Kitabı oku: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 350»
Burt Frederick
Der Hurrikan
Impressum
© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-95439-747-1
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
1.
Die Luft war plötzlich erfüllt von einem seltsamen Zittern.
Es geschah an jenem späten Nachmittag des 18. September Anno 1593, dem in der Chronik des spanischen Stützpunkts Pensacola ganze Kapitel voller Trauer und Bestürzung gewidmet werden sollten. Nur wenige der Menschen in der jungen Ansiedlung erfaßten die Bedeutung der Zeichen, die die Natur ihrem Groll vorausschickte. Denn nur wenige dieser Menschen lebten lange genug in der Neuen Welt, um all das zu kennen, was dieser Teil des Erdballs an Eigenheiten aufwies.
Es war dieses Zittern der Luft, das jeden einzelnen aus seinem gewohnten Tagesverlauf aufschrecken ließ. Von einer Minute zur anderen fiel das Atmen schwer, und ein unerklärlicher Druck legte sich auf die Brust. Dann unvermittelt, setzte ein fernes Geräusch ein, das so klang, als schicke der Teufel seine Stimme aus der Tiefe der Erde herauf.
Niemand vermochte zu sagen, woher dieses Geräusch stammte. Für die einen war es ein ferner Donnerhall, der aber auf rätselhafte Weise von allen Seiten auf sie eindrang. Für die anderen waren es die Vorboten eines Erdbebens, das sich mit urgewaltigem Dröhnen ankündigte.
All jene, die sich im Freien aufhielten, legten den Kopf in den Nacken und schickten ein stummes Stoßgebet zum Himmel, von dem sie hofften, er möge ihnen gnädig gesonnen sein.
Was ihnen von dort oben her aber drohte wußte nur die kleine Schar derer, die schon lange genug ihren Dienst in der neuentdeckten Welt leisteten. Die Natur, so sagte man, sei hier launischer als ein spanisches Edelfräulein. Selbst dann, wenn man glaubte, diese Señorita zu kennen, erschreckte sie ihre Umgebung mit immer neuen, bösen Überraschungen.
In der aus Stein gebauten Kirche „Gracia de la Santa Madre de Dios“ schreckte der Geistliche auf, der mit tief geneigtem Kopf vor dem Altar kniete. Schritte von harten Stiefelsohlen polterten herein und hallten in entwürdigender Lautstärke durch das Kirchenschiff.
„Padre!“ brüllte eine rauhe Männerstimme. „Verdammt noch mal, sind Sie nicht bei Trost?“
Der Geistliche zuckte zusammen. Entsetzen und Zorn packten ihn im selben Atemzug. Er vergaß die inbrünstige Zwiesprache, die er geführt hatte. Voller Grimm richtete er sich auf und wandte sich um. Drei Soldaten waren es, die in lästerlicher Weise durch das Gotteshaus auf ihn zustürmten.
„Was ist in euch gefahren!“ rief er donnernd. „Nicht allein, daß ihr die Ruhe dieses heiligen Ortes stört! Nein, auch noch mit einem Fluch auf den Lippen wagt ihr es …“
Sie marschierten geradewegs auf ihn zu, ein Sargento und zwei Soldaten.
„Seien Sie still!“ herrschte ihn der Sargento barsch und respektlos an. „Was fällt Ihnen ein, hier tatenlos herumzuhocken! Menschenleben stehen auf dem Spiel, vielleicht Hunderte. Und Sie haben nichts Besseres zu tun, als vor Ihrem Altar zu knien? In den Turm! Los, los, läuten Sie die Sturmglocke, wenn Sie das noch schaffen!“
Der Padre erbleichte und rang nach Atem. Niemals hatte er in seinem Priesteramt eine solche Unverschämtheit hinnehmen müssen. Doch er fand keine Zeit mehr, diesen Sargento zurechtzuweisen.
Jäh verdunkelte sich das Licht, das durch die bunt verglasten Apsisfenster hereinfiel. Dem Geistlichen war es, als legten sich schlagartig satanische Schatten in die Gesichtszüge der Soldaten, die ihn mit unerbittlichem Nachdruck anstarrten.
Er warf sich herum und hastete mit wehender Soutane zum Turmaufgang, als hetzten ihn Furien. Was ihn vorantrieb, begriff er noch nicht. Warum hatte er den Sargento nicht entschiedener zurechtgewiesen?
Etwas Unerklärliches geschah. Ohne erkennbaren Grund war er von einer plötzlichen tiefen Furcht gepackt. Diese hereinbrechende Finsternis, was hatte sie zu bedeuten? Das Wort „Sturmglocke“ hallte im Kopf des Padre nach.
Erst vor einem halben Jahr hatte er das Mutterland Spanien verlassen, um in den neuen Kolonien Seiner Allerkatholischsten Majestät der Kirche zu dienen. Nur die Menschen waren es, die die alten Traditionen in gewohnter Weise fortsetzten. Die Umgebung jedoch, dieses feuchte und stickig heiße Stück Erde, war fremd und feindselig.
Keuchend und mit hämmernd schlagendem Herzen erreichte der Padre den Glockenstuhl. Er wollte nach dem Seil greifen, das die kleinste der drei Bronzeglocken in Bewegung setzte. Doch es gelang ihm nicht sofort. Die Luft, die durch die offenen Turmfenster hereindrang, traf ihn wie ein Keulenhieb. Dabei war die Bewegung der Luft eher sanft. Aber sie hüllte ihn ein wie eine säuselnde und schleichende Gefahr, wie eine zähe Masse, die sich nicht mehr einatmen ließ und ihn von allen Seiten umklammerte.
Nach Atem ringend wankte er auf eins der Turmfenster zu und stützte sich auf die Brüstung. Und da vernahm er auch dieses tiefe Grollen, das die Erde erzittern ließ. Mit schreckensweiten Augen starrte der Geistliche über die Dächer von Pensacola.
Dort, weit entfernt im Osten, änderten sich die Farben des Himmels in einem furchteinflößenden Wechselspiel. Schwarze Wolken wirbelten vor schweflig gelbem Hintergrund und wurden im nächsten Moment wie von Gigantenfäusten zerrissen. Lichtbahnen jagten durch die Düsternis, die sich nach allen Seiten ausgebreitet hatte.
Dann, plötzlich, erstarrte der Padre vor Entsetzen.
Es begann in den hohen Wipfeln der Zypressen, mehr als zwei Landmeilen östlich der Stadtmauern.
Eine Schneise entstand in jenem Zypressenwald. Es war, als rase eine riesige, doch unsichtbare Pflugschar hindurch, geradlinig im ersten Moment, doch dann in einer wilden und unkontrollierten Kreisbewegung. Innerhalb von Sekunden geschah es. Bäume knickten weg wie Kienspäne, Äste, ja ganze Stämme wirbelten durch die Luft – fortgetragen von einer wütenden Macht, die sie dann irgendwo weit entfernt lustlos wieder fallen ließ.
Das Dröhnen, das eben noch verhalten geklungen hatte, steigerte sich zu einem Donnern. Im selben Atemzug fauchte die erste Bö über den Stützpunkt, sprang über die Mauern und jagte durch die Gassen. Staubfahnen wurden hochgewirbelt. Angstschreie von Menschen wurden laut. Hunde stimmten ein klagendes Geheul an.
Der Padre erwachte aus seiner Erstarrung. Sein Zorn gegen die Soldaten und ihr rüdes Verhalten wechselte in ein Schuldgefühl. Er schlug das Kreuz. O Gott, sie hatten recht gehabt! Was war mit seinem Verstand geschehen, daß er nicht begriffen hatte?
Er stürzte an das Glockenseil, reckte sich hoch und zog mit seinem ganzen Gewicht. Den Blick nach Osten gewandt, sah er, wie sich jene wirbelnde Schneise im Zypressenwald verbreiterte. Splitterndes Holz und Wolken von Laub spritzten nach beiden Seiten weg, wie von einem urgewaltigen Zimmermannshobel getrieben. Und – der Atem des Padre stockte – Tierleiber, blutig und zerfetzt, flogen plötzlich in diesem Chaos durch die Luft.
Endlich erhob die Glocke ihre dünne Stimme. Zitternd und zaghaft klang sie gegen das Donnern und Brüllen der Naturgewalten. Neue Böen stießen in die Gassen von Pensacola, in immer rascherer Folge tobten die Vorboten des Sturms, als kundschafteten sie die Lebensadern dieser Stadt aus, die es zu vernichten galt.
Der Stützpunkt war jetzt wie ausgestorben. Niemand hielt sich mehr im Freien auf. Ein wenig Erleichterung befiel den Padre. Hatte die Glocke sie vielleicht doch noch rechtzeitig gewarnt?
Und niemand in Pensacola mußte das Grauenvolle ansehen, wie es für ihn in der Höhe des Kirchturms offenbar wurde.
Die harte, erbarmungslose Riesenfaust des Sturms fegte auf die Stadtmauern zu. Wolken jagten und tanzten, zerrissen und formten sich neu. Das Licht begann ein wildes Wechselspiel von staubigem Grau bis zur finsteren Schwärze des Grauens. Die Gewalt der Böen packte auch den Geistlichen auf dem Turm. Doch er krampfte seine Hände nur noch fester um das Seil und hielt nicht inne, seinen Glockenklang dem Inferno entgegenzuschicken.
Sekunden später brach es über Pensacola herein. Baumstämme krachten auf die Stadtmauer. Dachschindeln des Wehrganges wurden hochgewirbelt. Das Donnern und Brausen der Naturgewalten erstickte jeden anderen Laut. Alle Armeen dieser Welt, so schien es dem Padre, hätten gemeinsam keinen mächtigeren Kanonendonner anstimmen können.
Sein Entsetzen war verbissener Entschlossenheit gewichen. Die Glocke durfte nicht verstummen. Sie mußte den Menschen Zutrauen geben und den Gedanken in ihnen wachhalten, daß es eine höhere Gerechtigkeit gab. Nein, er würde nicht innehalten, an dem Glockenstrang zu ziehen. Keine noch so teuflische Macht konnte ihn davon abbringen.
Krachende Schläge mischten sich in den Donnerhall, als ganze Dächer wie Teile von Holzspielzeug davongetragen wurden und zerberstend andere Gebäude zum Einsturz brachten. Und wieder war es wie eine Schneise, die gegraben wurde, eine Schneise, die sich fast über die ganze Breite von Pensacola erstreckte. Die aus Stein gemauerten Gebäude jener Art, wie sie in Europa jahrhundertelang Wind und Wetter zu trotzen vermochten, erwiesen sich als nutzlose Bollwerke gegen eine Gewalt, die stärker war als alles, was Menschenhand jemals errichtet hatte.
Es gab kein Dach, das dem Sturm standhielt. Mauern blieben stehen, doch sie spendeten den Menschen keinen Schutz mehr. Schreie gellten durch das Wüten des Sturms.
Mit brennenden Augen sah der Padre, wie die Menschen von herabwirbelnden Trümmern und Dachbalken erschlagen wurden. Menschliche Körper wurden wie Spielzeugpuppen durch die Luft geschleudert und auf Mauerresten oder den zersplitterten Ruinen von Holzhäusern zerschmettert.
Im Hafen von Pensacola kochte und brodelte das Wasser. Boote wurden losgerissen und wie Nußschalen zerbrochen. Die größeren Schiffe zerrten an ihren Festmachern, und es war nur noch eine Frage der Zeit, daß auch sie den entfesselten Gewalten zum Opfer fielen.
Die Schreie der Sterbenden und Verletzten mehrten sich, übertönten den wimmernden Glockenklang und stachen schmerzhaft in das Gehör des Geistlichen. Das Donnern des Sturms ließ nicht nach und wollte kein Ende nehmen. Erst dann, so schien es, würden die finsteren Mächte nachgeben, wenn Pensacola dem Erdboden gleich war. Eine Hoffnung hatten nur jene, die in den wenigen Kellerräumen des Stützpunkts betend ausharrten.
Der Padre spürte nicht, wie ihn die tobenden Böen am Glockenseil hin und her pendeln ließen. Er bemerkte nicht, wie ein Wanken auch den Kirchturm erfaßte.
Plötzlich, unter einem berstenden Schlag, wurden das Dach und die Turmspitze buchstäblich abgerissen. Nur noch ein Atemzug blieb dem Geistlichen, um das Grauenvolle zu erfassen. Dann lösten sich die ersten Steinbrocken aus dem Mauerwerk des Turms. Im nächsten Moment wurde der Glockenstuhl aus seiner Verankerung gerissen.
Bei aller Kraft, die er hatte, vermochte der Sturm doch nicht die drei mächtigen Bronzeglocken davonzutragen. Unter dem Tonnengewicht der Bronzeleiber stürzte der Padre ab und wurde von ihnen auf dem Erdboden neben seiner Kirche erschlagen.
2.
Bis in die Tiefe des Kerkers war es zu hören – das Toben und Brüllen des Sturms, die gellenden Schreie der Sterbenden und Verletzten, das Krachen der einstürzenden Gebäude. Ja, selbst durch das verschachtelte System der Gänge und Treppenschächte drang der Luftzug bis tief unten zu den Zellen vor und ließ die Flammen der Fackeln blaken, die in eisernen Ringen an den Wänden befestigt waren.
„Ein Geschenk des Himmels“, flüsterte Mardengo seinen Männern zu. „Etwas Besseres als diesen Hurrikan können wir uns nicht wünschen.“
Sie starrten ihn entgeistert an. Angsterfüllt kauerten sie im Halbdunkel der Zelle beieinander, instinktiv waren sie zusammengerückt. Es gab ihnen das Gefühl, sich gegenseitig Schutz zu spenden.
Und ihr Anführer redete so unverfroren daher! Sie konnten es nicht fassen. Doch das Grinsen, das die blutrote Narbe vom linken Ohr bis zum Kinn dehnte, bestätigte seine Worte. Er meinte es wirklich so, wie er es sagte. Seine schwarzen Augen glitzerten tückisch, während er sich mit einer heftigen Handbewegung durch das dunkle Kraushaar fuhr.
„Wir können froh sein“, entgegnete einer der Männer gepreßt, „wenn wir nicht verschüttet und lebendig begraben werden.“
Mardengo verzog verächtlich das Gesicht.
„Habt ihr die Hosen voll, ihr Feiglinge? Ihr tut so, als hättet ihr noch nie einen Hurrikan erlebt.“
„Mehr als genug“, entgegnete der andere. „Und wir haben Kerle sterben sehen, die Tod und Teufel nicht fürchteten.“
„Aber da gab es auch keinen sicheren Keller, in den ihr euch verkriechen konntet. Also reißt euch gefälligst zusammen und …“ Er verstummte. Schritte und gedämpfte Stimmen näherten sich. Mardengo senkte seine Stimme abermals zum Flüsterton, als er weitersprach. „Haltet jetzt das Maul. Laßt mich die Sache erledigen. Vielleicht ist das schon unsere Chance.“ Er deutete zum Vorraum, der sich vor den Gittertüren der Zellen entlangzog und von Fackeln erhellt war.
Langsam richtete sich der Anführer der Piraten auf und trat an das schmiedeeiserne Gitter.
Noch immer waren das Toben der Naturgewalten und die markerschütternden Schreie zu hören. Der Hurrikan würde noch geraume Zeit andauern, ehe er abflaute und über dem Feld seiner Verwüstungen Stille einkehren ließ.
Ein Zischlaut ertönte aus der Nachbarzelle zur Linken. Okachobee, Mardengos Mutter, war dort mit dem Rest der Horde eingesperrt.
Die Schritte näherten sich rasch und waren bereits im letzten Treppengang vor den Kerkerzellen.
„Was ist?“ rief Mardengo halblaut.
„Wirst du es versuchen?“ erwiderte Oka Mama. Alle nannten die Mutter des Piratenführers so, da sie ihren richtigen Namen kaum aussprechen konnten.
„Und ob“, antwortete Mardengo voller Vorfreude. „Wenn es jetzt nicht klappt, klappt es nie.“ Er grinste in die Richtung, in der er seine Mutter wußte, obwohl er sie nicht sehen konnte.
„Dann ist es gut“, sagte Oka Mama leise, „vielleicht kann ich dir ein bißchen helfen.“
Mardengo schwieg, denn die Schritte erreichten den Vorraum.
„… sind wir nur noch hier unten sicher“, war eine Männerstimme in spanischer Sprache zu vernehmen.
„Auf die Gesellschaft dieser verdammten Galgenstricke würde ich gern verzichten“, sagte eine zweite Stimme. „Aber es ist wohl das kleinere Übel, das wir in Kauf nehmen müssen.“
Mardengo war versucht, eine Verwünschung hinauszubrüllen. Aber er bezwang sich. Eine vorzeitige Auseinandersetzung mußte er vermeiden.
Ihre Brustpanzer schoben sich schimmernd ins Fackellicht. Sie trugen noch ihre Helme, vermutlich hatten sie sich damit in den oberen Stockwerken gegen Steinschlag geschützt. Normalerweise konnten sie innerhalb der Diensträume auf den unbequemen Eisenhut verzichten.
Zufrieden registrierte Mardengo, daß es sich lediglich um zwei Soldaten handelte. Beide waren mit Pistolen und Säbeln bewaffnet. Er konnte nur hoffen, daß sein Vorhaben gelang, ehe weitere von ihnen auftauchten.
„Hola, Señores“, sagte er mit falscher Freundlichkeit, „was treibt euch in diese niederen Regionen?“ Er wußte, daß sie sich normalerweise in ihrem Wachraum aufhielten, der sich unmittelbar oberhalb des ersten Treppenaufgangs befand.
Die beiden Spanier blieben stehen und wandten sich ihm mit mißbilligenden Blicken zu. Der eine war noch sehr jung, ein Milchgesicht mit dünnem Bartflaum auf der Oberlippe. Der andere trug einen Spitzbart, mit dem er offenbar die geschniegelte Eleganz der Offiziere nachzuahmen versuchte.
„Rede nicht so scheinheilig“, sagte der Spitzbärtige, „du Hundesohn weißt ganz genau, was los ist. Die Hölle mit allen tausend Teufeln nämlich.“
„Das ist leider nicht zu überhören“, sagte Mardengo, mit einem tiefen Seufzer. „Aber glaubt nur nicht, daß ihr hier unten besser aufgehoben seid.“ Er verzog das Gesicht zu einem zerknirschten Ausdruck des Zweifels.
„Was soll das heißen?“ knurrte der ältere Soldat.
Mardengo deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Seine Kumpane waren nur schattenhaft zu erkennen, wie sie im Halbdunkel nahe beieinander kauerten.
„Denen ist das Herz samt und sonders bereits in die Hose gerutscht. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich zusammenreißen, aber sie haben kein rechtes Vertrauen zu der Baukunst von euch Spaniern. Seit ihnen der Mörtel und ein paar Steinchen auf die Köpfe gefallen sind, jammern sie mir vor, daß wir alle verschüttet würden.“
Die beiden Soldaten wechselten einen betroffenen Blick.
„Das gleiche wie oben im Wachraum“, flüsterte der jüngere erschrocken. „Wenn das hier unten auch schon anfängt …“ Er sprach seine Befürchtung nicht aus.
„Wo war das?“ fragte der Spitzbärtige entschlossen. Er nahm eine Fackel aus der Halterung und ging auf die Gittertür von Mardengos Zelle zu.
„Ungefähr in der Mitte“, erwiderte der Piratenführer. „Wenn du die Fackel ein Stück hereinhältst, müßtest du die Stelle sehen.“
Innerlich frohlockte er, als der Soldat tatsächlich an die Gittertür trat und die Fackel durch die Stäbe steckte.
Im selben Moment ertönte Oka Mamas Stimme, mit unechter Besorgnis und einem gekonnt gespielten Zittern.
„Hier drüben bei uns ist das genauso, Señor. Sehen Sie sich nur einmal an, was für ein Loch in der Decke entstanden ist.“
Für Mardengo genügte der kurze Moment, in dem der Soldat den Kopf irritiert zur Seite wandte.
Wie eine angreifende Schlange zuckte die Linke des kraushaarigen Kreolen blitzschnell durch die Gitterstäbe. Er erwischte den Soldaten in der Hüftgegend, packte zu und zog ihn mit einem kraftvollen Ruck zu sich heran.
Der Soldat stieß einen erschrockenen Laut aus, hatte aber keine Chance, rasch genug zu reagieren. Mit dem Kopf krachte er gegen das Eisengitter. Benommenheit überfiel ihn, die Fackel entglitt seiner Hand.
Mardengo kümmerte sich nicht um den brennenden Schmerz, als die Flamme im Fallen seinen rechten Oberarm streifte.
Bevor sich der jüngere Soldat von seiner Überraschung erholte, hatte Mardengo dem Spitzbärtigen die Pistole aus dem Gurt gezogen und den Hahn gespannt.
Mit schreckensweiten Augen stierte der junge Spanier in die Mündung der Waffe, die ihm groß und schwarz erschien. Er überwand seine Panik und griff zur eigenen Waffe. Doch zu spät.
Im selben Moment krümmte sich der Zeigefinger des Kreolen. Der Flint schlug auf den Reibstahl, das Zündkraut puffte und ließ eine kleine graue Wolke aufsteigen.
Der jüngere Soldat schaffte es noch, seine Pistole hochzureißen.
Ein grellroter Blitz raste auf ihn zu, und ein dumpfer Schlag traf seine Brust. Das Krachen des Schusses hörte er schon nicht mehr. Sein Lebensfaden war abgeschnitten, noch bevor er in sich zusammensank und auf die feuchten Quadersteine schlug.
Der ältere Soldat versuchte verzweifelt, sich aus dem eisenharten Griff zu befreien. Doch schon waren Mardengos Kumpane zur Stelle. Zwei von ihnen packten zu. Die anderen verharrten lauernd und sprungbereit.
„Haltet ihn fest!“ brüllte der Kreole. Mit einem Ruck zog er den Säbel des Spaniers aus der Scheide.
Nur einen Schritt wich er zurück. Dann stieß er gnadenlos zu.
Der Soldat starb, ohne noch einen Laut von sich zu geben.
Eilends durchwühlte Mardengo die Hosentaschen des Toten, den seine Männer noch aufrecht hielten. Triumphierend hob er den Schlüsselbund hoch. Er hatte sich nicht getäuscht. Natürlich war es der Dienstältere, der die Zellenschlüssel bei sich trug.
„Weg mit ihm“, befahl Mardengo mit einer Handbewegung, mit der man unter anderen Umständen ein lästiges Insekt zu verscheuchen pflegt.
Die beiden Piraten ließen los. Der Tote stürzte der Länge nach auf den Steinboden.
Mit fliegenden Fingern begann der Kreole, die Schlüssel durchzuprobieren. Beim vierten Versuch hatte er Glück. Knirschend bewegte sich der Riegel des Schlosses, und die Zellentür schwang auf.
Die Männer stimmten ein triumphierendes Gebrüll an.
Mardengo wirbelte herum.
„Ruhe!“ fauchte er. „Wollt ihr den ganzen Bau alarmieren?“
Sie verstummten sofort, bissen sich auf die Lippen und beobachteten ihren Anführer, der aufmerksam horchte.
Aber immer noch war da nur das Tosen des Hurrikans zu hören. Die Schreie der Sterbenden und Verletzten waren weniger geworden. Ein Zeichen, daß sich die Anzahl der Überlebenden verringert hatte? Die Piraten kümmerte es nicht. Ihr Interesse galt ausschließlich ihrem eigenen Schicksal, um das es zur Zeit recht günstig zu stehen schien.
Aus dem Gebäude selbst waren keine Geräusche zu vernehmen.
Mardengo wandte sich nach links und schloß die Tür der Nebenzelle auf. Wortlos umarmte Oka Mama ihren Sohn. Die übrigen Männer liefen in den Vorraum und klopften ihren Gefährten auf die Schultern. Insgesamt fünfzehn waren es, die gemeinsam mit Mardengo und seiner Mutter in Gefangenschaft geraten waren.
Der Kreole schob seine Mutter von sich. Okachobee war eine hagere und knochige Frau. Ihr Adlergesicht bestätigte, daß sie eine reinblütige Indianerin vom Stamm der Seminolen war. Das farbenprächtige europäische Frauenkleid mit glitzernder Seidenstickerei stammte von einem der Beutezüge ihres Sohnes. Auch trug sie noch den breitkrempigen Hut aus Flechtwerk, unter dem ihre Zöpfe hervorbaumelten.
„Wir müssen uns beeilen“, sagte Mardengo, „wer weiß, was uns in diesem verdammten Bau noch alles erwartet.“
Er warf die abgefeuerte Pistole einem seiner Männer zu und befahl ihm, sie nachzuladen und sich mit Pulverflasche, Zündkrautfläschchen und Kugelbeutel auszurüsten. Zwei weiteren Kumpanen gab er Order, die Säbel der toten Soldaten an sich zu nehmen. Er selbst versorgte sich mit der Pistole und der Munition des jüngeren Soldaten.
Oka Mama hatte sich unterdessen bereits in die Nähe des Treppenaufgangs begeben und nach oben gelauscht. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr listiges Adlergesicht.
„Die Luft ist rein!“ rief sie ihrem Sohn zu. „Abgesehen von dem bißchen Wind scheint sich da oben nichts abzuspielen.“
Mardengo antwortete mit einem heiseren Lachen. Das war seine Mutter, wie er sie kannte und schätzte. Sie war es auch, die die wilde Meute auf Pirates Cove in seiner Abwesenheit stets unter Kontrolle gehalten hatte. An ihrer Autorität wagte keiner der Kerle zu zweifeln.
Bei dem Gedanken an seinen alten Schlupfwinkel Pirates Cove fühlte Mardengo erneut die Flamme des Hasses in sich aufsteigen. Alle Verluste und die schlimmsten Niederlagen seines Lebens verdankte er diesem schwarzhaarigen Bastard von Engländer, den die Spanier den Seewolf nannten. Geradezu respektvoll klang es, wie die Dons von diesem Burschen sprachen. Er, Mardengo, konnte darüber nur lachen. Auch der angeblich so gefährliche Seewolf war nicht unbesiegbar.
Es war ein erhabenes Gefühl, das Mardengo in diesem Augenblick der Befreiung erfüllte, der Beginn des Triumphes. Er war auf dem besten Weg, seine Rache zu verwirklichen. Dieser Hundesohn von einem Engländer hatte ihm alles genommen. Wenn er gemeinsam mit Oka Mama und den anderen den Spaniern in die Hände gefallen war, dann verdankte er das letztlich dem Seewolf.
Gato war im Kampf gefallen – sein engster Vertrauter und sein einziger wirklicher Freund. Allein diese Tatsache hätte dem Kreolen genügt, um blutige Rache zu üben. Aber dieser verfluchte Britenbastard hatte es schon von Anfang an darauf angelegt, ihm Schaden zuzufügen. Beim Kampf um Fort St. Augustine hatte der Engländer kurzerhand mitgemischt, sich quasi ins gemachte Nest gesetzt und den Goldschatz erbeutet, den die Spanier für die Verschiffung nach Europa gehortet hatten.
Dann, im Schlupfwinkel von Pirates Cove, hatte dieser Hurensohn allem die Krone aufgesetzt, indem er auch noch Mardengos eigenen Schatz an sich gerissen hatte. Alle diese Reichtümer befanden sich jetzt im Bauch der Galeone, die sie „Isabella“ nannten.
Nun, dabei sollte es nicht mehr lange bleiben. Zusätzliche Freude befiel den Kreolen bei dem Gedanken, daß er sich nicht nur die Goldschätze zurückholen würde. Nein, auch die „Isabella“ würde sein eigen werden. Ein solches Schiff war genau das Richtige für ihn, dem Rang angemessen, den er in Florida und im Golf von Mexico hatte.
Mardengo riß sich aus seinen Überlegungen los. Es wurde Zeit, daß sie diesen gastlichen Ort namens Pensacola verließen. Den Spaniern war zu wünschen, daß der Hurrikan ihre Ansiedlung vom Erdboden tilgte. Das verdienten sie wahrhaftig, diese blasierten Señores aus Europa, die so täten, als hätten sie alle Herrschaftsansprüche in diesem Land für sich gepachtet.
Er gab seinen Männern das Zeichen. Den Schlüsselbund, den er dem Soldaten abgenommen hatte, versenkte er in seine Hosentasche.
„Bewegt euch so leise wie möglich“, sagte er warnend, „werdet nicht übermütig, weil draußen der Sturm tobt. Vergeßt nicht, daß wir uns im Hauptquartier des Stützpunkts befinden. An jeder Ecke kann uns einer von den Dons über den Weg laufen.“
Die rauhen Burschen grinsten und nickten. Einer fuhr sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor der Kehle entlang, womit er ohne Worte ausdrückte, welche Behandlung er einem plötzlich auftauchenden Spanier zudachte.
Mardengo setzte sich an die Spitze seiner Gefährten und bedeutete Oka Mama mit einem Wink, unmittelbar hinter ihm zu bleiben.
Vorsichtig, doch zügig, stiegen sie die Steinstufen der Treppe hoch, die in den Wachraum hinaufführte. Dort fanden sie vier Musketen und vier weitere Pistolen in einer Wandhalterung. Auch die erforderliche Munition entdeckten die Piraten in einer Truhe. Mardengo brummte zufrieden, während seine Männer die Waffen klarierten. Sie waren jetzt schon erheblich besser ausgerüstet und konnten auch einer ernsteren Auseinandersetzung gelassen entgegensehen.
Die Steintreppe schraubte sich in engen Windungen aus dem Wachraum nach oben. Mardengo wußte, daß dies ein unmittelbarer Zugang zum Erdgeschoß des Hauptgebäudes war.
Natürlich hatte man beim Bau des Hauptquartiers wohlweislich daran gedacht, den Kerker von den übrigen Kellerräumen abzugrenzen. Eine direkte Verbindung zwischen Kerker und Keller gab es nicht, denn das hätte zusätzliche Fluchtmöglichkeiten bei etwaigen Ausbruchsversuchen geboten.
In unserem Fall bedeutet das zusätzliche Sicherheit, dachte Mardengo amüsiert, und er war sicher, daß wohl keiner der Baumeister an eine solche Möglichkeit gedacht hatte.
Je höher sie auf den Treppenstufen vordrangen, desto mehr verstärkte sich das Toben und Brüllen des Hurrikans. Für den wildverwegenen Haufen des Kreolen war es nichts Ungewöhnliches, obwohl sie die Gefahren einer solchen Naturkatastrophe keineswegs unterschätzten. Aber sie waren mit den Eigenheiten der Natur in diesem Teil der Erde besser vertraut als jeder Eindringling aus dem fernen Europa.
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