Kitabı oku: «Miss of the Match»
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Carina Isabel Menzel
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Impressum:
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zufällig und nicht beabsichtigt.
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Taschenbuchauflage 2017
Lektorat: Melanie Wittmann
Titelbild gestaltet mit Bildern von: © synGGG und A. Dudy - Adobe Stock lizenziert
ISBN: 978-3-86196-682-1 Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-282-1 E-Book (2020)
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Inhalt
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Widmung
Für Mama und Carola
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1
Die Menge tobt. Jubelschreie von beiden Seiten. Die Leute johlen, grölen. Brüllen den Namen des Spielers, der das Tor geschossen hat. Unablässig. Bald fangen meine Ohren an zu dröhnen. Ich werde geschubst und zur Seite gedrängelt. Jetzt, da wir führen, steigt das Fieber. Schweißnasse Trikots reiben sich an mir. Irgendwer hält meine Schulter umklammert. Nicht weit von mir qualmt es. Der beißende Geruch von Zigarettenrauch liegt in der Luft, vermischt sich mit dem von billigem Dosenbier, Schweiß und Deo. Ekelhaft. Die Luft ist aufgeheizt von der Körpertemperatur der Menschen. Tropisch.
Schweiß läuft mir in die Augen. Es brennt und ich muss blinzeln. Verpasse das nächste Tor. Das Dröhnen in meinem Kopf schwillt an, als die Menge erneut beginnt zu schreien. Eine Tröte direkt an meinem Ohr. Ich will mich zu dem Übeltäter umdrehen und ihn anschnauzen, doch ich stecke fest. Zwischen den ganzen Fans. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Panik steigt in mir auf. Die Tröte erklingt erneut. Dann noch mal. Ist das Spiel endlich vorbei?
Gut, dann kann ich hier raus. Doch niemand macht Anstalten, sich vom Fleck zu bewegen. Langsam nimmt mir die stickige Luft den Atem. Mein Mund wird trocken. Ich ringe nach Luft. Die Menge kocht. Aufgeheizte Körper dicht aneinandergedrängt. Zwängen mich ein.
Ich spüre kaum das klebrige Zeug, das irgendwer über mir verschüttet. Höre die gemurmelte Entschuldigung nicht. Vor meinen Augen flackert es. Die Riesenleinwand verschwimmt. Immer noch der Druck von allen Seiten. Schiefes Gegröle. Vereinzelte Schreie. Ich schnappe nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Bekomme keine. Spüre, wie der Auflauf um mich herum dichter und dichter wird ...
Schweißgebadet fahre ich hoch, haue mir dabei den Kopf an der Dachschräge an und atme keuchend ein und aus. Nur ein Traum. Alles nur ein Traum.
Mein Herz rast. Ich fahre mir mit der Hand durch das wirre Haar, während mein Blick das Zimmer scannt. Keiner da außer mir. Keine Menschenmassen.
Es ist noch dunkel, durch die Vorhänge fällt ein winziger Streifen Mondlicht ins Zimmer und beleuchtet meinen Schreibtisch. Die Ordner liegen da wie immer. Das Schreibzeug ist hingeworfen, genauso wie ich es gestern Abend dort zurückgelassen habe. Alles ist so, wie es gehört. Ich bin nicht in einer Menge Fußballfans erstickt.
Langsam beruhigt sich mein Herz und ich kann wieder normal atmen. Die Leuchtziffern meines Weckers zeigen Viertel nach drei an. Erschöpft lasse ich mich zurück in die Kissen sinken und starre die dunkle Decke an. Immer noch schwirrt mir das Bild meines Traums im Kopf umher. Albträume, die von Fußball handeln. Ich muss grinsen, doch es vergeht mir, als sich mein Kopf mit einem stechenden Schmerz bemerkbar macht.
Ich setze mich vorsichtig wieder auf, schwinge die Beine aus dem Bett und tapse barfuß in Richtung Badezimmer. Ich mache mir nicht die Mühe, Licht anzuknipsen. Obwohl ich erst seit vier Wochen hier wohne, finde ich schon zum Badezimmer, ohne mich vorher in die Küche zu verlaufen. Die Fliesen sind angenehm kühl unter meinen Füßen. Hier gibt es kein Fenster und mir bleibt nichts anderes übrig, als eine gefühlte Ewigkeit nach dem Lichtschalter zu tasten, der nur aus einem winzigen Schalter inmitten lauter Kabel besteht, weil mein Bruder Marc, der all den Kram, zu dem ich nicht fähig bin, übernimmt, noch nicht dazu gekommen ist, eine Verkleidung zu kaufen und anzuschrauben. Gott sei Dank hängt hier eine Energiesparlampe, sodass das Licht nur langsam hell wird und sich meine Augen allmählich daran gewöhnen können. Ich lasse mir kaltes Wasser über die Arme und das Gesicht laufen, dann knülle ich einen Waschlappen zusammen, tränke ihn und presse ihn gegen meinen Hinterkopf. Der Schmerz lässt augenblicklich etwas nach. Aus dem Spiegel starrt mir eine übermüdete, ungeschminkte Cynthia entgegen. Blass, dunkle Ringe unter den Augen. Meine rotbraunen Haare stehen in alle Richtungen ab, auf meinem Hals sind hektische rote Flecken zu sehen. Wieder kommen mir die Bilder aus meinem Traum in den Sinn. Das darf ich keinem erzählen, sonst werde ich ausgelacht.
Ich verlasse das Badezimmer und mache mich direkt auf den Weg in die Küche. Schlaf kann ich jetzt sowieso vergessen. Ich lasse mich auf einen noch halb in Kartonpapier eingepackten Barhocker sinken, ziehe eine Tasse heran und stelle die Kaffeemaschine an. Das laute Klopfen und Rattern wird meine Nachbarn wecken, aber sei’s drum. Die sind sowieso beide Ärzte und vielleicht haben sie Glück und arbeiten gerade, sodass sie mein Krach nicht zu kümmern braucht. Außerdem haben sie mich sowieso nicht gerade gern, weil ich Bekanntschaft mit ihnen gemacht habe, als Marc und ich mein Bett lautstark die Treppe hochgeschleppt und sie damit aufgeweckt haben. Zum ersten Mal gesehen habe ich sie also, wie sie wütend im Bademantel vor ihrer Wohnungstür herumschrien. Damals waren sie nämlich zu Hause gewesen, nachdem sie die ganze Nacht in der Notaufnahme verbracht hatten. Und ich will nicht wissen, wer nachts so in die Notaufnahme eingeliefert wird. Ganz verziehen haben sie mir das bis heute nicht und sprechen nur das Nötigste mit mir.
Nach dem ersten Schluck Kaffee fühle ich mich schon um einiges wacher. Es dauert noch ein paar Stunden, bis ich mich fertig machen muss. Mein Blick schweift durch das provisorische Wohnzimmer, das direkt an die offene Küche angrenzt. Eigentlich steht noch nichts drin außer einem Sofa und einem Fernseher, der noch nicht angeschlossen ist. Gestern habe ich versucht, ein IKEA-Regal aufzubauen, bin aber kläglich daran gescheitert.
Ich könnte staubsaugen, den ganzen Dreck wegmachen, den Marc und die anderen gestern beim Kabelverlegen hinterlassen haben. Sägespäne und Putzbrocken sind über den gesamten Boden verteilt. Seufzend rutsche ich vom Hocker. Das wird das größte Problem in meiner eigenen Wohnung werden: Ordnung halten und regelmäßig staubsaugen.
Bis vor einem Monat habe ich noch bei meinen Eltern etwas außerhalb von Berlin gewohnt und meine Mutter hatte eigentlich schon vor Jahren beschlossen, mir mein Zimmer selbst zu überlassen, aber wenn es ihr zu unordentlich wurde, hat sie eben doch mal durchgesaugt. Meine Mutter kann Unordnung beim besten Willen nicht leiden. Mir dagegen fehlt einfach immer die Motivation, irgendetwas aufzuräumen, und meistens höre ich nach zehn Minuten wieder auf, weil es sowieso nur ein Etwas-von-einem-Schrank-in-den-anderen-Stopfen ist. Nur ist meine Mutter jetzt nicht mehr hier und räumt mir hinterher. Und ich will die Wohnung ja nicht komplett zumüllen.
Ich stecke das Radio in eine der wenigen funktionierenden Steckdosen und drehe es laut, damit ich es auch beim Staubsaugen hören kann. Natürlich läuft der WM-Song. Ich kann ihn langsam nicht mehr hören, obwohl die Fußballweltmeisterschaft noch nicht mal begonnen hat. Dieses typische Gute-Laune-Lied sollte mich eigentlich wacher machen, aber es nervt mich nur noch mehr. Genau wie ich diese dämlichen Karten mit den einzelnen Spielern überall herumfliegen sehe, auf der Straße, in der Uni, selbst wenn ich meinen Cousin Clemens vom Kindergarten abhole, kommen die kleinen Kinder auf mich zugerannt. „Hast du den und den ...“
Die Kassiererinnen im Supermarkt, in dem man die Dinger ab zehn Euro Einkaufswert geschenkt bekommt, wissen inzwischen, dass sie mich gar nicht erst fragen müssen, wenn sie kein barsches „Nein, ich sammel den Scheiß nicht“ hören wollen.
Mal ehrlich: Welcher Idiot hat sich ausgedacht, dass die Fußball-WM dieses Jahr in Deutschland ausgetragen werden muss? Ich bin schon froh, dass ich diesen albernen Hype nur alle vier Jahre ertragen muss, wenn im Radio die aktuellen Lieder nur noch zu Fußballhymnen umgedichtet laufen, wenn im Fernsehen auf allen Kanälen nur über Stadien diskutiert, Spiele analysiert und verschwitzte Fußballspieler interviewt werden, wenn überall Plakate herumhängen und alles, was es irgendwo zu kaufen gibt, irgendwie mit Fußball angepriesen wird, und wenn sich kein originelles Wortspiel mit Fußball oder WM daraus basteln lässt, zumindest von einem Nationalspieler beworben wird. Ich hoffe jedes Jahr, dass Deutschland möglichst früh rausfliegt (was es leider eigentlich nie tut), damit wenigstens das größte Chaos vorbei ist. Aber dieses Jahr ist es einfach furchtbar. Wenigstens hat man nicht angefangen, Stadien zu bauen, aber es reicht ja auch nicht, die Mannschaften aus der ganzen Welt in einfachen Hotels unterzubringen, nein, es wurden Millionen rausgeworfen, um wahnsinnige Anlagen zu bauen, jede einzelne mit eigenem Trainingsplatz, mehreren Pools und Schlafzimmern, wie sie nicht mal in den teuersten Hotels zu finden sind. Wirklich, das Geld könnte man auch anders verwenden. Bei uns in Deutschland ist es zwar kein so vieldiskutiertes Theam, weil es keine Slums oder so gibt, aber trotzdem.
Seit Anfang des Jahres kennt Berlin kein anderes Thema mehr als die anstehende WM. Schon im Januar haben die Sportmoderatoren im Fernsehen hitzige Diskussionen über den diesjährigen Weltmeister geführt und die Bäcker haben schon zur Faschingszeit angefangen, ihre Brötchen in Fußballform zu backen. Und spätestens seit dem Sommeranfang sind alle am Durchdrehen. Ich habe das Gefühl, mich in einem Meer aus Schwarz-Rot-Gold zu befinden, wenn ich durch die Innenstadt gehe. Fahnen in diesen Farben werden ja bei jeder WM aus den Fenstern gehängt, aber ich glaube, dieses Jahr ist die Zahl sogar noch um das Dreifache gestiegen.
Ich drücke ein paar Knöpfe am Radio, weil der Reporter wieder anfängt, über irgendwelche Strategien des Trainers zu fachsimpeln, und wechsle auf den Klassiksender. Die sprechen wenigstens über Menschen, die wirklich zu etwas fähig waren, zum Beispiel Bach, und nicht über Typen, die einen Ball neunzig Minuten über den Rasen kicken, versuchen, ein Tor zu treffen, ab und zu rumschreien, andere umrempeln und sich dabei noch besonders intelligent vorkommen.
Während Händels Wassermusik durch mein Wohnzimmer dudelt, staubsauge ich und räume etwas auf, dann nehme ich aus einem der Umzugskartons das nächstbeste Buch, setze mich auf die ausgepackte Hälfte des Sofas und lese mit dem Licht der nackten Glühbirne an der Decke, bis sich die ersten Sonnenstrahlen den Weg durch die Fenster suchen und ich endlich zu meinem normalen Morgenprogramm übergehen kann.
*
2
„Kiki, ich hör dich nicht, ich bin auf dem Weg zur Bahn, verdammt!“
Das Hupen eines Autos direkt hinter mir verschluckt die Antwort meiner besten Freundin. Ich zwänge mich, das Handy an mein Ohr gepresst, durch den dichten Berufsverkehr in Richtung Bahnhof Zoo. In drei Minuten geht meine Bahn, und wenn das Gedrängel auf der Straße vor mir nicht bald lichter wird und sich für mich irgendwo eine Möglichkeit ergibt, zwischen den ganzen hupenden Autos hindurch einen Weg auf die andere Straßenseite zu finden, kann ich zwanzig Minuten dumm rumstehen und auf die nächste warten.
„Kiki, hör mal, ruf mich später noch mal an, ich ...“
Ha, jetzt. Eine Lücke. Ich beeile mich und hetze auf die andere Straßenseite, ohne die verärgerten Gesichter der Autofahrer zu beachten. Auf dem Gehweg angekommen werfe ich einen Blick auf die Uhr und beschleunige meine Schritte. Noch zwei Minuten.
„Ich wollte einfach wissen, ob du heute Mittag mitkommst!“, brüllt Kiki mir ins Ohr.
Ich beachte die rote Ampel zwischen mir und dem Bahnhofsgebäude nicht und beginne zu rennen, klemme mir das Handy zwischen Schulter und Ohr und krame gleichzeitig in meiner Tasche nach dem Ticket. „Kommt drauf an, wohin“, antworte ich und quetsche mich unsanft durch eine Gruppe Rocker, die den Eingang blockiert. Einer pfeift mir hinterher, doch ich beachte ihn nicht.
„Na ja, ich muss noch ein paar Einkäufe erledigen ...“ So wie Kiki klingt, weiß sie genau, dass ich absagen würde, wenn ich wüsste, was für Einkäufe sie wirklich zu erledigen hat. Wahrscheinlich wieder irgendeine Messe, auf die niemand mitwill und die wieder an mir, ihrer besten Freundin seit der zehnten Klasse, hängen bleibt. Na danke.
„Von mir aus. Ich ruf dich in einer halben Stunde noch mal an.“
Ohne auf Kikis Antwort zu warten, beende ich das Telefonat, stecke das Handy in meine Hosentasche und komme gerade rechtzeitig zum Bahnsteig, als die Bahn abfährt.
„Mist“, fluche ich und lasse mich auf einen der blauen Metallsitze sinken, die jetzt, da fast alle Passanten in der Bahn sind, endlich mal frei sind.
Neben mir sitzt eine kleine Gruppe Teenagermädchen mit Schultaschen, die sich zu viert über eine Zeitschrift beugen. Zwei kichern unentwegt, während eine andere nur leicht gelangweilt danebensitzt und frustriert wirkt. Die vierte, die das Heft in der Hand hält, zählt etwas an ihrer Hand ab und ruft jetzt genervt: „Jetzt seid doch mal leise, Mann, ich muss mich konzentrieren!“
Ich lasse meinen Blick zu dem Heft wandern. Welche Spielerfrau wärst du?
Oh Gott, Himmel hilf. Ich schüttele nur den Kopf und sehe wieder weg. Mein Blick bleibt an einer riesigen Werbetafel hängen, die mir gegenüber über den Gleisen hängt. Chipswerbung. Und dem Trikot nach zu schließen, ist der Typ, der die Tüte Championchips breit grinsend in die Kamera hält, einer der deutschen Fußballspieler.
Das bemerkt wohl auch gerade das frustrierte Mädchen neben mir, die wahrscheinlich nicht als Spielerfrau ihres Lieblingsspielers auserkoren wurde, denn auf einmal wird sie ganz aufgeregt und macht ihre Freundinnen auf das Plakat aufmerksam, die daraufhin in ein dreistimmiges hysterisches „Oh, mein Gott!“ ausbrechen.
Es wird mir zu dumm. Ich stehe auf und stelle mich zu einer Reisegruppe Senioren, die etwas weiter abseitsstehen. Vielleicht nerven die mich nicht mit ihrem Fußballgetue.
„Das schaffen die nie, ich sag’s dir. Im eigenen Land mit so einem Trainer. Ich sag’s dir, Adelheid, damals 1974 ...“
Das gibt’s doch nicht! Am liebsten hätte ich geschrien. Entschlossen packe ich meinen iPod aus, um für den Rest der Wartezeit etwas anderes zu hören.
„Noch zwei Tage, meine Herrschaften, ist das nicht ein wunderbarer Gedanke?“ Professor Schelm strahlt die Menge gelangweilter Studenten an, die sich jetzt, da er von seinem eigentlichen Thema, der Translation der Aminosäuren, abgeschweift ist und auf die Weltmeisterschaft zu sprechen kommt, in ihren Bänken etwas aufrichten und interessiert nach vorne zum Rednerpult sehen. Nur ich werde noch gelangweilter. „Die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land“, der Professor streicht seinen weißen Kittel glatt, den er eigentlich nur anhat, um schlauer zu wirken, „ist eine Ehre für uns alle, nicht wahr? Es ist mit das größte Ereignis in eurem bisherigen Leben, oder? Ich meine, die WM wurde natürlich schon in Deutschland abgehalten, aber es ist doch einfach wunderbar, sich auf ein derartiges Ereignis freuen zu können, habe ich recht?“
Auf allen Seiten wird begeistert auf die Tische geklopft. Professor Schelm tritt hinter seinem Pult hervor und fährt sich durch die wenigen silbergrauen Haare, die er noch auf dem Kopf hat. Er rückt seine Brille zurecht und sein Blick wandert durch die Reihen.
„Wir alle werden natürlich hinter unseren Spielern stehen, nicht wahr?“
Das ist eine der Sachen, die ich an unserem Professor nicht leiden kann. Er muss sich immer erkundigen, ob er auch richtig liegt, egal, was er von sich gibt.
Zustimmendes Geklopfe und ein gerufenes „Aber hallo!“ sind die Antwort.
„Natürlich ist Fußball ein Sport und Sport ist anstrengend, auch für den Körper, oder?“ Er grinst nun übers ganze Gesicht und ich ahne schon, was jetzt kommt.
Jennifer neben mir offenbar nicht, denn sie beugt sich rüber, wobei ihre zehntausend Armreifen klimpern, und flüstert mir begeistert zu: „Endlich mal ein Thema, das alle interessiert.“
Ha, danke. Ihr betörendes Vanilleparfum hüllt mich ein und ich muss niesen.
„Gesundheit!“, kommt es aus mehreren Ecken.
Sie sind echt alle wach, kaum hat jemand das Thema WM angesprochen. Unglaublich.
Herr Schelm nutzt es aus. „Sie wissen gar nicht, was genau im Körper beansprucht wird, wenn er solchen Leistungen ausgesetzt ist, oder?“ Er hat seinen Vortrag beendet und begibt sich wieder hinters Pult, wo er seinen Zeigefinger anfeuchtet und eine Seite in seinem Ordner umblättert, bevor er uns wieder ansieht. „Doch genau das werden Sie jetzt erfahren.“
Ich muss grinsen und diesmal bin ich diejenige, die sich interessiert aufrichtet. Ich hab’s gewusst. Allgemeines Stöhnen macht sich breit. Die Studenten sinken wieder tiefer in ihre Sitze. Jennifer neben mir sieht ernsthaft beleidigt aus.
„Superüberleitung, Professor!“, erlaubt sich jemand, voller Ironie zu rufen.
Der Professor hebt die Schultern und tippt auf das Papier vor sich. „Wir sind hier schließlich nicht ausschließlich zum Spaß.“
Meine Füße sind eingeschlafen. Ich wackele mit den Zehen, um die Taubheit zu vertreiben. Kiki neben mir wippt ungeduldig auf der Stelle auf und ab.
„Können die nicht ein bisschen hinmachen?“, motzt sie. „Warum lassen die nicht einfach mehr Leute rein? Haben die Schiss, wir rennen uns da drin gegenseitig über den Haufen?“
„Es war deine Idee hierherzukommen“, gebe ich zurück.
„Zum Glück. Das hätte ich komplett vergessen.“ Rafael sieht von seinem Smartphone auf, auf dem er zum Zeitvertreib irgendein schwachsinniges Spiel spielt. Natürlich in der WM-Edition.
„Du hättest es spätestens dann gemerkt, wenn du am Sonntag ohne dagestanden wärst.“ Sophie lacht und wirft ihre Haare zurück. Auch sie wirkt ungeduldig und trommelt mit den Fingern auf den Pfeiler neben sich.
Ich muss ebenfalls grinsen. Normalerweise habe ich nichts dagegen, etwas mit meinen Freunden zu unternehmen, aber heute hätte ich gut und gerne daheimbleiben können. Trikots shoppen können sie auch ohne mich. Aber nein, ich muss unbedingt mit, als Beraterin. Meiner Meinung nach ist es sowieso völlig schwachsinnig, sich für neunzig Euro eines dieser unförmigen Dinger zu kaufen, mal davon abgesehen, dass man sie eh nie anziehen kann außer zur WM- oder EM-Zeit, ohne komisch angesehen zu werden. Und was hat man davon, wenn Deutschland tatsächlich gewänne, ein ungültiges Trikot mit einem Stern zu wenig auf der Brust zu besitzen? Okay, die Antwort meiner Freunde kenne ich sowieso: neues kaufen.
Schon alleine das hier würde mich davon abhalten. Wir stehen seit zwanzig Minuten in einer Schlange, die zweimal um das Gebäude herumführt, nur um in diesen Laden reinzukommen, der sich WM-Store nennt. Er hat bestimmt drei Stockwerke und extra zur Weltmeisterschaft mussten mehrere Geschäfte ausziehen. Jetzt hängen draußen Plakate von der Nationalmannschaft, dem Maskottchen und den Stadien, sodass man nicht ins Innere sehen kann. Kiki hat sich geweigert, ihr Trikot im Internet zu bestellen, weil sie Angst hat, es könnte nicht rechtzeitig zum Eröffnungsspiel da sein, deswegen sind wir hier und vor uns stehen noch mindestens dreißig Leute. Die Schlange scheint nicht kürzer zu werden und es darf immer nur eine begrenzte Anzahl Kunden in den Store, in dem übrigens nicht nur Trikots verkauft werden, sondern laut Kiki alles, was etwas mit der WM zu tun hat. Sie hat mir vorhin gesagt, dass sie sich geschworen hat, nur ein Trikot zu kaufen und sonst nichts, denn wahrscheinlich würde sie da drin verführt werden, alles einzutüten.
„Was wird hier eigentlich verkauft, wenn keine WM ist?“, frage ich in die Runde.
„Nichts. Dann lebt der Typ, dem das gehört, von seinen Zinsen“, antwortet Rafael, ohne aufzusehen. „Der ist der Einzige, der Trikots im Laden verkauft. Was glaubst du, was der für einen Umsatz macht?“ Ich schüttele den Kopf. Oh Mann.
Nach weiteren zwanzig Minuten sind wir endlich vorne in der Schlange und werden von einem Typen im Deutschlandtrikot eingelassen. „Willkommen im Paradies“, grinst er, hält die Tür auf und ich frage mich, ob er den ganzen Tag über überhaupt etwas anderes sagt und ob ihm dieses Dauergrinsen nicht langsam wehtut. Neben ihm steht ein als WM-Maskottchen verkleideter Mensch ‒ ein ziemlich lächerlicher, knallbunter Igel im Trikot ‒ und winkt affig.
„Alter Schwede!“, staunt Rafael, nachdem wir den Laden betreten haben.
„Oh mein Gott!“, kreischt Sophie begeistert, während Kiki einfach nur dasteht und sich überwältigt umblickt. Selbst ich bin für einen Moment sprachlos.
Das Geschäft scheint sich in die Unendlichkeit zu ziehen. Und alles, was man sich zu einer Fußballweltmeisterschaft nur wünschen kann, türmt sich um herum und vor mir auf. Angefangen bei Trikots. Die Kleidung von so ziemlich jedem Team der Welt ist hier zu finden, ordentlich sortiert nach Shirts, Hosen, Strümpfen, Trainingsjacken und Schuhen. Besonders teuer sind die Matchworn-Trikots, getragene Trikots der Nationalspieler. Hoffentlich sind die wenigstens gewaschen. Wahrscheinlich nicht. Das war’s auch schon mit bunt, sonst ist alles in drei Farben gehalten: Schwarz. Rot. Gold. Regale bis zur Decke voller Fanartikel. Flaggen fürs Auto und Überzieher für die Außenspiegel. Perücken in allen Größen und Formen. Etwas weiter hinten Wände voller Blumenketten. Noch weiter hinten Tröten und Kastagnetten, Pfeifen und Trommeln. Wir stehen auf Kunstrasen und direkt neben dem Eingang wird Torwandschießen, Tischkicker, Human Soccer oder FIFA angeboten, über etliche Fernseher flimmern Aufzeichnungen der deutschen Nationalmannschaft bei den letzten Weltmeisterschaften. Die Mitarbeiter tragen alle eigene Trikots mit ihrem Namen auf dem Rücken. Die Menschen sind beladen mit Fanartikeln, Kinder rennen begeistert durch die Gegend, schreien ausgelassen und wedeln mit ihren Errungenschaften.
„Wahnsinn“, haucht Kiki. „Los, sehen wir uns um.“
Im zweiten Stockwerk geht es genau so weiter. In Kühlregalen, die sich über die ganze Wand ziehen, stehen ordentlich Cola- und Bierdosen sowie -flaschen, signiert von den deutschen Spielern und Trainern. Überall Plakate und Pappaufsteller mit den einzelnen Typen in Trikots, die auf die Menschenmassen, die überall stehen und staunen, herabblicken. Das hier scheint eine Art Lebensmittelabteilung zu sein, denn etwas weiter hinten finden wir Gummibärchen, Kekse und alles erdenklich Essbare in Fußballform und Schwarz-Rot-Gold.
Ein Stockwerk höher gibt es Stuhl- und Sofabezüge. Bettwäsche. Handtücher. T-Shirts, sogar Cocktailkleider und High Heels in den Deutschlandfarben. Geräumige Umkleiden bieten Platz zum Anprobieren. Aus Hunderten Lautsprechern schallen Fußballlieder und WM-Hymnen und die ausgelassenen Besucher grölen laut mit.
Der vierte Stock ist noch geschlossen. Laut Kiki finden dort während der WM Public Viewing und anschließend (wenn das Spiel gewonnen wurde) Partys statt.
Wir verbringen mehrere Stunden nur damit, uns umzusehen und die einzelnen Dinge zu bestaunen. Ich bin völlig überwältigt von dem Ganzen, sodass ich komplett vergesse, dass es etwas mit Fußball zu tun hat. Sophie bringt mich sogar dazu, eines der Cocktailkleider anzuprobieren, von denen sie sich später eines kauft, und Kiki zwingt mich, ein Trikot anzuziehen und davon Bilder in der Umkleidekabine zu schießen. Als Beweis, dass ich auch mal ein Trikot anhatte.
„Wenn sie erst mal Weltmeister sind, wirst du stolz darauf sein“, behauptet sie.
Wir stehen ewig vor den Kühlregalen, weil meine Freunde exakt die Coladosen mit den Unterschriften ihrer Lieblingsspieler haben wollen, aber sie sind nicht die Einzigen, die die Regale aus- und umräumen, bis sie die richtigen Dosen gefunden haben. Die passenden Trikots sind schnell gefunden, und als wir am Abend das Gebäude verlassen, schleppen Rafael, Sophie und Kiki ganze Tüten voller Fanzeugs mit nach Hause - so viel zum Thema „Nur ein Trikot kaufen“.