Kitabı oku: «Das Buch der Bücher», sayfa 4

Yazı tipi:

„Was hast du dir denn da für einen netten kleinen Liebhaber ausgesucht. Du bist doch viel zu schade für den.“ Er grinste.

„Das ist mein kleiner Bruder. Und jetzt lass uns gefälligst in Ruhe!“, herrschte ihn meine Nachbarin an.

Der Polizist hob beide Arme hoch und ich erwartete, dass er zupacken oder gar zuschlagen würde.

„Schon gut, schon gut“, sagte er, „man wird doch noch einen Scherz machen dürfen.“ Er und sein Begleiter lachten laut und ließen sich mit Schwung in die Sitze direkt vor uns fallen.

Das Mädchen nickte mir zu, erkennbar zufrieden mit sich. Offenbar bemerkte sie jetzt erst, wie sehr ich in Panik geraten war. Ich fühlte, wie mir die Schweißperlen über das Gesicht liefen. Mit einem Kopfschütteln bedeutete sie mir, dass das alles ganz harmlos gewesen war. Ja, sie lächelte mich sogar an. Wenn ich an diese Szene zurückdenke, ist sie mir heute noch peinlich. Aber ich war ja noch nicht einmal sechzehn und kam aus einer anderen Welt.

Erst als unser Bus ungefähr zwei Stunden später endlich Teheran erreichte, verblasste der Schrecken, der mir die ganze Zeit noch in den Knochen gesteckt hatte. Auf einmal gab es so viel zu sehen. Diese Stadt, durch deren Verkehrsgewühl sich unser Bus langsam seinen Weg bahnte, kam mir noch viel riesiger und moderner vor als Maschhad, das mich auch schon beeindruckt hatte. Es dauerte unglaublich lange, bis wir die schier endlosen Vororte aus eintönigen Wohnblocks aus grauem Beton hinter uns gelassen hatten. Danach aber staunte ich nur noch über die mit bunten Lichterketten geschmückten Fassaden, die hell angestrahlten Monumente, die gläsern schimmernden Hochhaustürme, die farbenfrohen Auslagen der Geschäfte, die zahllosen Restaurants, die alle voll besetzt zu sein schienen, und die vielen gut gekleideten Menschen, oft ganze Familien mit Kindern, die hier um diese späte Zeit noch unterwegs waren und sich offenbar keinerlei Sorgen machten, dass eine Autobombe hochgehen oder ein Terrorkommando beginnen könnte, wahllos in die Menge zu schießen.

Mir schwirrte der Kopf, als wir in den riesigen Busbahnhof einfuhren. Das Mädchen neben mir stand schon auf, als der Bus noch am Einparken war. Sie winkte mir, ihr zu folgen. Ach ja, ich war ja ihr kleiner Bruder. Sofort, als der Bus stand, erhoben sich auch die beiden Polizisten vor uns. Sie starrten das Mädchen an, aber sie warteten höflich ab, bis wir an ihnen vorbei waren. Mich haben sie überhaupt nicht beachtet.

Vor dem Bus herrschte ein chaotisches Gewimmel. Das Mädchen packte mich einfach an der Hand und zog mich durch die Mauer der Männer, die uns ihre Taxis anpriesen. „Pass auf dich auf. Man merkt, dass du nicht von hier bist. Und auch nicht aus Gonabad“, sagte sie noch, dann war sie auf einmal verschwunden.

Ich folgte einfach dem Menschenstrom hinaus aus dem Busbahnhof. Davor werde der Mann von Kadér auf mich warten, hatte Shahin gesagt. Es war mir ein Rätsel, wie der mich in diesem Gewimmel jemals ausfindig machen sollte. Ich stellte mich einfach neben dem Ausgang auf, am Rande der ununterbrochen vorbeiflutenden Menge, sah mich um und wartete. Nach wenigen Minuten kam ein schlanker junger Mann in Jeans und mit schwarzer Lederjacke über dem weißen Hemd auf mich zu. „Kadér?“, fragte er. Als ich nickte, schob er die Sonnenbrille, die er selbst jetzt in der Dunkelheit trug, in sein kurzgeschorenes Haar hinauf und lotste mich ein Stück weit vom Busbahnhof fort. Dort seien die Taxis billiger.

Bald waren wir aus dem Stadtzentrum mit seinen hell erleuchteten, breiten Straßen heraus, fuhren durch enge, verwinkelte Gassen und hielten schließlich in einer basarartigen Straße vor einer Zeile zur Straße hin offener Läden. Zwischen einem Gemüsegeschäft und einer Schneiderei führte ein Eingang ins Dunkel. Das schwach beleuchtete Schild darüber zeigte an, dass die Treppe zu einer Pension hinaufführte. Der junge Mann lief mir voraus und schlug mit der Faust an die Tür. Der Mann, der uns öffnete, trug einen schmuddeligen Kittel und machte auch sonst nicht gerade einen vertrauenerweckenden Eindruck. Schon beim Eintreten schlug mir der Geruch von kaltem Zigarettenrauch und abgestandenem Essen entgegen. Der Mann, offenbar der Wirt dieser finsteren Herberge, führte mich in einen Raum, in dem bereits drei junge Männer auf dem Boden um eine große Schüssel mit undefinierbarem Inhalt herumsaßen. Der eine, klein und von gedrungener Gestalt, der mir am nächsten saß, sprang sofort auf. Im ersten Moment erschrak ich, als ich seine rötlichen Haare und den stechenden Blick seiner grünen Augen sah.

„Salaam, Bruder“, sagte er freundlich, „kommst gerade recht. Wie du siehst, ist das Festmahl bereits serviert. Übrigens, ich bin Faizal aus Miramshah in Waziristan.“ Dass er aus dieser wilden Grenzregion Pakistans kam, hatte ich schon an seinem verwegenen Aussehen erkannt. Es erklärte auch den fremdartigen Akzent seines Paschtu. Er stellte mir auch gleich die beiden anderen vor.

„Belal aus Kabul.“ Der hockte mir direkt gegenüber. Ein rundlicher Typ mit blitzenden Augen, der schon auf den ersten Blick einen sehr munteren Eindruck machte. Er nickte mir zu und statt „Salaam“ sagte er nur „Festmahl ist gut – für diesen Fraß.“ Dabei zeigte er auf die noch ziemlich volle Schüssel vor sich.

„Und Malik kommt aus Jalalabad.“ Bei diesem Ortsnamen zuckte ich kurz zusammen. Aber als sich dieser Malik zu mir umdrehte, entspannte ich mich sofort wieder. Ich war sicher, ich hatte ihn noch nie gesehen. Den hohen Wangenknochen und den schmalen Augen nach zu urteilen war er ein Hazara. Er war hager und wohl ungefähr so groß wie ich, schien aber zwei, drei Jahre älter zu sein. „Komm, setz dich zu mir, sagte er. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Melancholisches. Er war mir auf Anhieb der Sympathischste von den Dreien.

„Ich bin Adib aus Kabul“, sagte ich, „aber hier nennt man mich Reza.“ Alle lachten. „Wenn’s danach geht, heiße ich Darian“, meinte Malik. Ihn zumindest hatten Kadérs Leute für die Durchquerung des Iran offenbar auch mit örtlichen Ausweispapieren versorgt. Ich fragte, ob noch mehr kommen würden. Belal meinte, mehr Leute könne man in dieser Pension gar nicht unterbringen, das hier sei nämlich der einzige Raum für Gäste. Deshalb wolle der Wirt uns auch so schnell wie möglich wieder loswerden. „Je schneller der Umsatz, desto höher der Gewinn.“

Die anderen waren anscheinend schon fertig mit Essen. Der Reis in der Schüssel – „das nennt der Pilau“, sagte Belal – sah gräulich aus und war schon halb kalt. Ich aß trotzdem, denn man wusste ja nie, wann man das nächste Mal etwas zu essen bekam. Später erfuhr ich, dass die anderen, die alle schon am Vortag in dieser Pension zusammengefunden hatten und deshalb wussten, was sie am Abend erwartete, sich am Nachmittag in einem kleinen afghanischen Restaurant in der Nähe sattgegessen hatten. Faizal und Belal schienen über Geld zu verfügen, denn sie hatten ihrem neuen Freund Malik sogar das Essen bezahlt. Das hat der mir aber erst am nächsten Tag erzählt, als die beiden nicht in der Nähe waren.

Die Nacht habe ich kaum geschlafen. Der Raum erinnerte mich an das Zimmer, in das man Abdul und mich in Herat eingesperrt hatte, nur dass es hier noch schmutziger und die Matratzen noch durchgelegener waren. Die anderen schnarchten. In meinem Magen grummelte es die ganze Zeit. Die Zahl der Kakerlaken, die man schon bei Licht vereinzelt über Boden und Wände hatte huschen sehen, schien sich im Dunkeln – den leisen Kratz- und Raschelgeräuschen nach – vervielfacht zu haben. Ich verkroch mich so tief wie möglich in meinen Schlafsack, zog den Reißverschluss bis ans Kinn und zog die Kapuze über beide Ohren fest zu.

Kaum hatte der Wirt uns vier in den kleinen Lieferwagen gescheucht, der direkt vor dem Eingang der Pension bereitstand, warf er die Türen hinter uns zu. Wir saßen noch nicht einmal richtig auf dem Boden des ansonsten leeren Laderaums, da fuhren wir auch schon los.

Wieder schien es kreuz und quer durch die Stadt zu gehen, und immer wieder musste der Fahrer scharf bremsen. Da man sich nirgendwo festhalten konnte, blieb uns nichts anderes übrig, als uns jedes Mal schnell aneinander zu klammern, um nicht quer durch den Laderaum zu schlittern. Durchgeschüttelt und mit verkrampften Muskeln waren wir froh, als wir endlich hielten und die Türen geöffnet wurden. Draußen stand wieder der junge Mann mit Lederjacke und Sonnenbrille. Der Busbahnhof aber, vor dem wir standen, sah ganz anders aus, als der am Abend zuvor.

Zeit, uns näher umzusehen, hatten wir aber nicht. Der Lederjackentyp drückte jedem von uns einen Busfahrschein in die Hand und lief los. Wir drängelten uns hinter ihm her durch die Menge. Bevor wir in den Bus nach Täbris einstiegen, schärfte der Mann uns noch ein, uns unauffällig zu verhalten und so zu tun, als wären wir Touristen. Nach der Ankunft in Täbris sollten wir wieder so lange vor dem Busbahnhof warten, bis wir abgeholt würden.

Wie wir feststellten, hatte er für uns jeweils zwei Sitze nebeneinander gebucht. Belal und Faizal hatten Plätze im vorderen Teil des Busses bekommen. Ich freute mich, dass ich weiter hinten mit Malik zusammensaß.

Schnell entdeckten wir Gemeinsamkeiten. Seine Eltern hatten sich genauso wie meine in einem Flüchtlingslager in Pakistan kennengelernt und waren ebenfalls nach dem Sturz der Taliban Ende 2001 nach Afghanistan zurückgekehrt. Seine Mutter war eine Hazara aus Mazar-i-Sharif. Sie war die einzige aus ihrer Familie gewesen, die dem großen Massaker entkommen war, dass die Taliban 1998 unter den Hazara der Stadt angerichtet hatten. Als ich ihm sagte, dass mein Großvater mir von diesem schrecklichen Blutbad erzählt hatte, zeigte er sich gerührt. Die meisten wollten davon ja schon gar nichts mehr wissen, meinte er. Sein Vater stammte aus einer Familie mit Landbesitz in der Nähe von Jalalabad. Als erklärte Gegner der Taliban – einer der Brüder seines Vaters diente auch in der Armee – hatten sie bei deren Machtübernahme in der Provinz Nangarhar ebenfalls nach Pakistan fliehen müssen.

Nachdem die Taliban in letzter Zeit in der Provinz Nangarhar erneut immer stärker geworden waren, hatte Maliks Vater beschlossen, seinen Sohn auf den Weg nach Europa zu schicken. Mit dem Argument, ‚unser Malik soll es einmal besser haben‘, hatte er sich damit gegen den Widerstand seiner Frau und seines in der Armee dienenden Bruders durchgesetzt. Er hatte aber alles getan, seinem Sohn die Flucht so sicher wie möglich zu machen. Bis Maschhad hatte er Maliks Reise selbst organisiert – samt Pass und einem Studentenvisum, für das ein entfernter Verwandter mit Beziehungen zu einer Universität dort gesorgt hatte. Maliks Onkel, der Soldat, hatte die Fahrt über die pakistanische Grenze nach Peschawar arrangiert. Von dort war Malik direkt bis nach Maschhad geflogen. Ab da hatte sein Vater Kadér für Schlepperdienste bis nach Frankreich bezahlt. Wir hatten also auch noch das gleiche Ziel!

Als Malik hörte, was ich bei der Überquerung der Grenze in den Iran durchgemacht hatte, zeigte er sich ehrlich betroffen. Kurz vor unserer Ankunft in Täbris warnte er mich auch noch davor, Faizal allzu sehr zu vertrauen. Der habe ihm erzählt, dass er von Islamabad aus direkt mit dem Flugzeug nach Teheran gekommen sei, scheine eine Menge Geld dabeizuhaben, und als er am Anfang in der Pension etwas aus seinem Rucksack gekramt habe, sei ihm versehentlich ein Pass heruntergefallen. Den habe er zwar hastig wieder versteckt, aber Malik war sicher, es war ein türkischer Pass. „Warum ist er dann nicht gleich in die Türkei oder bis nach Europa geflogen?“, fragte ich. Das wusste mein neuer Freund natürlich auch nicht.

Schon als unser Bus einparkte, fiel mir ein Mann mit der Statur eines Boxchampions auf, der in einiger Entfernung an einen Betonpfeiler gelehnt unsere Ankunft beobachtete. Um diese Zeit, es muss schon gegen Mitternacht gewesen sein, waren im überschaubaren Busbahnhof von Täbris nur wenige Menschen unterwegs. Der Boxer wartete, bis sich die anderen Passagiere zu verlaufen begannen und kam dann breitbeinig direkt auf uns zu.

„Kadér?“, fragte er. Fünf Minuten später saßen wir in seinem alten Peugeot und fuhren in die Nacht hinaus. Während der Fahrt erklärte er uns etwas in einer Sprache, die wie Farsi klang, aber mit Worten durchsetzt war, die ich nicht verstand. Mit dieser typischen Mischung aus Persisch und Kurdisch wurde ich erst später etwas besser vertraut. Immerhin wurde klar, dass wir erst mal in seinem Haus auf dem Land übernachten würden, und es noch nicht ganz sicher war, wann es weitergehen würde.

Nach etwa anderthalb Stunden Fahrt – der letzte Teil in steilen Kurven durch ein zerklüftetes Gebirge, das im fahlen Licht des Dreiviertelmonds richtig gespenstisch aussah – bogen wir auf ein baumbestandenes Grundstück ein und hielten neben einem recht ansehnlichen Steinhaus. Der Boxer führte uns hinter das Haus zu einem Anbau, ließ uns ein und forderte uns auf, es uns bequem zu machen. Beim Hinausgehen rief er uns – diesmal in klarer verständlichem Farsi – noch zu, er werde uns gleich etwas zu essen bringen, wir hätten ja sicher Hunger.

Wir sahen uns an. Wir hatten wohl alle zuerst ein mulmiges Gefühl gehabt, als dieser bullige Mann auf dem Busbahnhof auf uns zugekommen war. Malik hatte ich noch im Bus von Abdul erzählt, den ich in Taybad hatte zurücklassen müssen, und dass der dort jetzt praktisch als Sklave in einer Ziegelei schuften musste. Da gebe es noch Schlimmeres, hatte Malik erklärt. Er habe unterwegs Geschichten von Jungen gehört, die noch ganz anderen Männern in die Hände gefallen seien. Ich wusste, was er meinte.

Wir aber fanden uns in einem großen sauberen Raum wieder, sogar mit einer Waschgelegenheit nebenan, und kurze Zeit später brachte uns ein Junge – schon von der Statur her unverkennbar Sohn des Boxers – eine Schüssel voll duftendem, dampfendheissem Pilau mit großen Fleischstücken drin und eine Riesenkanne grünen Tee.

„Hier bleibe ich“, sagte Belal und strahlte.

Als der Sohn unseres ungewohnt freundlichen Wirts uns am nächsten Morgen das Frühstück brachte, sagte er, wir könnten uns auch draußen hinter dem Haus aufhalten. Dort haben wir dann viele Stunden verbracht, haben uns unter einem der Aprikosenbäume im Gras sitzend unterhalten, Karten gespielt oder gedöst. Am Nachmittag des zweiten Tages überbrachte uns der Boxer die Nachricht, dass es am nächsten Morgen losgehen würde. Wir sollten möglichst viel schlafen, die kommenden zwei bis drei Tage würden sehr anstrengend werden.

Am folgenden Nachmittag saßen wir immer noch unter dem Aprikosenbaum. Es gebe Probleme an der Grenze. Das hätten ihm seine ‚Schlepperfreunde‘ mitgeteilt. Auch am nächsten Tag keine Änderung der Lage. Da laufe eine koordinierte Aktion von Polizei und Grenztruppen. Alle Kontrollposten seien ständig besetzt, und es gebe Patrouillen rauf und runter die ganze Grenze entlang. Der Boxer wurde langsam unruhig.

„Die bezahlen einen für zwei Tage, aber wenn es Probleme gibt, und es wird eine ganze Woche draus, zucken sie die Achseln und erzählen was von Geschäftsrisiko. Und das schieben die natürlich demjenigen zu, der sich am wenigsten wehren kann.“ Aber selbst wenn man wolle, komme man aus diesem Geschäft nicht mehr raus, erklärte er uns.

„Hauptsache, wir kriegen weiter unser Essen“, sagte Faizal mit einem Grinsen, als unser Gastgeber fort war.

Am frühen Morgen des fünften Tages wurden wir noch vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf gerüttelt. „Es geht los!“

Neben dem Haupthaus stand ein Kleinlaster mit offener Ladefläche. „Yallah, hoch da! Beeilt euch - und verkriecht euch zwischen den Säcken“, rief ein kleiner drahtiger Typ, offenbar der Fahrer.

„Allah sei mit euch!“, hörten wir noch die tiefe Bassstimme unseres freundlichen Wirts, da ging es schon hinaus auf die Straße. Kaum waren wir auf die breite Hauptstraße des kleinen Ortes eingebogen, kam vor uns eine weite Wasserfläche in Sicht. Gleich darauf erreichten wir einen Damm, der schnurgerade auf dieses Gewässer hinaus und weiter ins Nichts zu führen schien. Eine Weile begleitete uns links und rechts der mehrspurigen Fahrbahn noch ein breiter Strand, der aussah, als wäre er schneebedeckt. „Salz“, rief mir Belal über den Sack zu, der zwischen uns lag. Da hatten wir aber schon die eigentliche Brücke erreicht und sahen auf beiden Seiten der Fahrbahn nur noch Wasser, soweit das Auge reichte. Es war ein riesiger See. Erst als wir eine ganze Weile gefahren waren, tauchten allmählich die Umrisse des gegenüberliegenden Ufers aus dem Morgendunst auf.

Ich musste an den Sommernachmittag denken, an dem ich mit meinem Vater zusammen am Ufer des Qargha-Sees gesessen hatte und wir beide zu den Bergen am anderen Ufer hinübergeschaut hatten – ein Jahr bevor die Welt meiner Kindheit untergegangen war. Ich musste schlucken und spürte, wie mir Tränen in die Augen traten. Kein Wunder bei dem Zugwind während der schnellen Fahrt über den offenen See. Ich duckte mich zwischen die Säcke.

Später ging es auf Landstraßen über eine grüne Ebene, manchmal durch Baumalleen oder an Orangenplantagen vorbei, und hin und wieder auch durch kleine Dörfer, deren von Obstbäumen umstandene Steinhäuser sich hinter Mauern oder hohen Zäunen zu verbergen versuchten.

Eine Zeit lang hatte ich das Gefühl, wir führen im Kreis. Dann aber ging es lange eindeutig nach Norden, da mir die inzwischen schon höherstehende Sonne stetig von rechts ins Gesicht schien. Schließlich fuhren wir in Serpentinen immer weiter ins Gebirge und ich verlor die Orientierung.

Wir kamen auch an Kontrollposten vorbei, einmal kurz vor einem größeren Dorf, später noch zwei Mal mitten im Nirgendwo. Wir merkten das jedes Mal daran, dass der Fahrer seinen Arm aus dem Fenster des Führerhauses streckte und zu uns nach hinten brüllte, wir sollten uns verkriechen. Einmal habe ich vorsichtig den Kopf hochgestreckt, sobald der Fahrer wieder beschleunigt hatte, und hatte noch gesehen, dass da hinter uns tatsächlich zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten am Straßenrand standen.

Dem Sonnenstand nach war es längst später Nachmittag, meine rechte Gesichtshälfte brannte, aus meiner Wasserflasche kam kein einziger Tropfen mehr und alle Glieder schmerzten von dem stundenlangen Liegen und Hocken zwischen den Säcken. Am Anfang hatten wir diese Unterlage noch einigermaßen komfortabel gefunden. Rohbaumwolle, hatte Belal mit Kennermine behauptet, nachdem er gleich nach unserer Abfahrt gegen einen der Säcke geboxt hatte. Inzwischen aber sehnten wir alle nur noch das Ende der Fahrt herbei.

Inzwischen ging es in Serpentinen wieder bergab in ein Tal, wir durchquerten ein kleines Bergdorf und hielten schließlich vor einem etwas abseits gelegenen Gehöft. Zwei finster aussehende Typen erwarteten uns schon. Der eine fragte unseren Fahrer etwas auf Farsi. Ich verstand nur „Hast du den Afghanen dabei?“ Unser Fahrer antwortete etwas, was ich überhaupt nicht verstand. Wahrscheinlich sprach er kurdisch. Dabei zeigte er auf die Säcke und lachte.

Ein dritter Mann erschien in der Tür des Hauses und winkte uns herein. „Kommt, gleich gibt‘s was zu Essen und ihr könnt euch etwas ausruhen, bevor ihr abgeholt werdet“, rief er uns zu. Ausgehungert stürzten wir uns auf das Lammfleisch mit Reis, das uns zwei kleine Jungs kurz darauf servierten. Zwischen zwei Bissen fragte ich, ob jemand verstanden hätte, was die da draußen mit dem Afghanen gemeint hätten.

„Er hat schwarzer Afghane gesagt.“ Faizal lachte. „Weißt du etwa nicht, was das bedeutet? Aber hier ist das vielleicht eine Bezeichnung für noch wertvolleren Stoff aus Afghanistan.“

„Soll das etwa heißen, fragte Belal, „wir waren gar nicht die wertvollste Fracht auf diesem Transport?“ Auch er lachte.

„Vor allem würde das heißen, dass wir als eine Art Lebensversicherung für den Fahrer gedient haben. Schließlich wird Drogenhandel im Iran mit dem Tode bestraft. Bei einer Kontrolle hätten die sich vielleicht damit zufriedengegeben, uns ins Gefängnis zu stecken, und hätten sich um seine Säcke gar nicht weiter gekümmert“, gab Faizal grinsend zurück.

Malik und ich sahen uns an. Mein Freund fand die Vorstellung, dass wir als Tarnung für einen Drogentransport gedient haben könnten, offenbar auch nicht so witzig.

Der stets muntere Belal aber setzte sogar noch einen drauf. „Hauptsache, die stecken nicht auch noch etwas von dem Zeug in unsere Rucksäcke, bevor es über die Grenze geht.“

„Ich jedenfalls werde meinen Rucksack ab jetzt nicht mehr aus den Augen lassen“, sagte ich. Ich fürchte, mein Lachen klang etwas gezwungen.

Wir hatten die Riesenportion Fleisch mit Reis fast völlig vertilgt, als einer der kleinen Jungen uns einen Korb voller Äpfel sowie Tüten mit Rosinen, getrockneten Aprikosen, geschälten Mandeln und Nüssen ins Zimmer brachte. „Esst, so viel ihr könnt und packt euch auch noch die Rucksäcke voll. Da draußen in den Bergen weiß man nie, wann man wieder etwas zu essen bekommt“, sagte er. „Und legt euch noch etwas aufs Ohr. Kurz vor Mitternacht geht’s weiter.“

„Wacht endlich auf, es geht los!“

Im ersten Moment wusste ich gar nicht, wo ich überhaupt war. Instinktiv griff ich als erstes nach meinem Rucksack. Malik neben mir schlief immer noch fest. Ich rüttelte ihn wach und wir stolperten hinter den anderen her.

Draußen war es dunkel. Am schwarzen Himmel funkelten die Sterne. Der Kleinlaster, mit dem wir gekommen waren, war verschwunden. Stattdessen wartete ein schwarzer Toyota-Geländewagen auf uns. Faizal und Belal waren schon eingestiegen. Der Fahrer, sportliche Lederjacke, nicht viel älter als wir, hielt die Tür zum Beifahrersitz auf. „Yallah, los, los!“ Malik zögerte und stieg dann vorne bei ihm ein. Ich drückte mich mit meinem Rucksack neben die beiden anderen auf den Rücksitz.

Der Fahrer machte sich nicht mal die Mühe, die Scheinwerfer einzuschalten, als er den Abhang hinunterfuhr und auf die Straße einbog. Schon bald verengte sich das Tal und die Straße wand sich wieder in Serpentinen in die Berge hinauf. Belal stieß mich an. „Der scheint diese Strecke im Schlaf zu kennen“, meinte er.

Selbst auf dieser engen, kurvenreichen Bergstraße fuhren wir die meiste Zeit ohne Licht. Vor dem sternenübersäten Himmel zeichneten sich nur schwach die kantigen Umrisse schroffer Felsen am Straßenrand und hin und wieder die finstere Silhouette der umliegenden Berge ab. Der Fahrer hatte sein Fenster ein Stück weit geöffnet. Mit dem kühlen Fahrtwind drang der Duft von Wildblüten und Kiefernharz herein. Das eintönige Brummen des Motors und das Schaukeln des gut gefederten Toyota schläferten mich ein.

Ich schreckte erst wieder hoch, als der Wagen wild zu schaukeln begann. Wir waren von der Straße auf eine unbefestigte Piste mit tiefen Schlaglöchern eingebogen. Heftige Ausweichmanöver des Fahrers schleuderten uns gegeneinander. Wir bewegten uns über eine kahle Hochebene, die im Licht des inzwischen emporgestiegenen Halbmonds seltsam unwirklich glänzte. Ich fror in der eiskalten Luft, die zum immer noch offenen Fenster hereinblies.

Der Fahrer sagte etwas zu Malik. Der rief zu uns nach hinten, wir wären gleich da. Kurz darauf blinkte in der Ferne schräg vor uns mehrmals kurz hintereinander ein Licht auf. Der Fahrer verließ die Piste und hielt quer durch das Gelände direkt auf diese Stelle zu. Der dunkle Streifen vor uns erwies sich als Waldrand.

„Aussteigen. Ab hier geht’s zu Fuß weiter.“

„Hier schmeißt der uns raus?“, protestierte Faizal, aber da öffnete der Fahrer schon die Tür auf seiner Seite. Er holte etwas aus der Brusttasche seiner Lederjacke. Der schrille Pfiff einer Trillerpfeife ertönte. Ein Antwortpfiff kam ein ganzes Stück weit entfernt vom Waldrand her. Kaum hatten wir uns ganz steif von der langen Fahrt und vor Kälte mitsamt unseren schweren Rucksäcken aus dem Wagen gewunden, warf der Fahrer die Türen zu. „Allah sei mit euch“, rief er uns durch das offene Fenster zu, ließ den Motor an, wendete und fuhr davon.

Aus dem Dunkel des Waldes löste sich ein großer Schatten. Erst als der näherkam, erkannten wir, dass es ein Reiter war. „Hierher!“, rief er uns zu. Als er sah, dass wir uns in Bewegung setzten, wendete er sein Pferd. Wir beeilten uns, ihn einzuholen. An der Stelle, wo er aufgetaucht war, lenkte er sein Pferd in den Wald. Erst da sahen wir, dass da noch ein weiterer Reiter stand. Der hob schweigend die Hand zum Gruß, wartete, bis wir hinter dem anderen her an ihm vorbei waren und bildete dann die Nachhut unseres kleinen Zuges.

Der trotz Mondlicht kaum erkennbare Pfad, dem wir im Gänsemarsch folgten, führte in weiten Kehren bergab. Sobald wir das Plateau verließen, legte sich der kalte Wind. Ich war froh, dass ich mich endlich mal wieder richtig bewegen konnte. Schon nach kurzer Zeit war mir warm. Der Sternenhimmel, die Stille ringsum, die klare Luft, alles erinnerte mich an meine Zeit in den Bergen. Diesmal sollte mich der Weg durch die Nacht aber in die Freiheit führen. Wahrscheinlich hätte ich unseren lockeren Marsch bergab sogar genossen, hätte ich nicht gewusst, dass uns wieder ein Grenzübertritt bevorstand,

Fast wäre ich auf Malik geprallt, der die ganze Zeit vor mir gelaufen und plötzlich stehengeblieben war. Ein Zischen von vorn, dann standen wir alle und lauschten. Nach einer Weile, seitlich aus der Ferne, ein Ruf … ein Schuss … weitere Schüsse in ganz kurzem Abstand. Danach eine Stille, so tief, dass es einem in den Ohren nachhallte.

Ich kann nicht sagen, wie lange wir da so standen und lauschten. Schließlich hob der Reiter vor uns die Hand und es ging weiter. Kurz darauf erreichten wir die Talsohle und hielten vor einem breit ausgetretenen Pfad. Den überquerten wir erst, nachdem unsere Führer sich längere Zeit nach links und rechts vergewissert hatten, dass sich nirgendwo etwas regte. Ein Stück weiter ging es über einen Bach, der eigentlich nicht sehr tief war. Ich aber rutschte auf einem der Steine aus, auf denen wir hinüberbalancierten. Ich konnte noch froh sein, dass ich nicht der Länge nach im Wasser gelandet war. Am anderen Ufer hätte ich gerne erstmal das Wasser aus meinen Schuhen geleert und meine Hosenbeine ausgewrungen, aber die beiden Reiter trieben uns weiter und den Hang auf der anderen Talseite wieder hinauf.

Bald darauf wurde es so steil, dass unsere beiden Begleiter absteigen und ihre Pferde am Zügel führen mussten. Nicht lange, und mir zitterten die Beine und das Herz schlug mir bis zum Hals. Der Hang war felsig, und ständig auf kantige Steine zu treten machte das Marschieren zunehmend zur Qual. Ich war froh, als Belal hinter mir rief, er könne nicht mehr und sich einfach auf den Boden fallen ließ. Die Reiter schimpften, aber es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als uns eine kurze Pause zu gönnen.

Nach einem weiteren steilen Anstieg erreichten wir endlich den Gipfel des Höhenzugs. Der jüngere der beiden Reiter – der, der die Nachhut gebildet hatte – saß gleich wieder auf. Sein vierschrötiger Kollege packte den immer noch jammernden Belal und hob ihn hinter seinem Kollegen aufs Pferd. Dann ging es weiter. Wenn ich gewusst hätte, wie weit wir noch laufen mussten, immer wieder bergab und bergauf, hätte ich mich wohl auch einfach auf den Boden fallen lassen wie Belal. Am Ende bin ich nur noch ganz automatisch vorangestolpert.

Es dämmerte schon, als wir auf halber Höhe eines Berges um eine Felsnase bogen und plötzlich eine von Kiefern umgebene Lichtung vor uns lag. Ich erschrak, denn da lagerten, jeweils in kleinen Gruppen zusammen, mehr als zwanzig Personen, die alle zu schlafen schienen. An einer Stelle am Rande der Lichtung saßen drei oder vier Männer beieinander, die offenbar Wache hielten. Neben ihnen waren Pferde angebunden. Unser Führer hielt direkt auf diese Gruppe zu.

Eine der Gestalten, ein hagerer junger Mann mit abstehenden Ohren, erhob sich und kam uns entgegen. „Von Kadér?“ Er brachte uns zu einer Stelle etwas abseits unter den Bäumen. „Ruht euch erst einmal aus. Vor morgen Mittag geht es sowieso nicht weiter“, sagte er.

Ich schaffte es gerade noch, meinen Schlafsack auf dem sandigen Boden auszurollen und mich darauf fallen zu lassen, dann war ich fest eingeschlafen.

Als ich aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel, aber noch lag unser Plätzchen im Schatten der Bäume. Malik und Belal schliefen noch. Faizal entdeckte ich in einer Gruppe von bärtigen jungen Männern, die etwas entfernt im Kreis zusammensaßen und sich angeregt unterhielten. Erst wollte ich rübergehen, aber irgendetwas hielt mich dann doch davon ab. Es saßen oder standen noch mehrere solcher Runden auf diesem kleinen Plateau beieinander. Offenbar war dies ein Sammelplatz, wo die Schlepper ihre ‚Kunden‘ zusammenführten, bevor sie sie über die Grenze brachten.

Am Ende haben wir drei Nächte und zweieinhalb Tage auf diesem Plateau zugebracht. Immer wieder hieß es, es ist noch nicht sicher. Die koordinierte Aktion der iranischen und türkischen Grenzer, von der schon der Boxer gesprochen hatte, war anscheinend immer noch nicht zu Ende. Angeblich hatte es bei den Grenztruppen drüben auf türkischer Seite kürzlich auch noch einen großen Personalaustausch gegeben. Dann dauere es immer eine Weile, bis alles wieder wie geschmiert laufe. Das jedenfalls wollte einer von Faizals bärtigen pakistanischen Landsleuten in Erfahrung gebracht haben.

Die Schlepper, die uns eigentlich schon längst wieder hatten los sein wollen, wurden immer gereizter. Auch unter den Flüchtlingen – ausschließlich junge Männer – wurde die Stimmung ab unserem zweiten Tag dort oben aggressiv. Am Abend unseres ersten Tages war noch eine kleine Eselskarawane mit Decken und Lebensmitteln eingetroffen. Fladenbrot, Oliven und Ziegenkäse reichten aber gerade bis zum Mittag des nächsten Tages.

Nicht alle waren vor ihrem Aufbruch zu diesem Ort so gut versorgt worden, wie wir. Wie hatten wir geflucht, als wir unsere schweren Rucksäcke über die Berge geschleppt hatten. Jetzt wurden wir von vielen um unsere Äpfel und Nüsse beneidet. Am zweiten Abend teilten wir den Rest unserer Schätze mit den bärtigen Freunden von Faizal, die tatsächlich alle wie er selbst aus Pakistan stammten. Diese Gruppe hatte besonders aggressiv unsere brüderliche Solidarität eingefordert. Dabei mochten sie mich und meine beiden afghanischen Freunde offenkundig genauso wenig, wie wir sie. Faizal aber meinte, wir würden vielleicht nochmal froh sein, auf ihre Hilfe zählen zu können. Besonders ihr Anführer Zabiullah habe überallhin beste Verbindungen, auch nach Afghanistan – vor allem in die Provinz Nangarhar.

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