Kitabı oku: «Erinnerungen», sayfa 6
Der jüngste Bruder meiner Mutter war Friedrich Felix, der Besitzer der Konservenfabrik meines Großvaters in Znaim. Auf den Ansichten von Znaim aus dem 19. Jahrhundert ist in der Mitte ein großer rauchender Schornstein zu sehen. Dieser Schornstein war der Stolz meines Großvaters, weil er das Zeichen dafür war, dass dort eine der frühen Dampfmaschinen betrieben wurde. Dieses Unternehmen, das von meinem Großvater vor mehr als einem Jahrhundert begründet worden war, ist heute in tschechischem Volkseigentum – eine Umschreibung für Konfiskation. Vom einstigen Glanz ist nichts geblieben.
Damals, zu meiner Zeit, waren die Konservenfabriken das Kernstück des Familien-Konzerns; ihre Erzeugnisse, vor allem die Znaimer Gurken, wurden nach vielen europäischen Ländern exportiert, unter anderem nach Schweden. Friedrichs Sohn, mein Cousin Herbert Felix, dem der Verkauf nach Schweden oblag und der mit einer Schwedin verheiratet war, ging sehr früh nach Schweden und hat nach dem Krieg zusammen mit seinem Schwiegervater unter dem Namen Felix eine der größten Konservenfabriken des Kontinents aufgebaut.
Herbert Felix war mir von allen Verwandten der liebste. Wir waren einander nahe wie zwei Brüder und haben uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit getroffen. Das letztemal 1973, wenige Tage vor seinem Tode, beim Skifahren in Lech. Ein prächtiger und sehr fähiger Mann. 1958 trafen wir uns in Bad Wildungen zu einem ernsten Gespräch. Er stellte mir zum letzten Mal die Frage, ob ich bereit sei – ich war damals Staatssekretär –, in seinen Betrieb als Partner einzutreten. Es schmerzte ihn ganz offensichtlich, als ich mich definitiv für die Politik entschied. Ob dann nicht wenigstens Peter, mein Sohn, dafür zu interessieren sei, fragte er. Als auch daraus nichts wurde, eröffnete er mir, dass er das Unternehmen dann nicht weiterführen und dem Wunsch seiner schwedischen Freunde folgen werde, ihnen seinen Anteil zu verkaufen. Allmählich zog er sich vollkommen aus der Firma zurück und übernahm einen sogenannten One-dollar-a-year-Job bei der FAO (Food and Agriculture Organization); ab 1965 kümmerte er sich innerhalb der UNO um die industrielle Verwertung von Agrarprodukten. Als er 1973 starb, hinterließ er ein beträchtliches Vermögen.
Ich kann sagen, dass meine beiden Familien den Nazismus in seiner grauenhaftesten und umfassendsten Form erfahren haben und dass nur wenige von uns übrig geblieben sind. Über die Welt verstreut, trifft man hier und da den einen oder anderen. Jedesmal, wenn jemand herumzudividieren beginnt, ob das vier oder sechs Millionen gewesen seien, die dem Holocaust zum Opfer fielen, kann ich trotz eines gewissen Verständnisses für die Schwächen der Menschen nur sagen: Von den mir Nahestehenden wurden so viele umgebracht, dass Zahlen mich nicht mehr interessieren.
Die Brüder meiner Mutter sind allesamt zugrunde gegangen; auch einige Schwestern meiner Mutter und viele Cousins, die mir sehr lieb waren und sehr nahegestanden sind. Eine Cousine, Elfi Felix, kam als einzige aus der Hölle zurück, war aber wahnsinnig geworden. Vor ihren Augen hatte man ihre Tochter umgebracht. Sie überlebte den Krieg nur um wenige Wochen.
In einer Liste, die dem polnischen Botschafter in Wien, Karski, vom damaligen Direktor von Auschwitz übermittelt wurde, findet sich eine ganze Reihe meiner Verwandten: eine große Zahl von Angehörigen der Familie Felix, darunter mein Vetter Dr. Wilhelm Felix, ein strenggläubiger Katholik, der aufgrund der Gebote seines Glaubens die Eltern nicht im Stich lassen wollte, als diese nach Theresienstadt deportiert wurden. Er selber war Halbjude und stand den katholischen Neuländern nahe.
Auf jener Liste steht auch meine Tante Grete Felix, die verheiratet war mit dem Bruder meiner Mutter, der den Trebitscher Betrieb vom Großvater übernommen hatte, eine Frau von unendlicher Güte und außergewöhnlicher Schönheit. Auf der Liste stehen noch weitere Vettern von mir, alle aus der Familie Felix, auch Ernst Felix mit allen seinen Kindern. Dann kommen die Fischers, Berta Fischer, die Schwester meiner Mutter, mit ihren Kindern, und dann die Kreiskys, Otto Kreisky, Friederike Kreisky, Karl Kreisky, auch viele Kreiskys, von denen ich bis dahin nichts wusste. Aus der kleinen mährischen Stadt Trebitsch meldet der Bericht 650 Deportierte. Ich hatte einmal grob geschätzt, dass von unserer Familie aus Trebitsch über zwanzig der nächsten Angehörigen von den Nazis ermordet worden sind; als ich jedoch die Namen durchging, stellte sich heraus, dass es viel mehr waren. Aber ich habe nicht mehr die Kraft, diese Statistik des Grauens zu vervollständigen.
„So viele wurden umgebracht, dass Zahlen mich nicht mehr interessieren“: Bruno Kreisky im NS-Vernichtungslager von Auschwitz.
Diese Auslöschung hat so viele Zeugen gefunden, es gibt eine große Anzahl mehr oder weniger bedeutender Bücher, mehr oder weniger eindrucksvoll nachempfundener Filme und Theaterstücke, und dennoch zweifle ich manchmal, ob das alles ausreicht, die Menschheit vor Ähnlichem zu bewahren. Ich glaube es nicht. Der Massenmord hat seither nicht aufgehört, und in den letzten Jahren hat er eine so unfassbare Steigerung erfahren, dass ich mich immer wieder aufs Neue frage, ob der Kampf dagegen nicht vergeblich ist. Man kann einfach nicht überall dagegen ankämpfen; wenn man einiges Gehör finden will, muss man sich auf weniges konzentrieren. So lasse ich es bei einer sehr nüchternen Feststellung bewenden: Nur dann kann man die Menschen zu Mitgefühl und Einsicht bringen, wenn man irgendeine Saite ihres eigenen Schicksals zum Schwingen bringt. Deshalb habe ich oft gesagt, was 1938 für die österreichischen Juden begonnen hat, ging bald weit darüber hinaus. Erst kamen Juden anderer europäischer Nationen an die Reihe, dann die »Arier«, die Norweger, die Holländer, und eigentlich blieb niemand verschont. Ganz am Schluss stand die schreckliche Bilanz: Millionen Tote, Hunderttausende Vermisste, über Europa hin und her ziehend die Heere der Vertriebenen.
Es war für mich eine wirkliche Genugtuung, als ich nach dem Krieg den größten Wunsch meiner Mutter erfüllen konnte: ihre noch lebenden Schwestern nach Wien einzuladen. So gab ich ihnen noch einmal die Möglichkeit, einige Zeit miteinander zu verbringen. Aus England kam die älteste noch lebende Schwester meiner Mutter, Rachelle. Sie war die Witwe eines Mannes, der mir in meiner Kindheit ungeheuer imponiert hatte. Er war »Oberoffizial bei der k. k. privilegierten österreichischen Nordwestbahn« gewesen, ein stattlicher Mann, und in seiner roten Pelerine hatte er auf mich als Kind einen gewaltigen Eindruck gemacht. Außerdem hatte er immer sehr spannend von einem Freund erzählen können, der in der englischen Geschichte eine große Rolle gespielt hat, der berühmte Slatin Pascha. Der Sohn meines Onkels Gustl Herschmann war einer der erfolgreichsten Wiener Advokaten und vertrat zahlreiche Schauspieler des Theaters in der Josefstadt. Er hatte ein besonderes Faible fürs Theater. Als ich ihn das letzte Mal sah – er war an die neunzig und hatte ein sonderbar feines Gesicht –, hat er mir ganze Passagen aus dem Repertoire von Josef Kainz vorgetragen.
Die zweite Schwester, Eugenie Mayer, kam aus Israel, wo sie gar nicht gern lebte. Ihr Sohn war eines der Vorbilder meiner Jugend gewesen, ein schlanker, hochgewachsener Führer der Jugendbewegung »Blau-Weiß«. Er hatte sich früh dem Zionismus angeschlossen und war nach Palästina gegangen. Bei Kriegsende war er Major der britischen Armee. In der israelischen Armee wurde er später General der Pioniere. Seine Schwester, die mit einem polnischen Textilfabrikanten verheiratet war, »ging ins Gas«.
Die dritte Schwester, die überlebt hatte, war Therese Kantor, die reichste von allen, bei der ich die Stelle eines Wahlsohnes eingenommen habe – doch darüber später. Die vierte schließlich war meine Mutter. Als ich die vier Frauen nach Wien einlud, fürchtete ich, dass das Beisammensein überschattet sein werde von dem Gefühl, sich zum letzten Mal zu sehen. Wenn sie auseinandergehen, werden sie vom Abschiedsschmerz überwältigt sein, dachte ich mir. Aber das war ganz falsch. Die alten Damen waren alle froh, dass das Zusammensein, das sie sich doch so sehnlich gewünscht und auch genossen hatten, zu Ende war; endlich konnten sie wieder in ihre gewohnte Umgebung zurückkehren. Wie ich überhaupt das Gefühl habe, dass Frauen mit zunehmendem Alter immer weniger sentimental werden, während alten Männern bei jeder Gelegenheit die Tränen kommen.
Erlebnisse: Der eigene Weg in die Politik
Am 8. November 1924 nahm ich zum ersten Mal an einer Demonstration teil. Ich war noch nicht vierzehn Jahre alt. Der Sohn eines Industriellen namens Thomas Schwarz hatte sich aus dem Fenster der elterlichen Wohnung auf der Wieden gestürzt, weil er die Quälereien eines seiner Lehrer nicht mehr ausgehalten hat. Die Vereinigung sozialistischer Mittelschüler rief zu einer Protestkundgebung vor dem Gebäude des Wiener Stadtschulrats auf, und zwei Mitschüler hatten mich aufgefordert mitzukommen. Einer von ihnen wurde später Generalkonsul in Johannesburg – ein glühender Verfechter der Apartheid. So geht’s halt manchmal mit den Menschen.
Mit dieser Kundgebung für einen an den Schulverhältnissen zugrunde gegangenen Mittelschüler begann mein eigentliches Engagement und ich wurde Mitglied in der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler. Da ich sehr jung war, gehörte ich in den sozialistischen Wanderbund, einen Ableger der deutschen Wandervogelbewegung. Diese große Aufbruchbewegung der deutschen Jugend hat im Leben Tausender junger Menschen eine entscheidende Rolle gespielt. Der Wandervogel hatte sich ja mehrfach gespalten; es gab unter anderem einen katholischen, einen deutschnationalen, einen eher liberalen und auch einen sozialistischkommunistischen Zweig.
»Jugendbewegt« zu sein, war auch zu meiner Zeit noch eine bestimmte Grundhaltung. Von einem gewissen Alter ab wurde das freilich mit einem leicht kritischen Unterton vermerkt. Nun machte man jedoch einen Unterschied zwischen Jugendbewegung und Jugendpflege. Unter Jugendpflege verstand man die Tätigkeit der Pfadfinder unter der Obhut von Erwachsenen, unter Jugendbewegung die sich selbst verwaltende Form des Zusammenschlusses junger Menschen.
Im Wanderbund hat es mir sehr gut gefallen. Es war die ideale Verkörperung einer neuen Gemeinschaft. Nicht mehr auf den engen Kreis der Mitschüler und der Jungen aus der Nachbarschaft begrenzt, verbrachte ich fortan meine freien Nachmittage inmitten eines Kreises, der mir das Gefühl von Geborgenheit gab und vor allem die Empfindung, einer großen, irgendwie auch politischen Aufgabe zu dienen. Meiner Neigung entsprechend, die mein Sohn einmal »missionarisch« genannt hat, habe ich mich einer intensiven Werbetätigkeit hingegeben.
Anstatt in die Tanzschule ging’s zur Sozialistischen Jugend: Ausflug zum Völkerballspiel Ende der Zwanzigerjahre.
Ständig strebte man nach neuen Formen des Zusammenlebens. Auch wenn wir im grundsätzlichen übereinstimmten, wurden dennoch harte Diskussionen geführt, bei denen ich freilich ein sehr stiller und passiver Teilnehmer war, denn es gab ja die »Großen«, allen voran Paul Lazarsfeld und Marie Jahoda, den redegewaltigen Alex Weissberg, der später in der polnischen Widerstandsbewegung als Oberst Cybulski aktiv war, Professor Victor Weisskopf, einen der CERN-Direktoren und Bürgermeister von Los Alamos, ferner den berühmten Mathematiker Hans Motz, der dann in Oxford lehrte, Hans Zeisel in Chicago und viele andere, die später einen großen Namen hatten.
Dieser Gruppe von Intellektuellen meist jüdischer Herkunft stand eine andere Gruppe gegenüber: die Söhne aus Arbeiterfamilien. Sie mussten sich durch besondere Tüchtigkeit bewähren, weil vielen das Studium sonst nicht möglich gewesen wäre. Da sie nicht wie andere über Beziehungen oder über Familienbande verfügten, hatten sie es von Vornherein sehr viel schwerer. Die meisten von ihnen waren Techniker, und dies lag sehr oft in ihren Familien begründet: Es war fast selbstverständlich, dass der Sohn eines Metallarbeiters Ingenieur oder der Sohn eines Bauarbeiters Architekt wurde.
In meiner Mittelschülergruppe gab es zwei junge Leute, die später eine gewisse Berühmtheit erlangt haben, aber in sehr verschiedenartiger Weise. Der eine war mein Mitschüler, der spätere SS-Sturmführer Felix Rinner. Er war einer der Unbelehrbarsten und ist vor einiger Zeit als unverbesserlicher Nazi gestorben. Der andere ist der heute sehr bekannte Dichter Jura Soyfer, der Sohn eines russischen Emigranten, der in Wien reich geworden war. Jedenfalls hielt ich ihn für sehr reich, da ich ihn einmal in einem dicken Pelzmantel mit großer Pelzmütze gesehen habe. Überhaupt ist mir damals zunehmend aufgefallen, dass unter den sozialistischen Mittelschülern nur sehr wenige Arbeiterkinder waren, dafür um so mehr Kinder aus bürgerlichem Haus. Unsere Zusammenkünfte fanden meist in eleganten Bürgerwohnungen statt. Am 15. Juli 1927 kam es vor dem Justizpalast zu ersten großen und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Tags zuvor waren jene Frontkämpfer freigesprochen worden, die bei einem Zusammenstoß mit dem Republikanischen Schutzbund im burgenländischen Schattendorf für den Tod von zwei Menschen verantwortlich waren – einem Invaliden und einem Kind. Wegen dieses Freispruchs kam es zu spontanen Arbeiterdemonstrationen gegen die »Schandjustiz«. Ich war neugierig, schnappte mir meinen Cousin Artur Kreisky, der damals mit seinen Eltern bei uns zu Besuch war, und gemeinsam gingen wir zum Justizpalast, um uns anzuschauen, was wir zunächst für ein bloßes Spektakel hielten. Plötzlich peitschten Schüsse. Wir haben die Salven nicht nur gehört, wir haben auch die fallenden Menschen gesehen, das Blut. Zum ersten Mal sah ich Menschen sterben. Das Herz klopfte uns bis zum Halse.
Als wir wieder wohlbehalten zu Hause eintrafen, hatte sich in der Stadt mit Windeseile das Gerücht verbreitet, in der Babenbergerstraße sei ein Mann namens Artur Kreisky erschossen worden. Da alle Kreiskys, die es auf der Welt gibt, vor zwei, drei und mehr Generationen miteinander verwandt waren, muss auch er weitläufig zu uns gehört haben. Nun war dies aber ein anderer Artur Kreisky, weder ein rebellierender Arbeiter noch ein Neugieriger, sondern ein angesehener Juwelier aus der Kärntner Straße, der gerade auf dem Nachhauseweg war. Er erlitt mehrere Durchschusswunden und starb drei Tage später. Die Presse hat den Fall breit ausgeschlachtet, um zu zeigen, wie sinnlos die Polizei herumgeschossen hat und dass es gar nicht darum gegangen ist, Arbeitermassen zurückzudrängen, sondern Macht zu demonstrieren. Insgesamt wurden an diesem Tag 89 Menschen getötet, darunter viele Angehörige der Sicherheitswache, und mehr als sechshundert verletzt. – Mein Cousin wurde sechzehn Jahre später, im Juni 1943, wegen Widerstandstätigkeit in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Betrachtet man die Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik, so wird man wahrscheinlich zu dem Schluss kommen müssen, dass ihr Abstieg damals im Jahre 1927 begonnen hat. Bis zu jenem 15. Juli war die Partei von einem bis dahin unbekannten, fast rauschhaften Hochgefühl durchdrungen. Soeben erst hatte sie einen glänzenden Wahlsieg errungen, und Otto Bauer hatte die Parole ausgegeben: »Noch einmal 200.000 Stimmen, und wir haben die Mehrheit.« Einige meiner Freunde, darunter Victor Weisskopf, haben damals ein politisches Kabarett gemacht, in dem sie das Wort »Noch einmal 200.000!« selbstherrlich aufgriffen. In dem Sketch wurde der Tag geschildert, an dem wir endlich die Mehrheit hätten. Man ließ das Rathaus festlich beleuchten – an so etwas hatten die Wiener besonderen Gefallen –, und dann endete die Strophe:
Was tamma jetzt, was tamma jetzt?
Jetzt wird a bisserl ausgesetzt.
Was tamma dann, was tamma dann?
Dann fang’ ma halt wieder vom Anfang an.
Es war ein ungeheures Kraftgefühl, das uns damals durchströmte. Schließlich hatten wir die Wahlen gegen die von Seipel konstruierte, sogenannte bürgerliche Einheitsliste gewonnen, die von dem Antisemiten Riehl, einem der Urnazis, bis hinüber zu den jüdischen Kandidaten in der Leopoldstadt reichte. Und gegenüber den Wahlen von 1923 hatten wir noch einmal drei Mandate hinzugewonnen (insgesamt 71), während die Christlichsozialen 9 Sitze verloren (insgesamt 73). Mitten in diese Hochstimmung fiel der furchtbare Schock vom 15. Juli.
Im Nachhinein lässt sich natürlich leicht behaupten, dass es ein schwerer politischer Fehler war, in einem Moment, wo ganz Österreich im Bann der Sozialdemokratie stand, den Generalstreik auszurufen. Wer die Vorgeschichte kannte, musste wissen, dass er nicht lückenlos befolgt werden würde. Man konnte sich auf die Eisenbahner verlassen, die einen sicheren Arbeitsplatz hatten und lange die Treuesten der Treuen waren, auch auf die Postbeamten und Metallarbeiter. Aber das große Wort, das uns alle in unserer Jugend faszinierte: »Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will«, das hat sich eben nicht als zutreffend erwiesen.
Und wer hätte gedacht, dass die Polizei schießen würde? Das war ja die eigentliche Tragödie. Nichts hat sich das österreichische Bürgertum sehnlicher gewünscht, als dass die von Wahl zu Wahl erfolgreichere Sozialdemokratie auf die eine oder andere Weise einen schweren Rückschlag erleiden möge. Im gleichen Moment, in dem der Staat bewies, dass er sich traute, auf demonstrierende »Rote« zu schießen, war der Bann ihrer Politik gebrochen. Man kann also, dachten seither viele, mit der Sozialdemokratie fertig werden, sofern man nur den Mut hat, in die Leute hineinzuschießen. Diesen »Mut« hat der Staat am 15. Juli 1927 gezeigt, und der Held der Stunde war der Wiener Polizeipräsident Schober, ein im Grunde empfindsamer Beamter aus den Zeiten der Monarchie, der sich oft beschwerte, dass er ungerecht behandelt werde.
Das Ärgste war, dass die Sozialdemokratie der Gegenseite einen Anlass geboten hat oder zumindest einen Vorwand. Denn ich glaube nicht, dass der Leitartikel des Chefredakteurs der Arbeiter-Zeitung, auf den sich Schober berief und den man in der Tat als sehr heftig bezeichnen kann, von den Arbeitern wirklich gelesen worden ist. Die Arbeiter-Zeitung hatte zwar eine große Auflage, aber die Masse der Leute hat nicht um fünf Uhr in der Früh den Leitartikel gelesen, um dann um sechs Uhr in die Fabriken zu gehen und zu sagen: Jetzt marschieren wir! Das war eher ein impulsiver Entschluss, und instinktiv zogen die Massen auch zum Justizpalast als dem Inbegriff der Schandjustiz. Die Eskalation, zu der es dort kam, hat sich aus der Situation ergeben. Vielleicht steckten sogar bolschewistische Agenten dahinter, denn das Wien jener Jahre war ein Tummelplatz für sie. Viele von ihnen betrieben damals sehr stark die anarchistische Propaganda der Tat.
Die Österreicher der Ersten Republik waren leicht erregbare Menschen. Hatte man den Krieg glücklich überlebt und war nicht als Krüppel zurückgekehrt, dann wurde der Krieg im Rückblick zu dem großen Abenteuer eines sonst ereignislosen Lebens. Zwar wollte man in den ersten Jahren vom Krieg nichts hören und nichts sehen; dann aber wurde das Ereignis literarisch verarbeitet, und am Ende stand sehr oft die Apotheose des Soldatentums an sich. Der Nazismus war ja auch und ganz bewusst eine Verlängerung der Kriegserlebnisse und machte aus der Fronterfahrung den Inbegriff menschlichen Erlebens.
Ein Sohn aus gutem Haus, fein „geschalt“: Gymnasiast Bruno Kreisky mit seinem Dobermann, 1926.
Auch der Republikanische Schutzbund verdankte seine Entstehung nicht nur dem Wehrwillen der Arbeiterbewegung gegen die präfaschistischen Kampfbünde, sondern entsprang auch dem Bedürfnis der Menschen, die Erinnerung an das größte Erlebnis ihres Lebens wach zu halten. Ich erinnere mich deutlich an viele Nächte, die ich bei Schutzbundbereitschaften zubrachte. Man saß in irgendwelchen Kellern, döste vor sich hin und langweilte sich; eine allgemeine Munterkeit kam erst auf, wenn endlich die Würstel gebracht wurden. Und während dieser nächtelangen Schutzbundbereitschaft haben die Leute am liebsten vom Isonzo geredet, von Gorlice und von Wolhynien. So lernte ich sämtliche Schlachten kennen, auch wer ein guter General und ein tüchtiger Feldwebel gewesen war. Die Mentalität des Feldwebels steckt in vielen Menschen, auch in Zivilisten. Hinzu kam die krankhafte Uniformsucht, die gerade in Österreich sehr stark verbreitet ist. Wir hatten auf der Wieden einen etwas zu kurz geratenen Schutzbundführer, der mit Hochglanzreitstiefeln und in einer Fantasieuniform an der Spitze seiner Schutzbündler immer dicht am Rathausplatz vorbeimarschiert ist, und vielen hat das sehr gut gefallen.
Es gab nach dem Krieg eine Reihe von militanten Organisationen: die österreichischen Frontkämpfer, die in Wirklichkeit eine monarchistische Vereinigung mit präfaschistischem Einschlag waren; die Heimwehren, denen sich vor allem die Bauern anschlossen, ebenfalls präfaschistisch; eine ganze Reihe kleinerer Organisationen in der Politik, und natürlich die sozialdemokratischen Ordnerverbände, allen voran der Republikanische Schutzbund, die bei Demonstrationen die Leut’ im Zaum hielten. Den sentimentalen Militarismus, der allen diesen Organisationen gemeinsam war, habe ich stets für eine große Gefahr gehalten. Für mich war hier eine Entwicklung vorgezeichnet, die die Jugend eines Tages zum Opfer einer viel umfassenderen, politischen Militarisierung machen würde.
Die versteckten Waffenlager aus dem Ersten Weltkrieg wurden instand gesetzt, neu versorgt. Statt dass die schwarzen und roten paramilitärischen Verbände einander mieden, hat es immer wieder Sonntage gegeben, an denen die Rechten in provokatorischer Absicht in großen Arbeiterstädten demonstrierten, und da rückte dann auch der Schutzbund aus, um den terrorisierten Bewohnern die Angst zu nehmen. Ich erinnere mich noch, wie wir zu diesen Aufmärschen hinausgefahren sind, mit Zügen ähnlich denen, die früher einmal an die Front fuhren. Am Südbahnhof standen weinende Frauen und Mütter, und alle hatten nur eine Sorge: Hoffentlich kommst’ gut heim! Diese ewigen Aufmärsche und Gegenaufmärsche waren eine gewaltige Herausforderung an die Exekutive. Wenn sie mit ihren »Spanischen Reitern« zwischen den demonstrierenden politischen Armeen standen, müssen die Ordnungskräfte das Gefühl gehabt haben, ein Opfer dieser Spannungen zu sein. Aufgrund ihrer politischen Herkunft – die meisten kamen vom Land – haben sie ihre Abneigung natürlich vor allem gegenüber den »Roten« zum Ausdruck gebracht.
Am 15. Juli 1927 konnte sich der Schutzbund deshalb nicht bewähren, weil er einfach nicht zusammengerufen worden war, um Brandstiftung zu verhindern. Eine vorausblickende Parteiführung hätte sich sagen müssen, dass es am nächsten Tag wegen dieses Urteils unter Umständen eine sehr aufgebrachte Stimmung geben werde, und daher hätte der Schutzbund in Bereitschaft sein müssen. Dann hätte man den Justizpalast gegen die anstürmenden Demonstranten abriegeln können. Schon an ihren Uniformen wären die Schutzbundbereitschaften erkannt worden, und Karl Seitz wäre die furchtbare Enttäuschung erspart geblieben, dass man das Feuerwehrauto, auf dem er stand, nicht hat vordringen lassen. Wenn dieser beliebte Bürgermeister dann erschienen wäre, hätten die Leute Platz gemacht. So aber haben sie ihn niedergeschrien – als »Bremser« und »Arbeiterverräter«, was beweist, dass unter den Demonstranten viele Nichtsozialdemokraten waren. Es war ein furchtbarer Tag für die Partei und, wie sich bald zeigen sollte, für die österreichische Demokratie. Es war ein furchtbarer Tag auch für mich.
Bis dahin hatte ich immer nur die wohlgeordneten Reihen demonstrierender Arbeiter und Sozialdemokraten gesehen. Das schien mir nun plötzlich wie harmloses Flanieren im Vergleich zu den zornigen Wogen der demonstrierenden Massen vor dem Justizpalast, die man mit Gewalt und unter Blutvergießen vertrieben hatte. Damals ist mir bewusst geworden, dass die Arbeit, die ich in der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler leistete, eigentlich sinnlos war, und dass ich, wenn ich wirklich etwas tun wollte, in die Bewegung der Arbeiterjugend hineingehen musste.
Mit den Mitschülern der Bundesrealschule Wien-Landstraße: Bruno Kreisky in der letzten Reihe, Dritter von links. 1929 legt er hier die Matura ab.
Mit diesem Entschluss zum wirklichen Engagement stand ich ziemlich allein. Plötzlich war ich die Diskussionen um der Diskussion willen satt. Denn es waren Auseinandersetzungen ohne realen politischen Sinn. Auch spielte in diesen Debatten etwas ganz anderes mit: Die Mittelschüler aus Arbeiterkreisen fühlten sich in diesem Milieu nicht wohl. Sie hielten sich auf ihre Art für eine Elite ihrer Klasse, während die Mittelschüler aus bürgerlichem Milieu sich als vom Bürgertum wegstrebende Außenseiter empfanden. Da diese oft aus jüdischen Familien kamen, schwang in allen Diskussionen immer auch eine kleine Spur des speziellen österreichischen Antisemitismus mit. Es mögen interessante Themen gewesen sein, über die wir da diskutierten, und man hat viele große Leute geholt, um sich belehren zu lassen, ob zum Beispiel in der Sowjetunion der Thermidor schon ausgebrochen sei oder nicht. Aber ich wollte mehr. Ich suchte, was mir aus meiner Klassenlage heraus nicht so leicht zu finden möglich war: den Kontakt zur jungen Arbeiterschaft.
Und so habe ich mich auf den Weg zur Arbeiterjugend gemacht. Ich wusste, dass das kein einfacher Weg war, aber so schwierig, wie er dann wurde, hatte ich es mir nicht vorgestellt. Das erste Problem war meine Mutter. Sie wollte immer wissen, wo man mich finden könne, aber ihr wollte ich von meiner neuen Welt nichts erzählen. Infolgedessen habe ich mich von ihr zum Schein überreden lassen, eine Tanzschule zu besuchen. Sie hat Elmayer geheißen und wurde von einem Rittmeister geleitet, der Generationen von Wienern nicht nur das Tanzen beibrachte, sondern auch gutes Benehmen oder was man darunter verstanden hat. Die Einschreibgebühr habe ich noch bezahlt, 20 Schilling. Aber bereits die ersten Monatsbeiträge, die ich von meiner Mutter einkassierte, habe ich schlicht veruntreut. Ausstaffiert, als ginge es zu einem Jugendball, in einem blauen Gabardineanzug mit weißem Hemd und passender Krawatte, bin ich bei der sozialistischen Arbeiterjugend in der Wiedner Hauptstraße 60 b aufgekreuzt. Mein Aufzug war offensichtlich Anlass zum Spott; manche gaben ihrem Misstrauen auch direkt Ausdruck. Nach dem Krieg wurde ich einmal gefragt, warum ich immer so fein »geschalt« gewesen sei. Als ich daraufhin zugab, dass ich meiner Mutter hatte vorgaukeln müssen, dass ich in die Tanzschule Elmayer ginge, rief das allgemeine Heiterkeit hervor. Zuhause habe ich mich dann in vieles leichter gefügt. Ich hatte geschnittene und saubere Fingernägel, die Haare waren in Ordnung, und meine gütige, naive Mutter war der Meinung, ich sei vernünftig geworden.
Das eigentliche Problem bereitete mir die Sozialistische Arbeiterjugend selbst. Schon am ersten Tag ist mir das widerfahren, was man die »Intellektuellenfeindlichkeit« nennt. Die beiden Obmänner waren zwei baumlange Kerle: Ferdinand Nothelfer, einer der Sekretäre der Gewerkschaft der Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe, kam aus der Bahnhofswirtschaft in Linz, der andere war Heinrich Matzner. Sie haben mich in die Mitte genommen und gesagt: »Du gehörst eigentlich nicht zu uns, für dich gibt’s die Vereinigung sozialistischer Mittelschüler!« Aber von dort kam ich ja!
Verwirrt über diese ungnädige Aufnahme, wandte ich mich an einen Freund, der den Sprung bereits geschafft hatte, und der hat mich aufgeklärt: Diese Haltung sei auf Victor Adler zurückzuführen, der immer gesagt habe, Intellektuelle müsse man dreimal wegschicken, und wenn sie dann noch immer zur Mitarbeit bereit seien, dann dürfe man sie behalten. Unter denen, die von Victor Adler dreimal weggeschickt worden waren, gab es denn auch eine ganze Reihe von Leuten, die später erbitterte Feinde der Partei wurden, wie zum Beispiel der bekannte Journalist Dr. Wengraf, der im Neuen Wiener Journal Woche für Woche seine Tiraden gegen die Sozialdemokraten losließ. Er war ein sehr begabter Literat, aber Victor Adler hatte ihn nicht haben wollen, und das hat ihn wohl in seinem Stolz maßlos gekränkt.
Das Gespräch mit meinem Freund Baczewski, der aus einem großbürgerlichen Hause kam, hat mir wieder Mut gemacht. Es gehört zu den Paradoxien des politischen Lebens, dass er, dem ich meine Standhaftigkeit verdankte, derjenige war, an dessen Ausschluss aus der Sozialistischen Arbeiterjugend ich kurze Zeit später mitwirken sollte. Er wurde nämlich Kommunist und stand in dem berechtigten Verdacht, innerhalb der Sozialistischen Arbeiterjugend sogenannte Zellenarbeit zu leisten. Jedenfalls brachte ich nun genügend Ausdauer mit und habe die Bewährungsprobe bestanden.
Bald schon entdeckte ich, dass ich mich in diesem neuen Kreis nicht nur gesinnungsmäßig, sondern auch persönlich sehr wohl fühlte. Ich traf dort mit jungen Menschen zusammen, die die Personifizierung all dessen waren, was mich zum Sozialismus hindrängte. Das Erlebnis der letzten Kriegsjahre, die Inflation, die Entwertung aller Werte, die Arbeitslosigkeit, alles das hatte mich aufgerüttelt und in mir das Bedürfnis geweckt, diesem Phänomen auf den Grund zu kommen. Hinzu kam, dass ich in einer intellektuellen Opposition zur Gesellschaft stand. Sonderbarerweise nicht zu meinem Elternhaus, denn im Unterschied zu vielen anderen jungen Leuten war ich mit meiner Familie nicht zerfallen.
Aber die Kluft zwischen den Klassen war mir schon früh deutlich geworden, nicht theoretisch, sondern in ihrer Realität. Beeinflusst wurde ich wohl auch durch die Individualpsychologen, die sich um meinen kranken Bruder bemühten und wochenlang bei uns im Haus verkehrten. Sie waren zum größten Teil Sozialdemokraten. Mein politisches Interesse war also längst geweckt, als ich den entscheidenden Schritt tat. Die Entwicklung war völlig unpathetisch vor sich gegangen, und den Parteibeitritt selbst empfand ich im Grunde als selbstverständlichen Formalakt.