Kitabı oku: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 338»
Impressum
© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-735-8
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Burt Frederick
Vor Floridas Küste
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
1.
Die Luft stand still. Es fehlte nicht viel, und man hätte sie mit dem Cutlass in Scheiben schneiden können. Davon waren die Männer an Bord der „Isabella IX.“ überzeugt. Der Schweiß lief ihnen aus allen Poren, auch wenn sie sich nicht übermäßig bewegten. Denn die Reparaturen waren eine ihrer leichtesten Arbeiten.
Der Sturm hatte der schlanken Galeone etliche Schäden zugefügt. Doch es war nach dem tosenden Unwetter keineswegs kühler geworden. Gerade so, als sei nichts geschehen, lasteten subtropische Hitze und Luftfeuchtigkeit dumpf und schwer über Land und Wasser. Dabei kannten sich die Arwenacks in allen Klimazonen des Erdballs mindestens so gut aus wie ein Bauer aus Cornwall auf seiner heimischen Scholle. Aber dies hier, in den Sümpfen der Südostküste von Florida, war anders als alles, was sie bisher erlebt hatten.
„Himmel, Arsch“, wetterte Edwin Carberry, „am liebsten möchte man sich das eigene Fell abziehen, um es auszuwringen.“
Die Männer konnten ihm nur mit einem müden Nicken beipflichten.
Mächtige Zypressen und Pinien säumten den See, auf dem die „Isabella“ an diesem brütendheißen Spätsommertag des Jahres 1593 vor Anker lag. Ein undurchdringlich scheinendes Schilfdickicht war dem Ufer vorgelagert, von den knorrigen Ästen der Zypressen hing Spanisches Moos als dichter grüner Vorhang.
Seltsame Laute von unbekannten Tieren drangen aus der üppig wuchernden Pflanzenwelt. Da gab es ein ständiges Kreischen und Zetern, Schnattern und Grunzen, Zischen und Pfeifen. Das Sumpfgetier störte sich nicht mehr an den Hammerschlägen und Sägegeräuschen von dem großen Schiff, dessen Art wohl noch niemals in diese Gewässer vorgedrungen war.
Das Leck, das dem Seewolf und seinen Männern einen gelinden Schreck eingejagt hatte, war inzwischen von Ferris Tucker abgedichtet worden. Aber damit waren die Folgen des Sturms noch nicht behoben. Der Schiffszimmermann und eine Gruppe von Helfern waren zur Stunde damit beschäftigt, die im Sturm heruntergekrachte Vormarsrah mit Hilfe des Vordecksspills und von Tauen wieder hochzuhieven. Kleinere Schäden an den Verschanzungen, an den Nagelbänken und an den Balustraden waren mit einfachen Mitteln zu beheben.
Gary Andrews und Paddy Rogers, die im Gefecht um Fort St. Augustine leichte Verletzungen davongetragen hatten, befanden sich dank der Feldscherkunst des Kutschers bereits auf dem besten Weg der Genesung.
Das Schott zur Krankenkammer unter der Back stand weit offen. Dennoch gab es nicht die geringste Luftbewegung, durch die das Atmen erträglicher geworden wäre.
Philip und Hasard, die Söhne des Seewolfs, sprachen nur gedämpft, als fürchteten sie, daß das bedauernswerte Mädchen durch allzu laute Worte nur noch schlimmer von der Krankheit gepackt werden könnte. Tamao, der Junge vom Stamm der Timucua, kauerte neben dem Lager seiner Gefährtin und hielt ihre Hand. Flehentlich war sein Blick auf ihr bleiches, schweißglänzendes Gesicht gerichtet. Sie hatte die Augen geschlossen und atmete tief, doch noch immer nicht regelmäßig.
„Das ist ein gutes Zeichen“, sagte Hasard junior auf spanisch.
„Sie wird sich gesund schlafen“, fügte Philip junior erklärend hinzu.
Die Zwillinge, die neben dem Indianerjungen hockten, wechselten einen Blick. Sie spürten, daß ihre Bemerkung allzu weise klang, denn niemand konnte wirklich genau wissen, wie es um Asiaga stand. Wenn es auch keine Chinarinde an Bord gab, so verfügte der Kutscher dennoch über einige fiebersenkende Mittel, die er dem Mädchen gegeben hatte.
Doch soviel er auch unter der Anleitung von Doc Freemont in Plymouth gelernt haben mochte – diese Krankheit war ihm ebenso unbekannt wie allen anderen Männern an Bord der „Isabella“. Trotzdem war der Kutscher überzeugt, daß es sich nicht um die schwerste Form des gefürchteten Sumpf- oder Wechselfiebers handelte. Ja, er glaubte bereits eine gewisse Besserung im Zustand des Mädchens erkannt zu haben.
Tamao wandte den Kopf und sah die beiden Jungen mit einem matten Lächeln an. Langes, schwarzglänzendes Haar umrahmte sein Gesicht, in dem die schwarzen Augen einen Schimmer von Hoffnung zeigten. Ebenso wie bei Asiaga wiesen Tamaos Rücken und seine Beine schlimme Narben auf. Es war offenkundig, auf welche höllische Weise sein Volk unter der Knechtschaft der Spanier zu leiden hatte.
„Asiaga nicht sterben“, sagte Tamao in seinem gebrochenen Spanisch, „weißer Mann helfen – gut helfen.“
„Sie wird es schaffen“, erwiderte Philip junior mit Bestimmtheit, „auf jeden Fall seid ihr beiden hier an Bord besser aufgehoben als in der verdammten Sumpflandschaft.“
„Wichtig ist, daß sie gesund werden will“, sagte Hasard junior, „der Kutscher hat uns mal erklärt, daß das eine große Rolle spiele. Jemand, der am Leben bleiben will und seine ganze innere Kraft dafür einsetzt, der hat eine bessere Chance als jemand, der sich selbst aufgibt.“
Tamao nickte verstehend. Er wandte sich wieder der Schlafenden zu und strich ihr das Haar aus der schweißnassen Stirn.
Die Zwillinge hatten bereits festgestellt, daß ihr neuer indianischer Freund fast jedes Wort verstand, obwohl sein eigenes Spanisch nicht besonders gut war. Das bewies, wie intelligent er war und daß er imstande sein würde, sehr rasch zu lernen. Doch im Augenblick hatte er andere Sorgen, als an seinen eigenen künftigen Lebensweg zu denken. Die Bindung zwischen ihm und Asiaga war so überwältigend stark, daß sich der Seewolf und seine Männer fragten, ob Tamao überhaupt noch weiterleben konnte, falls seine Gefährtin sterben sollte.
Schweigend setzten die Söhne des Seewolfs jene Arbeit fort, die ihnen der Kutscher aufgetragen hatte: Weiße Leinentücher, die sie in einer Pfütze anfeuchteten, legten sie als Umschläge um Asiagas Fußgelenke, wobei sie die vorherigen, schon fast trocken gewordenen Tücher behutsam entfernten. Immer wieder blickten sie besorgt auf, ob sie das Mädchen durch ihre Tätigkeit nicht etwa aus dem Schlaf rissen.
Asiaga war schlank und dunkelhaarig wie Tamao. Ihre Kleidung bestand lediglich aus einem Fetzen grauen Segeltuchs, das in der Taille von einem aus Pflanzenfasern geflochtenen Gürtel gehalten wurde. Jedem an Bord der „Isabella“ hatte es einen Stich versetzt, die Narben zu sehen, von denen das Mädchen an den Beinen und am Oberkörper gezeichnet war. Die Grausamkeit derer, die selbst vor der Mißhandlung von Frauen und Kindern nicht zurückschreckten, ging über alle Maßen.
Schritte näherten sich mit dumpfem Klang auf den Decksplanken. Der Kutscher und Mac Pellew schoben sich herein, und sofort verhielten sie sich leise, als sie sahen, daß Asiaga schlief.
„Ausgezeichnet“, flüsterte Mac Pellew nach einem Blick in das bleiche, entspannte Gesicht des Mädchens. „Mehr können wir vorläufig nicht verlangen. Deine Behandlung zeigt die ersten Erfolge, alter Freund.“ Er klopfte dem Kutscher sacht auf die Schulter.
Ein erfreuter Schimmer entstand in den großen blauen Augen des dunkelblonden Mannes. Doch er antwortete mit einer abwehrenden Geste.
„Ihr Schicksal liegt nicht in meiner Hand“, sagte er leise, „ich tue nur das, was jeder andere auch tun würde.“
Sie hatten sich angewöhnt, in Tamaos Gegenwart stets nur spanisch zu sprechen. Der Junge sollte Zuversicht gewinnen und Asiaga in ihrem Genesungsprozeß eine wertvolle Stütze sein. Jedes englische Wort, das er nicht verstand, hätte Unsicherheit in ihm aufkeimen lassen. Ganz zwangsläufig wäre bei ihm der Verdacht entstanden, daß man ihm etwas verheimlichte.
Der Kutscher nickte Tamao zu und begab sich zum Fußende des Krankenlagers, um die fiebersenkenden Umschläge zu überprüfen.
Tamao hob den Kopf und sah Mac Pellew an.
„Du besser, Señor?“
Mac lachte lautlos und winkte ab.
„Unkraut vergeht nicht, Junge. Unsereins muß einen harten Schädel haben und auch mal einen kleinen Klopfer vertragen können.“ In der Tat hatte Mac sich bestens erholt, nachdem er während des Sturms unliebsame Bekanntschaft mit dem Kombüsenschott geschlossen hatte.
„Unkraut ver… was bedeutet, Señor?“ Tamao sah Mac Pellew fragend an.
„Unkraut vergeht nicht. Eine Redensart, Tamao. Du weißt, was Unkraut ist? Jeder Ackerbauer kann ein Lied von diesen häßlichen Pflanzen singen, die ihm die Furchen verunzieren.“
„Ich verstehen!“ rief Tamao. „Timucua sind Ackerbauern. Pflanzen Mais, viel Mais.“
„Siehst du“, sagte Mac und nickte, „dann weißt du ja Bescheid. Die miesesten Pflanzen, das Unkraut nämlich, die leben am längsten. Du kannst sie abreißen oder zertreten, und sie richten sich doch immer wieder auf. Und haargenau so ist das auch mit den Menschen.“
Einen Moment runzelte Tamao nachdenklich die Stirn.
„Dann Asiaga – soll auch Unkraut sein“, sagte er schließlich im Brustton der Überzeugung.
Mac Pellew schluckte. Die Zwillinge lächelten, und der Kutscher grinste ihn an.
„Nun sitzt du in der Klemme, was, Mac?“ Der Kutscher wandte sich dem Timucua-Jungen zu. „Paß auf, Tamao, das ist so bei uns: Es gibt Redewendungen und Sprüche, die mehr scherzhaft gemeint sind. Man muß so etwas nicht ernst nehmen, sondern …“
Was der Kombüsenmann und Feldscher der „Isabella“ sonst noch zu sagen gedachte, ging in einem Höllenspektakel unter, der plötzlich an Deck entstand.
Ahnungslos hatte Plymmie in aller Seelenruhe ihren Freßnapf geleert, um sich nun der Nachspeise zu widmen – einer dicken, gekochten Speckschwarte.
Daß Arwenack die ganze Zeit über in der kleinen Jolle gelauert und über das Dollbord gelinst hatte, war der Bordhündin der „Isabella“ entgangen.
Jetzt schwang sich der Schimpanse mit einem gewaltigen Satz aus der Jolle, packte blitzschnell zu und erwischte die Speckschwarte vor Plymmies Reißzähnen, die gerade voller Genuß zufassen wollten. Mit triumphierendem Keckern fegte Arwenack los, über den Steuerbordniedergang zur Back hinauf.
Doch Plymmie überwand ihren Schreck schneller, als es dem Schimpansen lieb sein konnte. Wie von der Tarantel gestochen wirbelte die graue Wolfshündin herum, stimmte ein heiseres Gebell an und jagte hinter dem Speckschwartendieb her.
Aus dem Großmars meldete sich eine weitere Stimme, schrill kreischend und aufgeregt.
„Affenärsche! Rübenschweine! Affenärsche! Rübenschweine!“ Sir John, der karmesinrote Papagei, begleitete die Verfolgungsjagd aus sicherer Höhe mit seinem Geschrei, das er dem Wortschatz des Profos entlehnte.
Die Männer an Deck unterbrachen ihre Arbeit und verfolgten grinsend das Schauspiel, das ihnen das bordeigene Viehzeug lieferte.
In wilder Hast tanzte Arwenack über die Planken der Back, dabei steigerte sich sein siegesgewisses Keckern zu einem fast menschlich klingenden Kichern. Elegant schwang er sich um das Ofenrohr der Kombüse herum, doch sonst sah seine Art der Fortbewegung auf zwei Beinen eher unbeholfen aus. Zweifellos hatte er seine eigene Schnelligkeit überschätzt.
Eben dies wurde dem Schimpansen bewußt, als Plymmie mit einem federnden Sprung die Planken der Back erreichte. Ihr Gebell wich einem zornigen Knurren, ihre Reißzähne blitzten, und ihre Schnelligkeit ließ den Vorsprung des Speckschwartendiebes rasend schnell zusammenschmelzen.
In jähem Entsetzen rettete sich Arwenack auf die Balustrade an Steuerbord. Wie schmerzhaft es war, wenn sich Plymmie für seinen Schabernack mit einem Biß in seinen Allerwertesten revanchierte, hatte er bereits zur Genüge erfahren müssen. Indem er sein mächtiges Gebiß entblößte, hielt er die Speckschwarte hoch empor, und es war eine höhnische Geste, die überaus menschlich wirkte.
Plymmie bremste ihren Ansturm nur einen Moment ab. Ihre Nackenhaare sträubten sich, und ihr erneutes wildes Gebell veranlaßte Arwenack, den Rückzug zu den Fockmastwanten anzutreten.
Doch im selben Augenblick kochte Plymmies Zorn bereits über. Ohne erkennbaren Ansatz schnellte sie los, schräg nach oben, und nur haarscharf entging das Fell des Schimpansen ihren zuschnappenden Fangzähnen.
Wie ein grauer Schatten fegte Plymmie ins Leere, über die Balustrade hinaus. Ihr plötzliches erschrockenes Geheul hallte weit über die Wasseroberfläche.
Arwenack, der an einem Arm pendelnd in den Wanten hing, verstummte. Nur Sir John fuhr mit seiner zeternden Schimpfkanonade aus luftiger Höhe fort.
„Hund über Bord!“ brüllte Matt Davies, und die Männer brachen in donnerndes Gelächter aus.
Als sie den klatschenden Aufschlag hörten, waren sie bereits am Steuerbordschanzkleid.
„Mal sehen, wie gut die Lady schwimmen kann!“ rief Ed Carberry dröhnend, und von neuem wollte sich die Crew ausschütten vor Heiterkeit.
Aus der Krankenkammer eilten der Kutscher, Mac Pellew und die Zwillinge herbei. Auch Tamao schloß sich ihnen an. Zweifellos hatte er begriffen, daß Asiaga bestens versorgt war und er sie getrost einen Moment allein lassen konnte. Philip und Hasard enterten ein paar Stufen des Niedergangs zur Back auf, um das Geschehen besser beobachten zu können. Tamao folgte ihnen mit einem federnden Sprung.
„Um Himmels willen!“ rief Philip junior erschrocken. „Die arme Plymmie säuft uns ab!“
„Unsinn“, widersprach sein Bruder, „hast du schon mal einen Hund gesehen, der nicht schwimmen kann? Wir müssen ihr nur über die Jakobsleiter an Bord helfen, das schafft sie nicht allein.“
Mit angstvollem Blick beobachteten die beiden Jungen, wie sich die Wolfshündin im Wasser abstrampelte – etwa zwanzig Yards von der Bordwand der „Isabella“ entfernt. Auf der Kuhl und auf der Back ließen die Männer ihre Scherze vom Stapel. Arwenack enterte gemächlich in den Fockmastwanten auf, und aus beträchtlicher Höhe ließ er die Speckschwarte achtlos fallen.
Ferris Tucker spürte einen klatschenden Schlag im Nacken. Verdutzt kreiselte er herum, sah das fettige Diebesgut hinter sich auf die Planken fallen und begriff. Ferris legte den Kopf in den Nacken und schüttelte die Faust.
„Warte nur, du Mistvieh! Dich befördern wir auch gleich in den Bach. Dann kannst du mit Plymmie um die Wette schwimmen!“
Die Männer johlten. Arwenack verzog sich mit einem ängstlichen Laut in den Fockmars, wo er nun allen Blicken entzogen war.
„Ich hole Plymmie rauf“, sagte Hasard junior entschlossen und wollte sich abwenden.
Im selben Moment packte ihn Tamao an der Schulter und streckte den freien Arm über die Balustrade hinaus.
„Seht, seht!“
Die Zwillinge begriffen nicht sofort. Aber schon eine Sekunde später erkannten sie, was ihr junger indianischer Freund meinte.
Aus dem Schilfdickicht, kaum mehr als einen Steinwurf weit entfernt, glitt etwas heran, das die Wasseroberfläche zunächst nur wie ein Strich zu teilen schien. Dann aber, bei näherem Hinsehen, wurde die schuppige Oberfläche erschreckend deutlich.
„Ein Alligator!“ schrie Philip junior entsetzt.
Die Männer an Deck verstummten.
Bevor auch nur einer von ihnen reagieren konnte, sprang Tamao vom Niedergang auf die Planken der Kuhl, federte auf die Steuerbordverschanzung und schnellte mit einem flachen Hechtsprung außenbords.
Die Zwillinge und auch die Arwenacks hielten den Atem an.
Plymmie, die die Gefahr zu ahnen schien, strampelte sich heftiger im Wasser ab und gelangte doch nur quälend langsam voran.
Zwei, drei Yards von ihr entfernt tauchte Tamao ein.
Teuflisch schnell schmolz die Distanz zu dem gefräßigen Raubtier zusammen. Schon waren die gelben Augen knapp über der Wasseroberfläche zu erkennen.
Tamao mußte unter Wasser gewendet haben, denn jetzt tauchte er haargenau neben Plymmie auf. Die Männer an Bord hörten, wie er ihr in seiner Muttersprache gut zuredete. Und dann ließ die Hündin es gesehenen, daß er den linken Arm um ihren Leib legte und sie mit sich fortzog, indem er in Rückenlage schwamm.
Der Alligator war nur noch zehn Yards entfernt, ebenso groß war auch die Entfernung, die Tamao noch bis zur Bordwand der „Isabella“ zurücklegen mußte. Doch es sah ganz danach aus, als sei das Untier schneller.
„Er schafft es nicht!“ schrie Philip junior verzweifelt. „Will denn keiner etwas tun?“
„Reg dich ab, Junge“, sagte Mac Pellew und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. Mit einer knappen Handbewegung deutete er zur Kuhl.
Big Old Shane und Batuti, die sich eilends und fast unbemerkt abgesondert hatten, stürmten in diesem Moment aus den unteren Decksräumen herbei. Beide Männer waren mit einer schußbereiten Muskete ausgerüstet. Die anderen wichen am Schanzkleid auseinander, und Shane und der riesenhafte Gambianeger hatten Platz zum Anvisieren. Die Läufe ihrer Musketen folgten der Bewegung des Alligators.
Tamaos Vorsprung war bereits auf fünf Yards zusammengeschmolzen.
Fast im selben Sekundenbruchteil zuckten die Feuerblitze aus den beiden Musketenläufen. Das Krachen der Schüsse klang wie ein einziger Donnerschlag. Pulverrauch breitete sich aus und waberte als träge Wolke in der Luftfeuchtigkeit hoch.
Beide Kugeln mußten getroffen haben. Die Riesenechse krümmte sich, und ihr mächtiger Schuppenschwanz peitschte das Wasser. Blut breitete sich aus, das riesige Maul des Alligators mit den furchteinflößenden Zähnen öffnete und schloß sich krampfartig in harten Schlägen. Der Leib der Echse zuckte und wand sich, die helle Unterseite wurde sichtbar, aber dennoch schien der Todeskampf nicht enden zu wollen.
Doch Tamao und sein vierbeiniger Schützling waren den mörderischen Zähnen entgangen. Luke Morgan war bereits abgeentert und nahm die triefendnasse Plymmie am Fuß der Jakobsleiter entgegen. Mit katzenhafter Gewandtheit folgte ihm der Indianerjunge. Dann, als er die Kuhl erreichte, senkte er verlegen den Kopf, denn die Männer empfingen ihn mit begeistertem Beifallsgebrüll.
Plymmie schüttelte sich, daß die Tropfen flogen. Mit einem freudigen Schwanzwedeln begrüßte sie die Zwillinge, die freudestrahlend auf Tamao zuliefen. Dem jungen Timucua fehlte es an spanischen Worten, um den Dank abzuwehren, mit dem die Söhne des Seewolfs ihn überhäuften. Und auch von den Männern der Crew erntete er reihenweise Schulterklopfen, ehe er zu Asiaga in die Krankenkammer zurückkehren konnte.
Außenbords war es mittlerweile ruhig geworden. Der Alligator trieb reglos unter der Wasseroberfläche, die helle Bauchseite nach oben gekehrt.
Kurze Zeit nach dem Zwischenfall begab sich der Seewolf in die Krankenkammer.
„Das war großartig“, sagte Hasard auf spanisch. „Du hast unseren Bordhund gerettet, Tamao. Dafür danke ich dir. Plymmie ist als Crewmitglied nämlich nicht zu verachten. Sie hat schon manches Mal eine Gefahr gewittert und Alarm geschlagen, bevor wir auch nur etwas ahnten.“
Am Gesichtsausdruck des jungen Timucua war zu erkennen, daß er jedes Wort verstand. Er wandte sich von Asiaga ab, die noch immer tief und fest schlief.
„Plymmie ist guter Hund“, sagte Tamao, offensichtlich froh, daß das Thema von der eigentlichen Sache, seiner vielgelobten Tat, abgelenkt wurde.
„Ich muß ein wenig mit dir reden“, sagte Hasard und zog sich einen Schemel heran. „Ich möchte gern mehr über deinen Stamm erfahren, Tamao. Bist du sicher, daß die Timucua wirklich aus ihrer Knechtschaft befreit werden wollen?“
Die Söhne des Seewolfs hörten aufmerksam zu, als Tamao antwortete. Das, worüber er berichtete, war eine fremde Welt, von der die beiden Jungen noch niemals etwas gehört oder gesehen hatten.
„Ganz sicher“, erwiderte Tamao mit bekräftigendem Nicken, „mein Volk auf Rettung hoffen. Wollen alles tun, wenn nur gerettet werden. Große Dankbarkeit bei Timucua, wenn Rettung kommt. Spanier sind schlimm, aber Moskitos noch schlimmer. Bringen Krankheit und Tod über Volk der Timucua.“
Hasard horchte auf.
„Dann wollen deine Leute vor allem wegen des Fiebers fort?“
„Si, Señor. Krankheit tötet. Spanier quälen nur, töten aber nicht, weil brauchen Timucua für Arbeit. Asiaga und Tamao geflohen vor Fieber, aber Schicksal war gegen Asiaga.“
„Und deine Stammesbrüder und -schwestern?“ fragte Hasard. „Waren sie mit eurer Flucht einverstanden?“
„Si, si, Señor. Timucua warten auf Asiaga und Tamao, daß mit Hilfe zurückkehren. Timucua wollen erlöst sein von schwerer Krankheit.“
Einen Moment sah der Seewolf den Jungen nachdenklich an. Diese Menschen, von denen er berichtete, litten also nicht allein unter der tyrannischen Herrschaft der Spanier. Nein, es war vielmehr die feindliche Umwelt, die sie zur Hoffnungslosigkeit verdammte. Denn aus eigener Kraft waren sie zweifellos nicht imstande, sich nach einem besseren Lebensraum umzusehen.
Die Indianerstämme in der Neuen Welt waren samt und sonders keine Seefahrer. Das traf ohne Frage auch auf die Timucua zu. Der Seeweg schied für sie aus. Das tückische Fieber hatte die meisten von ihnen schon derart geschwächt, daß es ihnen nicht mehr gelingen würde, die lebensbedrohende Umgebung auf einem langen Marsch zu Lande zu verlassen. Ohnedies wäre ihnen letzteres von den Spaniern wohl kaum erlaubt worden.
Es war ein Teufelskreis, der sich um das Volk der Timucua geschlossen hatte.
„Tamao, ich will dir erklären, warum meine Männer und ich hier sind“, sagte Hasard. „Wir selbst haben unsere Heimat verlassen, weil wir dort nicht mehr leben mochten. Aber uns fiel das leicht, denn wir sind Seefahrer. Wir konnten uns überall auf der Welt umsehen, bis wir einen geeigneten Platz fanden.“
„Heimat“, sagte Tamao, „was ist das?“
„Das Land oder der Ort, wo man zu Hause ist. Einen Menschen zieht es immer dorthin zurück. Manchmal allerdings findet man eine neue Heimat, ein besseres Zuhause.“
Ein Leuchten glitt über das Gesicht des Jungen.
„Ihr habt besseres Heimat gefunden, Señor?“
„So ist es, Tamao, eine Insel in der Karibik, wir nennen sie die Schlangeninsel. Die Insel gehört unseren Freunden und uns allein. Wir haben unser Leben in Freiheit dort so eingerichtet, wie wir es für richtig halten. Niemand wird unterdrückt oder gar geknechtet, jeder wird gefragt, wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen. Aber wir sind noch nicht fertig damit, uns endgültig auf der Insel einzurichten. Damit wir unabhängig leben können, müssen wir uns auch selbst versorgen. Dazu wollen wir eine Nachbarinsel als Versorgungsinsel einrichten. Plantagen und Felder sollen dort entstehen. Aber wir brauchen Menschen, die diese Felder bestellen. Wir suchen Männer und Frauen, Familien, die uns, begleiten möchten.“
Tränen standen plötzlich in Tamaos Augen.
„Muß sein ein Paradies“, flüsterte er ergriffen, „unser Volk träumt davon. Asiaga und ich gehofft haben, es zu finden. Und jetzt – Traum in Erfüllung.“ Seine Stimme erstickte fast.
Hasard legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Sag mir, wo wir deinen Stamm finden.“
Tamao sah ihn strahlend an. Seine Ergriffenheit wich der Begeisterung.
„Platz liegt an der Waccasassa-Bucht. Ist ein Name aus unserer Sprache, aber Spanier nennen Bucht auch so.“
„Und wo ist diese Bucht?“
„Richtung, wo Sonne sinkt. Spanier nennen es Westen.“
Hasard sah den Jungen erstaunt an. In der kurzen Zeit, in der die spanischen Eindringlinge sein Volk beherrschten, hatte er eine Menge gelernt. Aus ihm würde ein Mann werden, der sich durch einen außergewöhnlichen Verstand auszeichnete.
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