Kitabı oku: «Erinnerungen», sayfa 4
Man kann auch noch weiter zurückgehen und an den berühmten panslawistischen Kongress im Jahre 1848 denken. Im gleichen Jahr, in dem die Deutschen Österreichs ihre Delegierten in die Frankfurter Paulskirche schickten, kamen die Slawen aus allen Teilen Österreichs in Prag zusammen und fassten jene Beschlüsse, von denen man in der offiziellen Geschichtsschreibung Österreich-Ungarns leider viel zu wenig erfährt. Der tschechische Historiker František Palacky hat damals den Ausspruch getan: »Existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst, sich beeilen, ihn zu schaffen.« Dass dieser Kongress mit der Forderung nach einem deutschen, einem tschechischen, einem polnischen, einem illyrischen, einem italienischen, einem südslawischen, einem magyarischen Österreich abgeschlossen wurde, dass also der Name der jeweiligen Nationalität immer mit dem Namen Österreichs verbunden sein sollte, offenbart, dass es keine grundsätzliche Österreichfeindlichkeit gegeben hat, wie heute immer wieder behauptet wird. Es ist eine Geschichtsklitterung, wenn man von einem abgrundtiefen Hass der Tschechen, Polen, Kroaten und all der anderen Völkerschaften gegen Österreich spricht. Noch 1899, beim Brünner Parteitag der Sozialdemokraten, war das Nationalitätenprogramm die große Parole: Statt dass sich die Arbeiter mit ihrem eigenen Elend auseinandergesetzt hätten, diskutierten sie nationale Fragen und bekundeten dem Programm die größte Zustimmung durch Hoch- und Nazdar-Rufe.
Konservative Historiker sind, wie ich weiß, anderer Meinung. Sie gehen zurück zum Reichstag von Kremsier und behaupten, damals sei das Schicksal der Monarchie bereits entschieden worden. Der Reichstag von Kremsier fand 1848/49 statt, und der Zusammenbruch Österreichs war 1918; dazwischen liegen siebzig Jahre. Und in diesen siebzig Jahren soll es keine andere Aufgabe für die österreichischen Politiker gegeben haben, als sich damit abzufinden, dass der Kremsierer Reichstag den Untergang des Reiches besiegelt habe? Dann hätten Politiker wie Renner und Adler, Masaryk und Daszynski, dann hätten sie alle keine andere Rolle mehr zu spielen gehabt, als dem Zerfall des Reiches untätig zuzusehen? Sollte die Geschichte nur den Zweck erfüllen, um jeden Preis nachzuweisen, dass alles so kommen musste, wie es kam? Das ist eine durchaus eindimensionale Auffassung von der Geschichte, und jegliche Politik hätte ihren Sinn verloren. Man muss den Bewegungen, die eine weniger passive Rolle der Politik für sich beanspruchen, zumindest die Ehre zuteil werden lassen, ihre Alternativen ernst zu nehmen.
Alles in allem drängt sich mir die Überzeugung auf, dass die Monarchie eine jener großen historischen Möglichkeiten war, die niemals genutzt wurden. Bisweilen will mir die ganze österreichische Politik in den letzten hundert Jahren der Monarchie als ein tragisches Gewebe aus Trugschlüssen, Missverständnissen und verpassten Gelegenheiten erscheinen, und ohne Zweifel trifft die damals Verantwortlichen ein gerüttelt Maß an Schuld. Immer wieder blieb man auf halbem Wege stehen und dachte viel zu spät über Kompromisse nach. So wurden radikal nationalistische Flügel immer stärker, und sogar die Sozialdemokraten waren am Ende von dieser Unduldsamkeit angesteckt. Die auf Versöhnung hin drängenden Vertreter der Nationalitäten dagegen wie Thomas Masaryk oder Siegmund Kunfi verloren zunehmend an Einfluss. Am Ballhausplatz gab man sich bis zuletzt Illusionen hin.
Die Frage, die man stellen muss, lautet: Wie hätte der Desintegrationsprozess sich denn vollzogen, wäre der Weltkrieg nicht gekommen? In Form einer Revolution? Ich glaube kaum. Viele der industrialisierten Länder der Monarchie hatten bereits eine so ausgeprägte Klassenstruktur, dass es eine echte nationale Revolution ohne Krieg wohl nicht gegeben hätte. Es wäre etwas ganz anderes, wahrscheinlich etwas sehr Improvisiertes zustande gekommen, und vielleicht hätte sich die alte österreichische Staatsweisheit wieder bewährt: C’est le provisoire, qui dure, es ist das Provisorium, das dauert.
Renner war ja schon in seinem großen Buch von 1902 der Auffassung, dass, wenn die Nationalstaaten wie Kantone zu einem Bundesstaat freier Völker zusammengeschlossen wären, in den einzelnen Regionen die Klassengegensätze sich entwickeln würden, die bisher von den nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen nur übertüncht seien. Dann erst werde ein modernes Staatswesen aus Österreich, ein in Klassen gegliedertes Reich, und es werde in den Ländern der Monarchie zu einer wirklichen Solidarisierung der Arbeiterschaft über die nationalen Barrieren hinweg kommen.
Es ist ganz interessant, dass am Jännerstreik 1918, der den Zusammenbruch der Monarchie signalisierte, die Matrosen in Cattaro, einem der wichtigsten österreichischen Kriegshäfen, genauso teilgenommen haben wie die Tschechen in Kladno. Die Aktionseinheit ging jedoch über die Negation der Monarchie nicht hinaus. Meinen Freund Felix Stika, der damals in den großen Munitionsfabriken um Wiener Neustadt herum aktiv war und als einer der Helden dieses Streiks galt, habe ich einmal gefragt, ob sie sich eigentlich bewusst gewesen seien, dass das der Anfang vom Ende sein werde. Er hat das verneint; wenn der Friede kommt, hätten sie damals gedacht, dann werde sich schon alles finden.
Die Nestwärme der Familie
Mein Großvater Benedikt Kreisky war ursprünglich Lehrer in Kaladei, einem kleinen böhmischen Dorf nicht weit von Budweis. In dieser Gegend gab es zwei besondere soziale Gruppen: Zum einen die sogenannten »Böhmischen Brüder«, eine religiöse Minderheitsbewegung, und zum andern zahlreiche jüdische Bauern. Die Böhmischen Brüder hatten gehofft, ähnlich wie die Protestanten und Juden, eine Art Toleranzpatent zu bekommen, und waren in dieser Frage bei Joseph II. vorstellig geworden. Der Kaiser hat sich dazu aber nicht bereit gefunden, weil er offenbar fürchtete, auf diese Weise eine tschechische Nationalkirche zu initiieren, um die herum eine Nationalbewegung entstehen könnte. Als den Böhmischen Brüdern die erhofften Rechte nicht gewährt wurden, sollen viele von ihnen, besonders in der Gegend um den Tabor, zum Judentum übergetreten sein, weil ihnen die Liturgie des Judentums mehr zusagte als die des Katholizismus. Das erklärt, warum es unter den böhmischen Juden nicht nur viele Bauern, sondern auch relativ viele tschechische Namen gegeben hat.
In dieser Gegend also hat mein Großvater seine Schule gefunden, begünstigt durch die uralte tschechische Adelsfamilie Wratislaw. Der tschechische Uradel wollte eigentlich mit dem Wiener Hof wenig zu tun haben; das Haus Habsburg hat man in der Regel als Usurpator betrachtet. Die ersten religiösen Emigranten kamen aus den alten tschechischen Adelsfamilien, noch vor der Reformation. Der mährische Statthalter Zierotin – auch er ein Mann des tschechischen Hochadels – hat sich damals an die emigrierten Aristokraten in Dänemark gewandt, um sie zur Rückkehr zu veranlassen. Es waren Namen dabei, die heute ganz deutsch klingen, wie Thurn, Kinsky oder Schwarzenberg. Zur Geschichte des österreichischen Adels gehört, dass viele Familien tschechischen Ursprungs sind, und Schwarzenbergs zum Beispiel, die größten Grundbesitzer heute, reden zu Hause noch immer tschechisch. Man darf auch nicht vergessen, dass der »Herzog von Österreich« merkwürdigerweise ein Tscheche war, Ottokar II. Přemysl. Er hatte den Bau der Wiener Hofburg entscheidend gefördert und die historische Teilung Österreichs in ein Land oberhalb und unterhalb der Enns vorgenommen. Wahrscheinlich hätten die Přemysliden noch lange geherrscht, hätte sich Ottokar nach der Wahl Rudolfs von Habsburg zum Deutschen König nicht geweigert, sich neu mit Österreich belehnen zu lassen. Er soll seine Weigerung damit begründet haben, dass er keinen Grund sehe, einem verkrachten Aargauer Grafen zu huldigen, der die Königskrone nur dem Umstand verdanke, dass die zerstrittenen Kurfürsten den Schwächsten zu dieser Würde berufen hätten. 1278 verlor er in der Schlacht von Dürnkrut sein Leben. Bereits drei Jahre zuvor hatte ihn Rudolf der österreichischen Lande verlustig erklärt. Es verwundert daher nicht, wenn die von Habsburg geadelten tschechischen Österreicher sich bis in unsere Zeit als den eigentlichen österreichischen Uradel betrachten.
Aufgrund des schon erwähnten Reichsvolksschulgesetzes war mein Großvater verantwortlicher Schulleiter geworden. Dies konnte nach den Bestimmungen nur werden, wer die »Befähigung zum Religionsunterricht jenes Glaubensbekenntnisses nachweisen konnte, welchem die Mehrzahl der Schüler nach dem Durchschnitte der vorausgegangenen fünf Schuljahre angehört«. Die Bestimmung lautete nicht, es dürfe kein Jude sein, aber das war natürlich die Absicht, die dahintersteckte. Da es unter den einundzwanzig Schülern der einklassigen Volksschule in Kaladei jedoch siebzehn Schüler israelitischen Glaubens gab, konnte man meinem Großvater die Stelle des Oberlehrers nicht verwehren. Später wurde mein Großvater stellvertretender Direktor der Lehrerbildungsanstalt in Budweis. Stellvertreter deshalb, weil er eben aufgrund des Reichsvolksschulgesetzes der Mehrheit der dortigen Schüler den Religionsunterricht nicht erteilen konnte. Sein Schwager, Joseph Neuwirth, hat dem damaligen Unterrichtsminister die Frage gestellt, ob denn keine Ausnahmebestimmung möglich sei. Es gäbe keine Verpflichtung, wurde ihm geantwortet, in Budweis einen Direktor zu bestellen, und solange mein Großvater an dieser Anstalt wirke, werde es keinen Direktor geben. Die Lehrerbildungsanstalt in Budweis versorgte das ganze nördliche Österreich mit Schullehrern, und ich habe bei sozialdemokratischen Versammlungen im Waldviertel oft alte Lehrer getroffen, die noch im Schlapphut und mit großer Krawatte erschienen und die mir die Frage stellten, ob der Direktor Kreisky in der Lehrerbildungsanstalt in Budweis mein Vater gewesen sei. »Nein, er war mein Großvater.«
Wie mir alte Bauern aus Kaladei erzählt haben, hat sich mein Großvater der besonderen Zuneigung seines Patrimonialherrn, des Grafen Wratislaw, erfreut. Als sich mein Großvater einer schwierigen Gallenoperation unterziehen musste, wurde sein Schwager, Professor Beer, ein berühmter Arzt aus Prag, nach Kaladei geholt. Ein langer Transport konnte dem Kranken nicht mehr zugemutet werden, und so beschloss man, ihn im Speisesaal der Grafen zu operieren, weil dort das beste Licht war; die Bauern haben die Schlaglöcher der Straße zum Schloss mit Stroh zugestopft, damit der Wagen nicht zu sehr rüttelte. Lange nachdem mein Großvater in Pension gegangen und nach Wien gezogen war, kamen alljährlich an seinem Geburtstag die Bauern aus Kaladei in die Stadt; schwere Männer mit großen Bärten, um ihm zu gratulieren. Sie hatten alle Kostbarkeiten bei sich, die die böhmische Erde hervorbringt: große Laibe domácí chléb (»Hausbrot«), Würste und Schinken. Obwohl mein Großvater Jude war und das nie bestritten hat, aß er offenbar leidenschaftlich gern Schinken, und die Bauern haben das gewusst.
Der Großvater war für uns der Inbegriff der Güte, rührend besorgt um alles, nicht zuletzt um die Zukunft seiner Söhne. Sie alle haben in ihren Berufen Erfolg gehabt, es zu einem gewissen Wohlstand und einem guten Namen gebracht. Nur eine Schwester meines Vaters war wirtschaftlich nicht besonders gut gestellt. Sie war mit einem Frontsoldaten verheiratet, der nach der Rückkehr aus dem Krieg nicht so recht Fuß fassen konnte; er betrieb die Auslieferung für Budweiser Bier in Allentsteig im Waldviertel. Ich erinnere mich, dass es in diesem Winkel Österreichs im Sommer nie warm wurde und der Winter von einer sibirischen Kälte war. Wie kalt es war, konnte man daran sehen, dass das Eis im sogenannten amerikanischen Eiskeller, in dem das Bier gelagert wurde, auch im Sommer nicht geschmolzen ist. Obwohl Wilhelm Schnürmacher ein Vaterlandsverteidiger und Invalide war, ist er mit einem großen Teil seiner Familie, wie man nach dem Krieg sagte, »ins Gas gegangen«.
Eine andere Schwester meines Vaters, die ich sehr gern hatte und die sehr intelligent war, wohnte ebenfalls im Waldviertel, in Gars. Sie war mit einem Arzt verheiratet, den ich aber nicht mehr kennengelernt habe. Ihr Sohn war Zionist der ersten Stunde, und zwar am rechtesten Flügel, ein Anhänger des Revisionisten Wladimir Jabotinski. Dieser Cousin, Viktor Much, hat einen ganzen Sommer hindurch mit viel Geschick versucht, mich für den Zionismus zu begeistern. Der Erfolg war, dass ich mich für diese Richtung zwar zu interessieren begann, sie aber ablehnte. Es ist also nicht so, dass ich erst sehr spät mit dem Zionismus konfrontiert worden wäre. Obwohl die zionistische Jugendbewegung in dem berühmten Psychoanalytiker Dr. Siegfried Bernfeld, einem der führenden Schüler Sigmund Freuds, einen Gründer besaß, der, wenn man so will, der große Theoretiker der Jugendbewegung überhaupt gewesen ist, konnte ich mich für die Ideen des Zionismus nicht erwärmen. Mein Cousin ging konsequenterweise sehr früh nach Palästina und wurde ein weithin berühmter Augenarzt; zu seinen Patienten zählten Scheichs aus vielen arabischen Ländern, da es ja bei den Arabern bekanntlich sehr häufig schwere Augenkrankheiten gibt. Nach dem Tod seiner Mutter 1958 ist er nach Wien zurückgekehrt.
Tante Rosa war übrigens die letzte aus der Familie, die ich sah, bevor ich an jenem Dienstag nach dem »Anschluss« wieder in Haft ging. Ich wollte meiner alten Großmutter, die damals 92 Jahre alt war, einen letzten Besuch abstatten, weil ich das Gefühl hatte, sie nie wiederzusehen. Es war eine der ergreifendsten Begegnungen dieser Zeit. Einst war sie eine der ersten Lehrerinnen der Monarchie gewesen, und nun saß sie da mit weißem Haar, wunderschönen Augen und sehr alten, schon sehr müden Händen und blickte mich traurig über den Tisch an und meinte: »Dein Vater und deine Brüder, alle meine Kinder waren immer sehr ehrliche, aufrichtige Menschen; in einer Sache haben sie mich nur leider angelogen, über deine Gefängniszeit. Da wollten sie mir begreiflich machen, dass du im Ausland studierst. Ich wusste es besser.« Sie hörte Radio und wusste um die Veränderungen in Österreich. »Und jetzt kommst du, weil du wieder ins Gefängnis gehen wirst. Sie sagen mir nichts, aber ich weiß ganz genau, da ein großes Unglück passiert ist.« Und obwohl sie an keiner akuten Krankheit litt, ging sie zwei Tage später ganz einfach sterben. Meine Tante Rosa übersiedelte zunächst zu meinen Eltern und dann zu ihrem Sohn nach Tel Aviv.
Mein Großvater war ein sogenannter Deutsch-Freiheitlicher. Wiederholt kam er auf die Sozialdemokratie zu sprechen, der er es verübelte, dass sie ihrem Kampf gegen den Kapitalismus eine, wie er behauptete, antisemitische Note gab. Dies war darauf zurückzuführen, dass die Kapitalisten dieser Zeit sehr oft Juden waren und die ehrlichen Karikaturisten sie auch als solche dargestellt haben. Mein Großvater pflegte zu sagen: »Gott sei Dank kommen die Sozis nie ans Ruder!«
In der Familie meines Großvaters waren drei politische Richtungen vertreten. Mein Vater, Max Kreisky, war ein der Sozialdemokratie mit Sympathie gegenüberstehender Mann. Als junger Fabriksleiter hatte er an einer Demonstration für die volle Sonntagsruhe teilgenommen, weil er in seinem jugendlichen Übermut dafür war, dass der ganze Sonntag frei sein sollte – für Angestellte wohlgemerkt, von den Arbeitern war bei diesem Punkt noch lang keine Rede. So grotesk dies aus heutiger Sicht scheinen mag, damals hat man ein solches Engagement mit seinem Posten bezahlt. Mein Vater, der es in dieser Textilfabrik bereits ziemlich weit gebracht hatte, geriet daraufhin in die Nähe der sozialdemokratischen Angestelltengewerkschaft. Die Privatangestellten waren die ersten, die eine Pensionsregelung hatten, die zwar nicht überwältigend, aber immerhin ein Anfang war. Wie eng und menschlich das Verhältnis meines Vaters zu den Arbeitern war, geht daraus hervor, dass 1918 einer der Betriebsräte des Unternehmens, dem er damals vorstand, zu ihm nach Wien kam, um ihn zu bitten, sich im Namen der Arbeiter und Angestellten des Gesamtunternehmens in den Arbeiterrat wählen zu lassen. Später hat er sich in den erbitterten Kämpfen zwischen Arbeitern und Unternehmern einige Male als Schlichter zur Verfügung gestellt.
Zwei Brüder meines Vaters, der eine, Oskar Kreisky, Professor für Deutsch und Französisch, der andere, Otto, ein angesehener Advokat in Wien, waren Mitglieder einer schlagenden Verbindung gewesen, die »Budovisia« hieß, weil ihre Mitglieder aus Budweis stammten. Bei jedem sich bietenden Anlass, so schien es mir, sangen die beiden mit großer Ergriffenheit die deutschen Turn- und Studentenlieder, und ich kann heute noch viele dieser Lieder auswendig, von Burschen heraus bis zur Wacht am Rhein. In der Mittelschule wurde ich durch entsprechend deutschnationale Professoren – es gab ja nur die Wahl zwischen deutschnational und klerikal, und der eine oder andere Sozialdemokrat fühlte sich dazwischen wie das hässliche kleine Entlein – ebenfalls dazu angehalten, derartige Lieder zu singen.
Ludwig, der älteste der Brüder, ebenfalls deutsch-freiheitlich, setzte die Lehrertradition fort und war Schuldirektor in Iglau. Er hat sich nicht ohne Erfolg für die Erhaltung des Deutschtums in Böhmen eingesetzt und in seiner Eigenschaft als Schulrat um jede deutschsprachige Schulklasse in seinem Bezirk gekämpft. Das hat ihn aber nicht davor bewahrt, später, mit seiner ganzen Familie, von den Nazis »ins Gas« geschickt zu werden.
Der vierte Bruder meines Vaters, Rudolf, war in meinen Augen der hervorragendste und derjenige, der mich eigentlich zur Sozialdemokratie hingeführt hat, soweit es noch eines Hinführens bedurfte. Er war einer der leitenden Funktionäre der sudetendeutschen Konsumgenossenschaften.
Fünf Brüder stehen für drei politische Richtungen: Max, der Vater Bruno Kreiskys, Oskar, Ludwig, Otto und Rudolf (von links).
Mein Onkel Rudolf Kreisky hat mir in einer entscheidenden Phase meines Lebens – nach jenem erschütternden 15. Juli 1927, an dem ich mit seinem Sohn Artur Zeuge der blutigen Demonstration vor dem Justizpalast wurde – den unmittelbaren Kontakt mit der Realität verschafft. Meine Erschütterung war so groß, dass ich damals vielleicht sogar zu jenen gehört hätte, die der Sozialdemokratie unter dem Eindruck der Führungsschwäche den Rücken kehrten. Es ist ja immer das große Problem für Leute, die im bürgerlichen Milieu aufwachsen, dass sie über ihre Bücher und ein paar Freunde aus ähnlichem sozialen Milieu nur selten hinauskommen. Die Arbeiterschaft präsentiert sich ihnen im Hausbesorger und vielleicht noch im Chauffeur. Mein Onkel nun wanderte mit mir während der Sommerferien von Dorf zu Dorf im Böhmerwald und im Riesengebirge. An den Vormittagen besuchten wir die kleinen Konsumvereine, die Abende verbrachten wir in den Versammlungen. Obwohl mir Fußwanderungen eigentlich immer zuwider waren, musste ich mit ihm ziehen, und so lernte ich das Elend in den Sudetengebieten kennen. Während mein Onkel die Bücher prüfte, die der Konsumvereinsleiter führte, saß ich draußen auf einem Stockerl oder bin durchs Dorf gegangen und sah mir die Leute an: Bergarbeiter, Glasbrenner, Weber, abgehärmte Frauen.
Die neue Tschechoslowakei war ein reiches Land, insbesondere für einen, der aus dem armen Österreich kam, aber um die Sudetendeutschen kümmerte man sich damals nicht. Politisch haben sie sich allerdings rasch gefangen. Die Parteien aus dem alten Österreich hatten im Sudetengebiet zum Teil längere Traditionen als bei uns; auch die ersten sozialdemokratischen Vereine waren dort gegründet worden.
Die politische Situation in der Tschechoslowakei war sehr viel besser als je im alten Österreich. Unter den Ministern gab es viele tschechische und deutsche Sozialdemokraten; es gab die Christlichsozialen, die große Agrarpartei und die Liberalen, die es bei uns nicht mehr gab, die sogenannten tschechischen »National-Sozialisten«, die Partei von Beneš.
Wenn ich mir die Siedlungen der Sudetendeutschen anschaue, die nach dem letzten Krieg überall in der Bundesrepublik und in Österreich aus dem Boden geschossen sind, die netten kleinen Häuschen und die Autos, die vor diesen Häuschen stehen, und das vergleiche mit dem, was ich in den zwanziger Jahren in Böhmen gesehen habe, dann frage ich mich oft, wonach sie sich eigentlich zurücksehnen. Es erscheint mir ungereimt, sich aus dem Wohlstand der neuen Heimat in die Armut der verlassenen zurückzuwünschen. Allmählich wird es Zeit, dass man aufhört, mit dem Begriff »volksdeutsch« oder »vertrieben« politische Interessen durchsetzen zu wollen. Aber natürlich gibt es eine gefühlsmäßige Komponente, und die habe auch ich kennengelernt: dieses besondere Heimweh, das man empfindet, wenn man dorthin, wo man zu Hause ist, nicht gehen kann, die Sehnsucht nach den Bergen und Tälern, wo man geboren wurde, nach den Flüssen und Seen, aber auch nach den Friedhöfen. Carl Zuckmayer hat in der Emigration den schönen Satz geprägt, Heimat sei nicht das Land, wo man geboren wurde, sondern das, nach dem man sich sehnt, um dort zu sterben.
Politisch sind die Deutschen in der tschechoslowakischen Republik nie verfolgt worden. Weder von meinem Großvater noch von meinem Vater, die sich beide als »Deutsch-Böhmen« betrachteten, habe ich je etwas Derartiges gehört. Das, was die Deutsch-Böhmen – ich bleibe absichtlich bei diesem alten klassischen Wort – in eine solche Gegnerschaft zum tschechischen Staat gebracht hat, war ihr materielles Elend. Nun waren diese Gebiete zu einem großen Teil seit eh und je Elendsgebiete – man denke an die vielen Märchen um Rübezahl. Das Weberelend hat es seit langem gegeben, und wenn Heine 1844 in seinem berühmten Gedicht über die schlesischen Weber schrieb: »Deutschland, wir weben dein Leichentuch, wir weben hinein den dreifachen Fluch – Wir weben, wir weben!«, dann galt das gleichermaßen für die Weber in Böhmen. Es war die offenbare Unfähigkeit der tschechischen Wirtschaftspolitik der zwanziger Jahre, die Arbeitslosigkeit dort zu bekämpfen, während im tschechischen Kernland eine uns Österreichern unbekannte Prosperität herrschte.
Wann und wo meine Eltern sich zum ersten Mal begegnet sind, habe ich nie erfahren. Als sie 1909 heirateten, war mein Vater dreiunddreißig Jahre alt und hatte bereits eine gute Stellung in Wien. Meine Mutter, Irene Kreisky, geborene Felix, war, wie es sich gehört hat damals, acht Jahre jünger. Mein Großvater hatte jeder seiner Töchter eine beachtliche Mitgift mitgegeben, und sofern sie nach Wien heirateten, erhielten sie meist ein Mietshaus, von dem man damals sehr gut leben konnte. Unter den Häusern, die meinen Verwandten gehörten, waren einige der höchsten Wiens. Materielle Sorgen hat es in dieser Familie bis zu meiner Emigration nicht gegeben.
Meine Mutter war die jüngste Tochter von sechzehn Kindern, von denen ich selber noch neun gekannt habe: Karl, Fritz, Berthold, Julius, Robert, Rachelle, Therese, Berta und Eugenie.
Wie groß der Altersunterschied war, konnte man daran ermessen, dass die älteste Nichte meiner Mutter so alt wie sie selber war, was ich als Bub komisch fand. Meine Mutter war sehr sportlich erzogen worden, ist geritten und war eine gute Eistänzerin. Um Politik hat sie sich erst ganz spät ein bisschen gekümmert. Sie soll einmal bei einer Wahl aus lauter Abneigung gegen die Sozialdemokraten den bürgerlichen Schober-Block gewählt haben, aber nur deshalb, wie sie mir gestand, weil sie irritiert darüber war, dass ich nichts anderes im Kopf hatte als Politik.
Meine Eltern haben bei meiner Erziehung niemals zu körperlicher Züchtigung Zuflucht genommen. Nur ein einziges Mal ist meiner Mutter, wie sie sagte, die Hand ausgerutscht. Ich muss zugeben, dass mir diese Ohrfeige heute noch in Erinnerung ist: Als ich mich konsequent weigerte, meine Aufgaben zu machen, und trotz wiederholter Mahnungen immer weiter dummes Zeug trieb und dann noch eine vorlaute Antwort gab, ist ihr die Geduld gerissen. Sie hat das Strickzeug weggelegt und mir eine Ohrfeige gegeben, die sie aber nachher sehr viel mehr bedauert hat als ich. Ansonsten bewahre ich eine Erinnerung an eine gütige Frau, die 84 Jahre alt wurde und so manches schweigend erlitten hat. Sie hat den Verlust meines Vaters nie verwunden; in den letzten Monaten, als sie schon leicht geistig umnachtet war, hat sie mich immer für ihn gehalten und leicht vorwurfsvoll gefragt, warum ich denn so selten nach Hause komme. Meinen Cousin Herbert Felix hat sie damals für ihren im Konzentrationslager ermordeten Bruder gehalten. Vielleicht liegt in dieser sonderbaren Verwechslung eine versöhnliche Geste des Schicksals, denn so sind ihr die Liebsten wiedererstanden in uns: der Mann durch den Sohn und der Bruder durch den Neffen. Sie starb, wie alte Menschen oft sterben, eigentlich nicht an einer Krankheit, sondern an den Folgen eines gebrochenen Beins.
Meine Mutter war eine unendlich gütige Frau und ertrug fast alles mit Ruhe und Gleichmut. Sie hat gern gelacht und mit einer Herzlichkeit, die ich heute noch aus der Ferne zu vernehmen glaube. Sie hätte es mir sicherlich nicht verübelt, wenn ich in ihrer Gegenwart gesagt hätte, dass sie nicht den Ehrgeiz besaß, die intelligenteste unter ihren Schwestern zu sein. Sie selber war der Ansicht, dass diese oder jene viel intelligenter sei als sie. Es war ein Phänomen – und nicht nur unter den reichen jüdischen Familien –, dass in der zweiten und dritten Generation nicht alle mit herausragender Intelligenz gesegnet waren. Eine gewisse Problematik rührte auch daher, dass es nach jüdischem Religionsgesetz kein Ehehindernis zwischen Cousins und Cousinen gab. Religiöse Motive spielten aber in beiden Familien kaum eine Rolle; sie waren auf ihre Art liberal, und Heiraten mit Katholiken oder Protestanten stand nichts im Wege.
Ich war das zweite Kind meiner Eltern, und der Liebling meiner Mutter war eigentlich mein zwei Jahre älterer Bruder Paul, der sich aufgrund einer Kinderlähmung kurze Zeit nach seiner Geburt geistig nur sehr langsam entwickelte. Man kann das ja oft beobachten, dass leidende Kinder zu Lieblingskindern werden. Mein Bruder lebte als alter Mann in Israel und bereitete mir durch seine Absonderlichkeiten große Sorgen. Die Springer-Presse und andere haben meinen Bruder immer wieder gegen mich auszuspielen versucht, vor allem in Israel. Regelmäßig ließ die Springer-Presse Reporter ausschwärmen, und manche Israelis halfen ihnen dabei, diesem kranken Mann einzureden, er müsse diese oder jene Erklärung abgeben. Einmal hat man ihm eine hohe Gage versprochen für seine Mitwirkung in einem Film, in dem er einen Bettler an der Klagemauer darstellen sollte. Das Foto ist dann durch die gesamte Presse gejagt worden: Der Bruder des österreichischen Kanzlers bettelt an der Klagemauer! Ich scheue mich nicht, zu sagen, dass ich meinem Bruder neben seiner kleinen österreichischen Pension jährlich einen Betrag zukommen lasse, der dem Bezug eines Rentners entspricht, und alle Spesen übernehme. Unlängst hat er wieder eine Erbschaft gemacht, und zudem bezieht er die israelische Altersrente. Man kann also nicht behaupten, dass mein Bruder am Hungertuch nage. Nur hat er zu Geld überhaupt keine Beziehung; am dritten Tag hat er es entweder verschenkt, verborgt oder verspielt. Der Zeuge für meine Angaben ist der österreichische Generalkonsul in Tel Aviv, der im Übrigen berechtigt ist, meinem Bruder in urgenten Fällen kleinere Beträge auszuzahlen.
Meine Mutter war mir schon deshalb eine große Hilfe, weil sie immer wieder meine Jugendstreiche deckte. Sie wusste mit fast instinktiver Sicherheit, wann ich in der Schule war und wann nicht. Sie merkte, wenn ich mit meinem Taschengeld am Ende war, und erwartete meine Anleihen. Im Haushaltsbuch, das sie nur widerwillig, dem Ordnungssinn meines Vaters zuliebe führte, notierte sie die Groschen, die sie mir gab, einfach als Ausgaben und Trinkgelder. Sie spielte gern Bridge, zwar nicht sehr gut, aber doch blieb von ihrem Spielgeld genug übrig, um kleinere Beträge für mich abzuzwacken. Ich habe ihr davon nie etwas zurückgezahlt. Dass sich mein Vater jemals das Wirtschaftsbuch angeschaut hat, glaube ich nicht. Es war dies eine jener sinnlosen Einrichtungen, die sich aus übertriebenem Ordnungssinn ergeben haben. Meine Mutter hat ihr Haushaltsbuch bis zuletzt geführt, lange unter dem Druck meines Vaters, so wie sie bis zuletzt die großartigen Bäckereien und Torten nach dem Kochbuch ihrer Mutter und Großmutter machte.
Ich war immer wieder darüber erstaunt, dass sie sich das Rezept der Panamatorte in all den Jahren nicht hat merken können. Das Kochbuch war handgeschrieben, und alle Rezepte begannen mit: »Man nehme«. Immer wieder war im Familienkreis von diesem legendären Kochbuch die Rede, und sooft eine neue, wunderbare Speise aufgetischt wurde, mussten die Tanten und Onkel das Rezept erraten. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren war dieses Kochbuch allerdings nicht in Gebrauch, denn es verlangte opulente Zutaten. Eines Tages machte sich eine meiner frechen Cousinen, die in Wien Kunstgewerbe studierte, über das Kochbuch her und korrigierte es auf die denkbar einfachste Weise: Sie reduzierte wichtige Ingredienzen kurzerhand auf ein Zehntel, und es stellte sich heraus, dass die Torten fast ebenso gut schmeckten wie zuvor. Alle sprachen nur noch vom »Republikanischen Kochbuch«. Einer der Gründe, warum diese Köstlichkeiten so köstlich schmeckten, war der, den auch Torbergs Tante Jolesch nennt: Es war nie genug da.
Ich erinnere mich noch sehr genau an das Zeremoniell eines damaligen Wochenendes. Am Samstag hat man noch bis in den Nachmittag hinein gearbeitet, so dass das eigentliche Wochenende für die meisten bürgerlichen Menschen erst am Spätnachmittag oder frühen Abend des Samstags begann. Für das Abendessen mit Verwandten und Freunden war schon während der Woche sehr viel Mühe aufgewendet worden. Wenn der »Speisezettel« feststand, führte die Köchin ihre Bestellungen bei den Kaufleuten in der Umgebung durch. Manchmal zogen Hausfrau und Köchin gemeinsam in entlegene Bezirke, weil dort zum Beispiel das Rindfleisch von besonderer Qualität war. Am Samstagabend gab es allerdings kein Rindfleisch, das vom Zeremoniell her eine traditionelle Mittagsspeise war: In manchen Häusern – so auch bei uns – bekam man viermal in der Woche zu Mittag Rindfleisch, meistens gekocht mit Beilagen.