Filmen wie Robin Hood – König der Vagabunden, Die Schwester der Braut oder Leoparden küsst man nicht liefen also die Weltnachrichten. Wenn ihre Mutter schließlich entdeckte, dass sie wieder ausgebüchst war – üblicherweise vier oder fünf Stunden später –, wusste sie bereits, wo sie ihre Tochter finden würde. Die Lichter im Saal gingen daraufhin an und uniformierte Polizisten sowie die Mutter meiner Mom kamen, um die Ausreißerin wieder nachhause zu bringen. Wenn ihre Mutter sie am Arm packte, zeigte Mom bloß auf die Leinwand und rief: „Bewegte Bilder, bewegte Bilder!“ Für Mom setzte es aber dennoch eine Tracht Prügel.
Ihr ganzes Leben lang hatte Mom Filme geliebt und sich ins Dunkel des Kinosaals geflüchtet. Dort hatte sie ein Zuhause gefunden. Sie erzählte mir, dass sie in der Regel allein ins Kino gegangen sei und sich ihr jedes Mal irgendein Typ auf unangebrachte Weise genähert hätte. Mom behauptete, dass das so weit gegangen sei, dass sie „Tu den weg!“ geschrien habe. Und einmal, sagte sie, seien gleich drei verschiedene Kerle aufgesprungen, um davonzueilen.
Doch nichts konnte ihre Liebe zu den bewegten Bildern trüben. Sie liebte den Glamour der Filme und die Fantasien, die sie zum Leben erweckten. Sie boten ihr eine Fluchtmöglichkeit. Es passte also meiner Meinung nach ganz gut, dass sie später ein Kind großzog, das Schauspielerin werden würde.
Mom schien ihrer Mutter nie sonderlich nah gewesen zu sein, jedoch verehrte sie ihren Vater. Zwischen ihnen bestand eine ganz besondere Bindung und sie hatten denselben Sinn für Humor. Beide alberten gerne herum und es war ihnen egal, wie sie dabei aussahen. Er hatte von Geburt an ein Loch im Knorpelgewebe seiner Nase, steckte sich gerne einen Bleistift hindurch und schnitt Grimassen, um Mom zum Lachen zu bringen. Außerdem imitierte er gerne Charlie Chaplin in seiner Rolle aus Der Goldrausch, indem er Gabeln in zwei Brötchen steckte, damit sie kleinen Schuhen ähnelten, und ließ sie auf der Tischplatte tanzen. Dazu sang er dann: „Nun das ist Überfluss!“
Aber obwohl Mom ihren Vater anzubeten schien, hatte ich selbst nie den Eindruck, dass er besonders warmherzig oder liebevoll gewesen wäre. Jahre später, als meine Mom die Mittelschule abschloss, schrieb er gerade einmal „Pfui“ in ihr Jahrbuch. Als ich es später fand, sah ich, dass Mom nur ihren Vater und einen der Lehrer um eine Widmung gebeten hatte.
Ihr Vater arbeitete hart, um seine Familie durch schwierige Zeiten zu bringen. Während es auf mich wirkte, als hätte meine Großmutter nie wirklich etwas für meine Mutter übrig gehabt und sie in der Tat später richtiggehend ablehnte, kam es mir vor, dass sich Mom von ihrem Vater aufrichtig geliebt fühlte.
Leider verstarb Moms Dad schon bald, nachdem er „Pfui“ in ihr Jahrbuch geschrieben hatte, an Lungenkrebs. Sie war 14 Jahre alt und dies war ihr erster richtiger Liebesverlust. Moms Held war tot und ihre Mutter musste erneut alleine drei Kinder aufziehen.
Mom durfte weiter zur Schule gehen und traf an der Highschool die erste Liebe ihres Lebens. Er war ein netter italienischstämmiger Junge namens Salvatore Piccarillo und sie wurden ein Pärchen. Mom erzählte mir gerne davon, wie sie sich als Teil seiner Familie fühlte und wie seine Großmutter ihr erklärte, dass sie im Leben immer nur einen Schritt nach dem anderen machen solle, nichts übereilen und sich nicht den Kopf wegen Kleinigkeiten zerbrechen solle. Sie lehrte meine Mutter auch die Bedeutung von Beharrlichkeit und Entwicklung. Die alte italienische Großmutter legte ihre Finger auf den Küchentisch, wobei sich ihr kleiner Finger und ihr Daumen berührten. Sie zog dann zuerst den kleinen Finger weg vom Daumen und zog dann den Daumen hinterher. Ihr Handrücken wölbte sich dabei jedes Mal, wenn sich die Finger wieder berührten und sie wiederholte das Ganze immer und immer wieder, über die gesamte Länge des Tischs, was sehr an eine riesige Raupe erinnerte, die sich langsam ihren Weg an ein schattiges Plätzchen bahnte. Mit langsamen Schritten schaffte sie es, den ganzen Weg bis ans Ende des Tischs zurückzulegen. Mom und ihr Galan, Sal, verbrachten viel Zeit miteinander und sie wurden das Vorzeigepaar an ihrer Highschool. Ich liebte es, dass er Footballspieler war, und ich stellte sie mir als Königin und König des Abschlussballs vor. Dies schienen ein paar der besseren Jahre meiner Mutter in Newark gewesen zu sein. Es hieß, dass sie den Raum erhellt habe, wenn sie in ein Zimmer trat. Sie war in jeder Hinsicht etwas Besonderes.
Als sie ihren Abschluss gemacht hatte, begann sie bei der Krueger Brewing Company am Fließband zu arbeiten. Sie gab dort die Kronkorken auf die Flaschen. Außerdem modelte sie ein wenig und wurde oft von ihrem Job abgezogen, um sich für Fotosessions zur Verfügung zu stellen und ihre hübschen Stelzen zur Schau zu stellen oder irgendwelche Männer in Uniform zu grüßen. Sie wurde von ihrem Fabrikjob weggeholt und wurde für interessante Erfahrungen freigestellt. So wie Marilyn Monroe auf dem berühmten Foto für das Magazin Yank war es immer meine Mom, nach der verlangt wurde, um ein Produkt zu präsentieren oder als Maskottchen einer Fabrik zu posieren. Sie sah aus, als würde sie Betty Grable bei ihrem berühmten Pin-up-Foto im Badeanzug imitieren wollen. Sie trug ausschließlich knallroten Lippenstift und präsentierte stets ihre langen, sexy Beine. Mom war umwerfend schön und ihr Lachen war ansteckend. Bei allem, was sie ausprobierte, war sie in der Lage, zu brillieren, und sie konnte Leute haarscharf einschätzen. Sie wusste, dass sie irgendwie anders war als die Leute um sie herum und nicht der Typ war, der gerne zur Ruhe kommen wollte oder konnte.
Bald schon strebte Mom danach, Newark hinter sich zu lassen und den Hudson River zu überqueren: Sie peilte die grellen Lichter des kosmopolitischeren Manhattans an. Mom wollte einfach mehr. Sie wünschte sich ein großes, fabelhaftes Leben und ich denke, dass sie das Gefühl hatte, Newark könnte ihr das nicht bieten. Es machte ihr offenbar nichts aus, irgendjemanden hinter sich zu lassen. Ich frage mich oft, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie geblieben wäre. Es scheint mir undenkbar, dass sie zufrieden gewesen wäre.
Mom fing an, jeden Tag mit dem Bus nach New York City zu fahren, um dort zu arbeiten. Schließlich ergatterte sie einen Job im berühmten Gaslight Café. Ihr Gehalt war minimal und der Großteil ihres persönlichen Umsatzes bestand aus Trinkgeldern. Sie arbeitete an der Garderobe und empfing Stammgäste nur mit einem Lächeln und einem Kopfnicken, weil ihr Namensgedächtnis eine Katastrophe war. Einmal, als sie ihrer Mutter einen ihrer Freunde vorstellte, vergaß sie doch glatt den Namen ihrer eigenen Mutter! Sie murmelte irgendetwas und wiederholte dann einfach immer wieder den Vornamen ihres Freundes, wobei sie fast erleichtert wirkte, dass sie sich in diesem schrecklichen Augenblick wenigstens irgendeinen Namen merken konnte. Nun, diese Unfähigkeit, sich an Namen zu erinnern, plagte sie ihr Leben lang, aber besonders während ihrer Zeit im Gaslight, wo man ein höheres Trinkgeld erwarten durfte, wenn man sich die Namen der Klienten merkte. Um dieses Manko auszugleichen, nahm Mom die Mäntel entgegen, legte ihren Kopf augenzwinkernd zur Seite und trug ihn zur Garderobe. Mom hatte einen kleinen Notizblock bei sich in der Garderobe, auf dem sie sich Charakteristika der Kunden und kleine Details über ihr Leben – Dinge, die sie ihr gegenüber erwähnten oder die sie gehört hatte – notierte. Sie schrieb sich auf, ob ein Mann etwa ein Kind hatte, das aufs College ging, ob ein Familienmitglied erkrankt war oder seinen Urlaub an irgendeinem bestimmten Ort verbracht hatte. Auch machte sie sich Notizen zur Farbe der Krawatte, der Haare oder zu sonstigen Eigenschaften. Zum Beispiel: „rote Haare und krumme Nase: Bob“ oder „glatter Seitenscheitel, riecht nach Old Spice: Jack“. Jenen Männern, denen sie keinen Namen zuordnen konnte, brachte sie im Austausch für ihre Mäntel ihr Nummernzettelchen mit in die Hüften gestützten Händen und sagte in einem koketten Ton: „Nun, wie kommt es, dass Sie heute nicht Ihre gelbe Krawatte tragen? Schande über Sie! Nächstes Mal will ich die wieder sehen. Einen schönen Abend noch.“ Die Männer fühlten sich dadurch alle als etwas Besonderes und erhielten einen Schub für ihr Ego, was dazu führte, dass sie wiederum etwas tiefer in ihr Portemonnaie griffen.
Mom zerknüllte die Geldscheine und stopfte sie in ihre Taschen. Am Ende des Abends nahm sie dann den Bus zurück nach Newark, wo ihre Mutter bereits mit dem Bügelbrett und einem heißen Bügeleisen auf sie wartete. Mom zog dann das zusammengeknäuelte Geld hervor und gab es ihrer Mutter, die dann noch wach blieb, um die Banknoten wieder glattzubügeln und zu stapeln. Ich bin mir nicht sicher, ob Mom jemals etwas von dem Geld für sich behalten durfte. Eher vermute ich, dass alles an ihre Mutter ging, damit sie sich um die Familie kümmern konnte. Mom schien das nie etwas auszumachen und sie fing stattdessen an, die Aussicht auf eine größere Welt anzuvisieren, eine, in der sie nicht jeden Tag mit dem Bus hin- und herpendeln würde müssen.
Zu dieser Zeit begann sie auch, sich von Sal zu entfernen. Sie würden zwar für immer Freunde bleiben – bis zu ihrem Tod –, aber sie entschied, alleine nach New York City zu ziehen. So machte sie sich auf die Suche nach einem Apartment und war in der Lage, sich eines an der East Side für eine in den Fünfzigerjahren gute Miete zu sichern. Als Nächstes fing sie an, im Modeviertel zu arbeiten – in unterschiedlichen Lagerräumen und manchmal auch als Model. Mom schickte, wenn es ihr möglich war, weiterhin Geld an ihre Mutter. Ich fand später Schreiben von meiner Großmutter und meiner Großtante Lil, in denen sie sich für das Mietgeld bedankten.
Meine Mutter sehnte sich nach einer etwas gehobeneren Karriere, konnte aber weder auf Erfahrung noch auf eine Ausbildung im Bereich Verkauf und Management verweisen. Sie selbst sah das allerdings nicht als Hindernis an. Als ich aufwuchs, sagte sie oft zu mir: „Brookie, wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Akzeptiere nie ein Nein als Antwort und lass sie nie deinen Schweiß sehen. Finde heraus, was nötig ist, und finde einen Weg, es umzusetzen.“