Kitabı oku: «Lufthunde», sayfa 2
In einem umfassenden Sinn ist Wilhelm Busch unser aller Onkel geblieben. Als ein glückliches Resultat wird man das nicht bezeichnen wollen, eher als eine typisch familiäre Notlösung (mehr Not als Lösung, möchte man sagen). Der Preis, den er für die Duldung im Schoß seiner Lieben zu zahlen hat, liegt in der Anmutung der Lustigkeit, die er seiner doch eigentlich traurigen Existenz zu geben hat; aufs Lustige kommt man bei Wilhelm Busch immer wieder zurück. Es eignet dieser pläsierlichen Haltung eine ansteckende Kraft, fast wie einem Gähnen, die bis heute zu spüren ist: Die Mechanismen, an denen Busch sich formte und von denen er verformt wurde, können nicht gänzlich verschollen sein. Man muss schon sehr kämpfen, um sich da nicht einfach kongenial gehen zu lassen. Noch Gerd Haffmans schreibt 2004 in seinem Nachwort: »Sollte der unmögliche Fall der Fall sein, dass jemals jemand alkoholische Getränke in ein wenig reichlicher Form zu sich genommen hat, so wird er bei Betrachtung dieser Bilder nur ebenso bitter wie beifällig in sich hineinmurmeln: ›Jaja, genau so isses.‹« Dabei liegt es auf der Hand, dass diese Bilder – gemeint sind vor allem die Rausch-Episoden der »Haarbeutel« – das Werk eines schwer alkoholkranken Mannes sind. Indem Haffmans Busch den Gefallen tut, diese Tatsache schmunzelnd zu verharmlosen, tut er ihm zuletzt keinen Gefallen; er verweigert ihm das erlösende Wort, das hier so dringend nötig wäre wie im »Parsifal«: Oheim, was ist Euch?
Und so hat man bei der Busch-Rezeption oft den Eindruck, auch nach hundert Jahren, dass hier weniger die Nachwelt als eine verschleppte Mitwelt zugange ist. Man hat bei Busch die vielen Momente seiner zeichnerischen Technik betont, die in die Moderne bis hin zu Film und Abstraktion vorausweisen, gewiss mit gutem Grund. Als machtvoller aber erweist sich sein Potential, uns zum Rückfall zu ermuntern. Wir halten uns für Bürger des 21. Jahrhunderts, von dem wir doch noch gar nichts wissen können. (Wer hätte vor hundert Jahren was vom 20. gewusst?) Was uns aber offenbar so unverlierbar anhaftet wie Knopp, wenn er seine eleganten Tanzfiguren aufs Parkett legt, der heimlich und außerhalb seines Gesichtskreises angenähte Schweineschwanz, das ist immer noch das vorvergangene Säculum; in ihm suchen wir Behagen, seine gereimten Ohrwürmer üben immer noch schmeichelnde Gewalt über unser Gehör und Gedächtnis, zu ihm greifen wir wie ein Kind, dem seine Eltern die Schokolade verboten haben, gierig, sobald niemand zuguckt. In keinem anderen Autor verkörpert sich für uns so machtvoll ein lasterhaft süßes Heimweh nach dem 19. Jahrhundert. Mit Verwunderung über die ungebrochene Lebenskraft eines so gebrochenen Phänomens und nicht ohne Respekt sei es gesagt: Den habt ihr noch nicht hinter euch!
Knopp und sein Schwänzchen
NIETZSCHESTECHEN
Es gab früher eine besondere Art von Losorakel, das seinen Ursprung wohl in den innigeren Traditionssträngen des Protestantismus hat, dem Quietismus, dem Pietismus und wie sie alle heißen: das Bibelstechen. Man stellte der Heiligen Schrift eine Frage, die das persönliche Schicksal betraf, griff dann zu einer Strick-, Spick- oder Stopfnadel, einem langen spitzen Gerät jedenfalls, das den Körper des Buchs in voller Länge zu durchdringen vermochte, stach hinein, entschied sich noch für rechts und links – und da stand der Spruch, der unfehlbaren Aufschluss gab, wenngleich man ihm diesen oft erst durch langes und manchmal gewundenes Nachdenken entlocken musste. Den Amtskirchen war diese Art von privater Hermeneutik wohl immer ein Dorn im Auge, weil er dem Hauptstrom der Verkündigung ein kleines Wässerlein entzog, das jemand auf seine eigene Mühle zu lenken trachtete. Und es steckt gewiss auch ein frivoles Moment darin. Dieses muss sich verstärken, wo der Glaube schwächer wird. Auch ich, ein Heide, habe dieses Orakel verschiedentlich bemüht und andere ermutigt, es mir gleichzutun; ein Gesellschaftsspiel haben wir daraus gemacht. Aber darum waren die Fragen, die wir an das Buch richteten, doch immer bedeutsame – und die Antworten nicht minder; ja zuweilen war es erheiternd bis gespenstisch, wie ohne Umschweife der entlegene Vers auf das, was wir ihn fragten, passte. Glaubte man ihm? Nichts weniger. Und tat es doch in jener Weise, wie der Aberglaube es zu tun pflegt, nämlich im Erlebnis der guten oder schlechten Laune, in die man sich versetzt fand, je nachdem. In dieser Gestimmtheit besuchen pietätlose Touristen ein Spukschloss. Den Spuk erklären sie für Unfug und wären doch enttäuscht, wenn sie herausfänden, dass die Überlieferung ihn in Wahrheit einem anderen Ort zuschreibt und sie sich bei der Wahl ihres Reiseziels geirrt hätten. Sie wären sogar imstande, ihr Geld zurückzuverlangen, weil sie sich betrogen fühlen. Das sind so die homöopathischen Spätzustände der Geschichte.
Ein entsprechendes Stechen in den Gesammelten Werken Friedrich Nietzsches kann nicht ganz auf dieselbe Art funktionieren. Wir taten es zu zweit, nachdem wir einen langen, erschöpfenden Abend mit der Behandlung eines anderen literarischen Werks verbracht hatten: abschließend, zur Erholung und damit so etwas wie ein Ausklang da wäre. Während es mit der Bibel, auch im Zeitalter ihrer Säkularisierung, ja immer so steht, dass nicht wir sie prüfen (obwohl wir das vorgeben), sondern sie uns, musste es bei Nietzsche umgekehrt sein. Es ist ein Werk, groß genug, dass es sich verlohnt, es in jedem seiner Sätze einzeln zu untersuchen; aber doch eben wieder allzu deutlich Menschenwerk, als dass der Reiz dieses Verfahrens nicht eben vor allem darin bestünde, es dem Urteil auszusetzen. Nicht »Was sagst du mir?« konnte die Frage lauten, sondern »Was soll ich von dir halten?« Das ist übermütig bis zur Anmaßung, aber angesichts eines unabsehbar gewordenen Ruhmes hilft es womöglich weiter. »Nietzsche als solcher«, das ist ein Trumm, vor dem jeder instinktiv zurückschreckt. (Tucholsky erzählt von einem wiederkehrenden Albtraum: Es ist Deutschabitur, alle warten gespannt auf die Stellung des Aufsatz-Themas, da kommt es: Goethe als solcher. Schweißgebadet erwacht er.) Aber wenn es gelänge, Nietzsche nach einem zuverlässig kaleidoskopischen Verfahren zu sondieren, da könnte was herausspringen – zumal Nietzsche, speziell der mittlere, ja selbst dazu neigt, das Werk in kleinen Portionen vorzusetzen, durchnumeriert, um das Zufällige zu betonen, das in jeder Reihe herrscht, so dass man die Gefahr, hier etwas aus dem Zusammenhang zu reißen, als gering taxieren darf. Er will, was er zu sagen hat, durchaus in Brocken geben? Testen wir also die Brocken!
Drei oder vier Stiche wagten wir an jenem späten Abend und waren angenehm enttäuscht: enttäuscht, wie wenig er Stich hielt, in des Wortes buchstäblicher oder mindestens absätzlicher Bedeutung; aber doch angenehm, in welchem Grad wir der Zwiesprache teilhaftig wurden. Ja, an den mittleren hielten wir uns, der redet und mit sich reden lässt, und führten die Stiche mit einer gewissen vagen Vorauswahl (wie es beim Bibelstechen der tut, der möglichst weit hinten stochert, in der Hoffnung, ein Kraftwort aus der Apokalypse zu ergattern). Denn wir wussten gut genug, dass der späte nicht minder als der frühe Nietzsche vor allem Stil ist, ein ihn selbst arg strapazierender Stil; dass er dort ganz in sich befangen bleiben muss und sich dem anderen nur um bewundert zu werden, also: gar nicht öffnet. Den »Zarathustra« muss man zuallererst mögen oder nicht mögen; da bleibt die Frage nach seiner Wahrheit auf der Strecke, jene Frage, die dem, der sie stellt, immer sofort eine überschwengliche Freiheit beschert.
Auf was wir damals stießen, tut jetzt nichts mehr zur Sache. Jetzt halte ich die Nadel (einen hölzernen Schaschlikspieß) neu in der Hand und warte nicht ohne Bangen, worauf die kecke Wünschelrute wohl diesmal zeigt. Die Reaktion erfolgt im Kommentar, assoziativ, beipflichtend, weiterführend, einwendend, je nachdem, es soll hier keine Regel geben. Nur eine regulierende Bedingung führe ich ein: Wo das erstochene Stück mehr als zwanzig Zeilen hat, also zu viel, um in seiner Gänze Präsenz zu erlangen, lasse ich es beiseite und versuche es noch einmal.
Erster Stich: Menschliches, Allzumenschliches,
Erster Band: Anzeichen höherer und niederer Kultur, Nr. 266
»Unterschätzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. – Man sucht den Wert des Gymnasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie so schnell er darf von sich abzuschütteln. Das Lesen der Klassiker – das gibt jeder Gebildete zu – ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Prozedur: vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehltau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Wert, der gewöhnlich verkannt wird – dass diese Lehrer die abstrakte Sprache der höhern Kultur reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; dass Begriffe, Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hören, so wird ihr Intellekt zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich präformiert. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt von der Abstraktion als reines Naturkind herauszukommen.«
Dieses Gymnasium hat mit dem heutigen nicht mehr viel Ähnlichkeit. Dieses Gymnasium, das ganz auf den Frontalunterricht in den alten Sprachen setzt, kannte ich (Bayern 1970 – 80) noch zum Teil. Es war, obwohl gern das Gegenteil behauptet wird, keine eigentlich gute Schule; vielleicht ist heute tatsächlich vieles besser, mindestens nicht mehr so dumpf. Wenn ich mich erinnere, erstaunt mich vor allem, was ich damals nicht erkennen konnte oder für selbstverständlich hielt, mit wie geringem Aufwand oder sagen wir lieber gleich: mit welcher Faulheit diese Lateinlehrer alle durchkamen. Auf etlichen von ihnen lag nicht nur jener Mehltau, von dem Nietzsche spricht, er faltete sich geradezu aus der Fläche in bizarren Wucherungen auf. Mit der alten Schule ist auch der völlig durch seine Marotten charakterisierte Lehrer dahin. Das ist ein Verlust im Malerischen, sonst wohl eher nicht. Nietzsche spricht offenbar in erster Linie von jenem Zögling, der er war, also dem, der von allem Lernbaren unter doch widrigen Umständen das Maximum gelernt hat; er selbst war der ideale Schüler, den er im Auge hat. Und sogar der erreichte das wahre Lernziel, von dem die Institution und ihre Mitwirkenden gar keinen Begriff haben (was taugt sie also als solche, als Institution?), auf vorwiegend indirektem Weg. Dabei lernt doch, wie es im »Faust« heißt, jeder nur, was er lernen kann, und das heißt jedenfalls: die anderen noch weniger. Hier liegt das Fragwürdige dessen, was man als das Argument der formalen Bildung kennt. Heute schaffen die Gymnasiasten allerdings durch die Bank etwas, das Nietzsche für schlechterdings unmöglich erklärt hatte, nämlich das Gymnasium als reine Naturkinder zu verlassen. Das habe ich erst gestern erleben dürfen, als ich meinerseits mit den frischgebackenen Studenten den lateinischen Konjunktiv durchnahm und rasch darauf stieß, wie wenig Sinn bei ihnen für den deutschen Konjunktiv waltet. Der Konjunktiv kann als der Prüfstein dessen gelten, was Nietzsche meint, als der Inbegriff der »abstrakten Sprache der höhern Kultur«. Damit also ist es nichts.
Über Nietzsches Text liegt etwas unerwartet Frohgemutes, das angesichts der eingestanden miserablen Qualität des genossenen Unterrichts erstaunt. Zwischen Unterricht und Bildung, Lehrern und Lehre setzt er ein Verhältnis an, wie es im Mittelalter zwischen empirischer Kirche und vorausgesetztem Christentum, lästerlichem Pfaffen und verheißenem Heil bestand. Niemals vermag der schlechte Mönch das Sakrament, das er erteilt, zu beflecken und zu entweihen, hier vollzieht sich etwas Übergroßes durch ihn hindurch kraft einfachen Amtes. Und auch dass der Empfänger ein arger Sünder oder gänzlich unreif ist, stellt kein Hindernis dar. So wirkt im Internat Schulpforta, das Nietzsche besuchte, das alte Kloster fort, das es vorher war. Diese Zuversicht, die keine pädagogische, sondern eine metaphysische ist, hat es ihn gelehrt, obschon er es nicht weiß. Die wahre Tradition wirkt immer unterirdisch. Das eben will uns Nietzsche sagen, und tut es um so überzeugender, als er selbst den Prozess nur zur Hälfte durchschaut und uns zur anderen Hälfte stattdessen ein bewusstloses Exempel gibt.
Zweiter Stich: Menschliches, Allzumenschliches,
Zweiter Band: Der Wanderer und sein Schatten, Nr. 312
»Zerstören der Illusionen. Die Illusionen sind gewiss kostspielige Vergnügungen: aber das Zerstören der Illusionen ist noch kostspieliger – als Vergnügen betrachtet, was es unleugbar für manchen Menschen ist.«
Kürze ist ein lohnenswertes stilistisches Ziel; aber keine Tugend, welche ihren Lohn in sich selbst trägt. Man sollte niemals der Kürze Opfer der Klarheit bringen, lieber noch zwei bis drei Sätze hinzufügen, um komplettes Verständnis zu sichern. Sonst gelangt man beim Aphorismus heraus, der letztlich nichts anderes als die Hohlform der Geschwätzigkeit darstellt. Denn er setzt seinen Ehrgeiz und seine Eitelkeit in die Andeutung, wieviel mehr als das manifest Vorhandene der Autor sich noch gedacht habe; und der Leser wird ermuntert bis genötigt, es ihm darin nachzutun. Im Aphorismus will der Gedanke glänzen, aber das soll er nicht wollen; Glanz darf er nur nebenbei und gewissermaßen unwillkürlich erreichen, als ein Abfallprodukt des Transparenten, wie eine Fensterscheibe, die, in bestimmtem Winkel gedreht, das Licht zurückwirft, das sie sonst durchlässt. Dieses Stück hier schrammt für meinen Geschmack schon gefährlich dicht am Aphorismus entlang – namentlich in dem Wortspiel von »Vergnügungen« und »Vergnügen«. Die zwei kommen rein zufällig zusammen, im ersten Fall ist es eine ziemlich unbedachte feste Redewendung, im zweiten Fall aber im Ernst etwas, worin der, der es tut, seine Lust findet. Der Satz ist minder tief, als er glaubt; er geht sich sozusagen selbst auf den Leim, er ist ein Stück entfesselte Geistreichelei. Nietzsche sagt an anderem Ort durchaus das Nötige über den Unterschied des Geistreichen und des Gedankenvollen; hier hat er es vergessen. Heißt dieser Satz noch etwas anderes, als dass z. B. der Fromme viel Geld für Blattgold und Räucherkerzen verbraucht, man es ihm aber in Gottesnamen nicht madig machen soll, weil die Enttäuschung allzugroß für ihn wäre, größer jedenfalls als die Einbußen, die er durch seine Andacht erleidet? Darüber sollte man nachdenken – und sich gleichzeitig den viel größeren Ernst vor Augen halten, mit dem Sigmund Freud dasselbe Thema in »Die Zukunft einer Illusion« behandelt hat. Freud hat übrigens niemals Aphorismen geschrieben, das hätte sein ärztliches Ethos ebensowenig zugelassen wie die Ausstellung eines unleserlichen Rezepts.
Dritter Stich: Die Fröhliche Wissenschaft,
Viertes Buch: Sanctus Januarius, Nr. 328
»Der Dummheit Schaden tun. – Gewiss hat der so hartnäckig und überzeugt gepredigte Glaube von der Verwerflichkeit des Egoismus im ganzen dem Egoismus Schaden getan (zugunsten, wie ich hundertmal wiederholen werde, der Herden-Instinkte!) namentlich dadurch, dass er ihm das gute Gewissen nahm und in ihm die eigentliche Quelle alles Unglücks suchen hieß. ›Deine Selbstsucht ist das Unheil deines Lebens‹– so klang die Predigt jahrtausendelang: es tat, wie gesagt, der Selbstsucht Schaden und nahm ihr viel Geist, viel Heiterkeit, viel Erfindsamkeit, viel Schönheit; es verdummte und verhässlichte und vergiftete die Selbstsucht! – Das philosophische Altertum lehrte dagegen eine andere Hauptquelle des Unheils: von Sokrates an wurden die Denker nicht müde zu predigen: ›eure Gedankenlosigkeit und Dummheit, euer Dahinleben nach der Regel, eure Unterordnung unter die Meinung des Nachbars ist der Grund, weshalb ihr es so selten zum Glücke bringt – wir Denker sind als Denker die Glücklichsten.‹ Entscheiden wir hier nicht, ob diese Predigt gegen die Dummheit bessere Gründe für sich hatte als jene Predigt gegen die Selbstsucht; gewiss aber ist dies, dass sie der Dummheit das gute Gewissen nahm – diese Philosophen haben der Dummheit Schaden getan!«
Das ist ein sehr anregender Text; anregend bis zu dem Punkt, wo man sein Falsches erkennt. Über die Quelle seines bestechenden Irrtums kann Nietzsche sich nicht im klaren sein. Sie liegt, wie schon beim letzten Fall, im unbedachten Doppelsinn eines Worts, hier der »Dummheit«. Dummheit oszilliert ja immer zwischen den Polen des Intellektuellen und des Moralischen – wobei diejenigen, die sich dem Thema mit den Energien des Zorns gewidmet haben, alle auf der moralischen Seite gelandet sind. Dies geschieht freilich erst im Zeitalter Nietzsches selbst, dem 19. Jahrhundert. Als Nietzsches Zeitgenosse schreibt Gustave Flaubert an dem semidokumentarischen »Wörterbuch der vorgefassten Meinungen«. (»Dictionnaire des Idées Reçues«). Nie hat ein Bußprediger leidenschaftlicher gegen die Sünde gewettert als Flaubert gegen die Dummheit, und nie auch nur annähernd so verzweifelt, denn Flaubert steht keine regulative Idee zur Seite, die zum Bestrittenen das Andere wäre, wie die Nächstenliebe (oder auch die Hölle) es zum Egoismus ist, kein Licht in der Nacht; Flaubert erstickt vor ratlosem Hass, das ist sein Schicksal, in dieser Verfassung stirbt er. Solche Dummheit, solche tiefste, hoffnungsloseste Verkommenheit ist gemeint, wenn es heißt, dass mit ihr die Götter selbst vergebens kämpfen. (Die Wendung stammt von Schiller, den man jedenfalls hinsichtlich seiner Wirkung ganz dem 19. Jahrhundert zurechnen darf.) Diese Dummheit ist vom Egoismus nicht geschieden, sondern fasst ihn unter dem Aspekt seiner anstrengungsfreien Unbelangbarkeit, die ihren von vornherein verlorenen Widersacher mit lebenszerfressender Erbitterung füllt. Sie ruht gesichert in der Tautologie: Denn dumm sein heißt, es bleiben wollen.
Diese eminent moralische Kategorie ist aber eindeutig nicht, was die antike Philosophie im Sinn hatte. Schon die entsetzlich gute Laune, die Philosophen wie Sokrates und Seneca versprühen, lenkt den Blick darauf, dass sie es unmöglich mit derselben Dummheit wie Flaubert zu tun haben können. Mit größerem Recht spräche man hier von einer ursprünglichen Unbedarftheit, die zu beheben die Philosophie ja eben antritt. Sie, die bloße »Meinung«, soll in einem pädagogischen Zweistufenprogramm beseitigt werden. Schritt eins: die Haltlosigkeit des bisherigen intellektuellen Zustands wird nachgewiesen, das Falsche beim Namen genannt und damit ausgeräumt. Hier kratzt sich der Gegenstand der philosophischen Pädagogik am Kopf und sagt, »Fürwahr, Sokrates, ich weiß es nicht mehr«. Schritt zwei: anstelle des Falschen tritt nach und nach das Richtige. Die Gesprächsbeiträge des anderen Dialogpartners tendieren nunmehr sehr zur Kürze, denn er hat nur noch zuzustimmen. Danach bedarf es keines weiteren bekehrenden oder umkehrenden Aktes; das Richtige erkennen und es auch tun hält die Antike für wesensgleich. Der Weise, der Gute und der Glückliche sind für sie ein und dieselbe Figur, die der Welt nur mal diese und mal jene Seite ihres Dreiecks zuwendet; und umgekehrt erklärt sie ebenso dumm, bös und unglücklich für kongruent. Die Bosheit zu verdammen und an der Dummheit zu verzweifeln, gibt es gar keinen Grund, denn beide sind ja schon mit sich selbst hinlänglich gestraft, in ihrem Unglück nämlich. »Schaden getan«, wie Nietzsche meint und wie Flaubert es allzugern bewirkt hätte, hat die antike Philosophie der Dummheit nie; sie betrachtete die Dummheit als eine Krankheit und sich als den Arzt, und nicht Schaden tun, sondern heilen war ihre Absicht. Hier liegt der Hauptunterschied zu dem, was die christliche Predigt dem Egoismus zufügen will; denn der Egoismus ist auf seine Weise ja durchaus immer gesund, so gesund wie es der Teufel eben zu sein pflegt, und muss anders, mit anderen Mitteln und anderen Zwecken, bekämpft werden. Das Christentum respektiert das Böse (und eben dieses erkennt sie im Egoismus) als Gegner eigenen Rechts, statt es als bloßen Defekt herausschneiden zu wollen. Die antike Philosophie hingegen (die vor allem eine Ethik ist) verfehlt das Böse kategorial und wird darüber, in ihrem übertrieben optimistischen Menschenbild, selber dumm. Das Christentum erst machte mit der furchtbaren Seichtheit des antiken philosophischen Denkens ein Ende, es zerstieß die Wand dieses allzu heiteren Nichtschwimmerbeckens zum Ozean aus Heil und Verdammnis – nicht ohne bald in seiner eigenen Dummheit zu versacken, wie Nietzsche anzumerken nicht unterlässt. – So also erliegt Nietzsche der vorsprengenden Wucht seiner Assoziationen. Auf Höhe des Wortes »Dummheit« liegt eine dünne Stelle, der Funke springt falsch über, und der Gedankenblitz zündet als Kurzschluss.
Vierter Stich: Jenseits von Gut und Böse: Unsere Tugenden, Nr. 231
»Das Lernen verwandelt uns, es tut das, was alle Ernährung tut, die auch nicht bloß ›erhält‹–: wie der Physiologe weiß. Aber im Grunde von uns, ganz ›da unten‹, gibt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen Probleme redet ein unwandelbares ›das bin ich‹; über Mann und Weib zum Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen – nur zu Ende entdecken, was darüber bei ihm ›feststeht‹. Man findet beizeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine ›Überzeugungen‹. Später – sieht man in ihnen nur Fußtapfen zur Selbsterkenntnis, Wegweiser zum Probleme, das wir sind – richtiger, zur großen Dummheit, die wir sind, zu unserm geistigen Fatum, zum Unbelehrbaren ganz ›da unten‹. – Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher schon gestattet sein, über das ›Weib an sich‹ einige Wahrheiten herauszusagen: gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiß, wie sehr es eben nur – meine Wahrheiten sind.«
Ein eigentümlich umwegiger Text. Man weiß erst gar nicht, was er will, merkt bloß etwas befremdet, wie hier das Pompöse – »Fatum«, »Granit«, »vorherbestimmt«, »ausgelesene Fragen«, »kardinales Problem« – Hand in Hand geht mit dem Herumdrucksen des »ganz ›da unten‹«, dieses auch noch, zum Zeichen des schlechten Gewissens, in Gänsefüßchen gesetzt. (Es gibt hier allgemein sehr viele Gänsefüßchen.) Das, worum es sich in Wahrheit handelt, wird in einem Understatement, das an Falschmeldung grenzt, mit einem ›zum Beispiel‹ hereinbugsiert. Das Weib also. Seine Angst davor und sein Unglück, das daraus entspringt, kann Nietzsche nicht zugeben, am allerwenigsten aber seinen Mangel an Erfahrung mit diesem imaginierten Wesen. Es ist lustig und traurig zugleich, wie er hier zwischen Umlernen und Auslernen den Unterschied macht, wo er doch kaum zum Anlernen gekommen ist, und mit was für miserablen Exemplaren: seiner Mutter, seiner Schwester und der schlimmsten von allen, der Sammlerin bemerkenswerter Männer Andreas-Salomé. Auf dieses vampirische Terzett lassen sich keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen gründen. Aber um sein höchstpersönliches Pech zu maskieren, muss Nietzsche tun, als hätte er unter keinen Umständen was Besseres gekriegt, weil die anderen nämlich auch alle so sind. Die Brüste sind ihm viel zu sauer. Er flüchtet sich, was er mit seiner feinen Psychologie bei einem anderen sofort durchschaut hätte, aus der Scham in den Trotz. Wenn einer mit dieser Geste sagt »meine Wahrheiten«, dann kann man Gift drauf nehmen, dass es noch nicht mal seine Wahrheiten sind. Interessant ist die Sache mit den Fußtapfen zur Selbsterkenntnis, die man nach einiger Lebenszeit aus seinen verschiedenen und scheinbar ganz getrennt-zufälligen Erlebnissen lesen kann. Damit dieser Gedanke aber Wahrheit erlangte, müsste er mit mehr Freiheit entwickelt sein und nicht so völlig aus dem unfruchtbaren Geist der Defensive.
Fünfter Stich: Menschliches, Allzumenschliches,
Erster Band: Von den ersten und letzten Dingen, Nr. 32
»Ungerechtsein notwendig. – Alle Urteile über den Wert des Lebens sind unlogisch entwickelt und deshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urteils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist, und zwar dies mit voller Notwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesamtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maß, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Größe, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maß kennen, um das Verhältnis irgendeiner Sache zu uns gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urteilen sollte; wenn man aber nur leben könnte ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! – denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu etwas oder von etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Wert des Zieles existiert beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen und können dies erkennen: dies ist eine der größten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.«
Die hier angewendete Art, Texte auszuwählen, führt dazu (und das darf man nicht nur als einen Nachteil buchen), dass auch solche zum Vorschein kommen, die sonst kaum jemand der näheren Betrachtung gewürdigt hätte. Einige der vorherigen Stücke waren problematisch; dieses darf man mit Fug und Recht als schwach bezeichnen. Es hält sein Thema nicht. Zunächst scheint es um den Wert des Lebens überhaupt zu gehen, man vermutet eine Abrechnung mit den pessimistischen Theorien; auf sehr pedantische Weise wird auseinandergesetzt, warum wir keine vollständigen Daten zum Wert des Lebens gewinnen können, was wenig zur Sache tut. Dann aber, wiederum gelockt von nur einem Wort (»ungerecht«) und unter dem Vorwand des Beispiels, springt Nietzsche in eine völlig andere Bahn über: Plötzlich geht es darum, ob wir unsere Mitmenschen billig beurteilen können. Das können wir natürlich nicht. (Übrigens schließt das die Weiber ein – man sollte Nietzsche öfters mit sich selbst konfrontieren.) Wo, bitte, steckt hier das Problem? Sollte es je eins gewesen sein, so hat es sich jedenfalls nicht bis in unsere Zeit gehalten und ist verdunstet. Auch die beklagte »Disharmonie« wurde nicht aufgelöst, sondern ist verklungen, so ähnlich wie manche andere, die sich auf Nietzsche zurückführt, z. B. der Antagonismus von Künstler und Bürger im »Tonio Kröger« von Thomas Mann. Dass der Mensch ein grundhaft unlogisches Wesen sei, darf man getrost verneinen. Nicht folgerichtig bis in jenes Letzte, in dem doch zumeist auch ein geheimer Fehler steckt, der, wenn man nicht einschreitet, monströse Irrtümer zeitigt, unterwirft er sich doch von Sekunde zu Sekunde den einströmenden Daten und mittelt seine Stellung dazu aus, die so gut wie immer eine sehr vernünftige Näherung ans je Erforderliche mit sich bringt. Ein Individuum ist er halt, in jedem seiner ungezählten Exemplare, dem die Justierung auf das ihn umgebende Allgemeine nicht erlassen wird. Gerechtigkeit ist seine geringste Sorge. Übrigens kann jeder, der sich umhört, feststellen, dass das, was die Leute so übereinander sprechen, abgesehen von einer gewissen spitzen Neugier, die aber selten bösartig wird, einander sehr große Gerechtigkeit widerfahren lassen. Und wo sie aus konventioneller Gedankenlosigkeit ihre Einwände zu Protokoll geben, etwa wenn eine ältere Frau und ein sehr viel jüngerer Mann zusammenfinden, dann genügt meist eine einzige lenkende Bemerkung – Bedenkt, das Glück der beiden hängt auch davon ab, was ihr davon redet! –, um sie zur Besinnung zu bringen. Das Gerechtigkeitsgefühl waltet in den Meisten wie ihr Gleichgewichtssinn: rein subjektiv, aber doch mit einer blitzschnellen praktischen Unfehlbarkeit begabt, die verhindert, dass irgendwas kippt und stürzt. Selbst die Ungerechtigkeit kann man, mit jener erheblichen Lust, die dem Ausübenden von seiner besonderen Kunst gewährt wird, ins Joch der Gerechtigkeit zwingen. Dazu braucht man allerdings Übung. Man kann es lernen, sein Ressentiment als Leitspur zu gebrauchen. Hier stimmt was nicht, das sagt mir meine Nase – doch was? Hier muss man dann vom Geruch zum nachweislichen Augenschein übergehen. Und Gerechtigkeit, auch das sollte nicht vergessen werden, ist nicht alles; in den besten, wichtigsten, fruchtbarsten menschlichen Beziehungen kann ihr immer karges Kalkül vor lauter Großmut gar nicht Fuß fassen. Die Luft um dieses Thema ist nicht so gewitterhaft, wie Nietzsche uns glauben machen will.
Sechster Stich: Morgenröte, Drittes Buch, Nr. 194
»Eitelkeit der Morallehrer. – Der im ganzen geringe Erfolg der Morallehrer hat darin seine Erklärung, dass sie zu viel auf einmal wollten, das heißt, dass sie zu ehrgeizig waren: sie wollten allzugern Vorschriften für alle geben. Dies aber heißt im Unbestimmten schweifen und Reden an die Tiere halten, um sie zu Menschen zu machen: was Wunder, dass die Tiere dies langweilig finden! Man sollte begrenzte Kreise sich aussuchen und für sie die Moral suchen und fördern, also zum Beispiel Reden vor den Wölfen halten, um sie zu Hunden zu machen. Vor allem aber bleibt der große Erfolg immer dem, welcher weder alle, noch begrenzte Kreise, sondern einen erziehen will und gar nicht nach rechts und links ausspäht. Das vorige Jahrhundert ist dem unsern eben dadurch überlegen, dass es in ihm so viele einzeln erzogene Menschen gab, nebst ebenso vielen Erziehern, welche hier die Aufgabe ihres Lebens gefunden hatten – und mit der Aufgabe auch Würde, vor sich und aller anderen ›guten Gesellschaft‹.«