Kitabı oku: «Miss of the Match», sayfa 2
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„Der Countdown läuft“, jubelt der Sprecher, der seine Nachrichten heute im Deutschlandtrikot präsentiert. Marc hat den Fernseher endlich zum Laufen gekriegt und ist gerade dabei, mein missglücktes IKEA-Regal auseinanderzuschrauben, um es richtig zusammenzufügen. Ich stehe in der Küche und räume die Schränke ein. Zum Glück hat der Vorbesitzer die Ausstattung komplett drin gelassen. Die schönste ist sie zwar nicht, aber ich kann mich daran gewöhnen und es spart mir außerdem einen Haufen Geld.
Trotzdem ist meine Wohnung noch längst nicht fertig. Ich muss seufzen bei dem Gedanken, was noch alles vor uns liegt. Und Marc und seine Kumpels werden in der nächsten Zeit auch nicht mehr so oft zum Helfen anrücken können. Weltmeisterschaft. War ja klar. Morgen um sechs Uhr abends ist das Eröffnungsspiel. Ich bin so ziemlich die Einzige, die keine Karte hat. Kiki wollte mich überreden, dann würde ich mal diese einzigartige WM-Stimmung erleben und es komme ja gar nicht so auf Fußball oder auf den Sieg an, sondern darauf, Spaß zu haben und neue Leute kennenzulernen. Und vor allem darauf, diese einzigartige Stimmung zu erleben, doch sie hat mich nicht überzeugt. Mich kriegen keine zehn Pferde in ein überfülltes Fußballstadion, in dem lauter Wahnsinnige und vielleicht noch ein paar Hooligans sitzen, in dem es so laut ist, dass man es zwanzig Kilometer weiter noch hört, und in dem Bier bis zum Umfallen gesoffen wird. Nein, danke. Und weil bei Fußball die Leute, warum auch immer, doppelt so verrückt drauf sind wie bei irgendeinem anderen Sport, ist das Eröffnungsspiel für mich überhaupt nichts. Somit werde ich den Abend wohl alleine verbringen müssen, aber mein Gott. Es gibt Hunderte Möglichkeiten, sich irgendwie zu beschäftigen.
Jens, ein Kumpel von Marc, kommt in die Küche. „Der Flur ist gestrichen“, meint er, lässt sich auf einen Barhocker sinken, wischt sich den Schweiß von der Stirn und fährt sich durch die wirren blonden Haare. „Hast du irgendwas zum Trinken?“
„Im Kühlschrank steht Wasser“, antworte ich. In der letzten Zeit ist es so warm geworden, dass ich selbst das Mineralwasser kühl lagern muss, damit ich es nicht halb siedend trinken muss.
„Gut.“ Jens erhebt sich und schlurft zum Kühlschrank hinüber. „Wir müssen auch gleich weitermachen, damit wir die Diele heute noch schaffen.“
„Nichts da.“ Die Tür wird erneut aufgestoßen und Sven kommt herein, beladen mit weißen Pappschachteln vom Chinesen. „Erst das Vergnügen, dann die Arbeit.“
Nun kriecht auch Marc unter dem Sofa hervor, unter dem er die Kabel für die Stereoanlage positioniert hat. „Dafür wäre ich auch.“ Er klopft den Staub von seinen Klamotten, schlendert in die Küche und will eine der verführerisch nach gebratenen Nudeln duftenden Schachteln ergreifen, doch Sven weicht aus.
„Erst Hände waschen“, meint er mit einem Kopfnicken auf Marcs schwarze Finger, dann stellt er die Schachteln auf der Arbeitsplatte ab und küsst mich. „Hey.“
Ich lächele. „Hey. Wie war’s in der Uni?“
Er zuckt mit den Achseln. „Wie immer. Nicht wirklich spannend.“
„Kann ich verstehen“, grinse ich.
Sven und ich führen seit drei Jahren das, was Kiki offiziell eine Beziehung nennt, und ich muss gestehen, dass ich damit eigentlich sehr glücklich bin. Blöd ist nur, dass wir uns nicht so oft sehen können, denn Sven studiert Medizin und muss deshalb oft tagelang büffeln, um irgendeine Prüfung zu bestehen. Dagegen komme ich mir mit meinem Biologielehramtsstudium mickrig vor.
Ich nehme eine der Schachteln und ziehe den Deckel ab. Bei dem Anblick des dampfenden süß-sauren Hähnchens läuft mir das Wasser im Mund zusammen.
„Eigentlich komisch.“ Sven schnappt sich eins und steckt es sich in den Mund. „Sogar der Chinese veranstaltet Public Viewing. Ich meine, ist der überhaupt für Deutschland?“
„Wahrscheinlich nicht“, entgegne ich. „Aber irgendwie müssen die doch ihre Kunden anlocken.“
In letzter Zeit ist mir extrem aufgefallen, dass so gut wie jeder noch so kleine Biergarten ein Schild vor dem Haus stehen hat. WM live. Ich frage mich, ob man überhaupt irgendwo essen gehen kann, ohne dass auf einem Fernseher in der Ecke ein Spiel übertragen wird. Na, lustig, in ein paar Tagen haben Sven und ich Jahrestag und ich würde liebend gerne irgendwo hingehen, wo keine Leute im Trikot herumsitzen und die Spieler im Fernseher anfeuern oder beschimpfen. Jens hat sich eine Schachtel genommen und beißt in ein dampfendes Hühnchen. „Geht ihr zum Eröffnungsspiel?“, nuschelt er mit vollem Mund.
„Aber hallo!“, rufen Sven und Marc gleichzeitig.
Ich schüttle den Kopf. „Nö. Ich mach’s mir hier gemütlich. Vielleicht gehe ich auch einkaufen oder so. Dann muss ich an der Kasse wenigstens nicht Schlange stehen.“
Jens schüttelt verständnislos den Kopf. „Du bist mir unheimlich.“
Ich zucke mit den Schultern. „Lieber unheimlich als fußballwahnsinnig“, meine ich, nehme mir noch ein Hühnchen und setze mich auf die Küchenanrichte. „Mal was ganz anderes, Sven: Ich hoffe, du hast einen Anzug.“
„Anzug?“ Für einen Moment starrt er mich verständnislos an. „Ach so. Ja, natürlich.“
„Ich wollte nur sicher sein. Nicht, dass du an Emmas Hochzeit am Ende im Trikot auftauchst, weil du nichts anderes mehr hast.“
Meine Cousine Emma heiratet nämlich in vier Tagen. Weil sie in Rottweil lebt, werden Sven und ich schon einen Tag früher fahren. Ich hab mir mein Kleid schon vor einem Vierteljahr gekauft, plus Schuhe und Schmuck, aber Sven erledigt so etwas immer auf den letzten Drücker und ich habe keine Lust, mich auf der Hochzeit für meinen Freund schämen zu müssen, nur weil er nichts Vernünftiges im Schrank hat.
„Sag mal, ist an dem Tag nicht ein Deutschlandspiel? Haben die da einen Fernseher?“ Er sieht so ernsthaft verunsichert aus, dass ich lachen muss.
„Dann schaust du eben mal kein Deutschlandspiel.“
„Ey, komm, das ist ja wohl beschissen“, motzt er und auch Marc sieht etwas säuerlich aus.
Ich fasse es nicht. „Ihr seid echt unmöglich.“ Ich stehe auf und gehe genervt aus dem Zimmer. Sollen sie sich ohne mich bei Jens ausheulen.
„Du hasst Fußball, oder?“ Sven kommt ins Schlafzimmer und rubbelt sich im Gehen mit dem Handtuch über die nassen Haare. Er lässt sich neben mich auf das Bett sinken und sieht mich lächelnd an.
„Ich kann dieser Sportart einfach nichts abgewinnen“, entgegne ich und verschränke die Arme vor der Brust. „Wenn man es als Hobby spielt, habe ich ja nichts dagegen, aber ich verstehe nicht, warum so ein entsetzlicher Hype darum gemacht wird.“
„Ist halt Fußball“, erwidert Sven schlicht.
Ich schnaube. „Aber warum? Andere Weltmeisterschaften sind nicht halb so populär.“
„Ach, das verstehst du nicht. Wenn du dich einfach mitziehen ließest, könntest du es nachvollziehen. Weißt du, Fußball bringt Leute zusammen, Fußball vereint Nationen ...“ Sein Ton wird schwärmerisch. „Fußball-WM ist einfach ... einzigartig, verstehst du?“
Sein Geschwafel erscheint mir eher albern, deshalb schüttele ich verständnislos den Kopf. „Nicht wirklich.“
„Aber du würdest es verstehen, wenn du einfach mitkämst. Probier’s doch mal aus. Ich war auch kein Fußballfan, bevor ich diese einzigartige WM-Stimmung mal hautnah miterlebt habe. Und die kann man nicht beschreiben. Du musst es fühlen, um es nachzuvollziehen.“ Er legt das Handtuch beiseite und knipst die Nachttischlampe aus. Ein schwacher Streifen Mondlicht erhellt sein Gesicht. Seine Augen leuchten.
„Das hast du auch gesagt, als du mich letztes Mal in den Free-Fall-Tower geschleppt hast. Und hinterher war mir den ganzen Tag übel, falls du dich daran noch erinnerst“, meine ich sarkastisch.
Sven lächelt immer noch, er legt sich neben mich und streicht mir einzelne Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seine Finger wandern über meine Wangen, fahren über meine Lippen, dann beugt er sich vor und küsst mich. Ich schließe instinktiv die Augen und werde von dieser wunderbaren Wärme erfüllt, die nur Sven mir bescheren kann. Doch er hat sich so schnell wieder von mir gelöst, dass ich nicht dazu komme, seinen Kuss zu erwidern.
„Aber das ist etwas ganz anderes.“ Er nimmt meine Hände und schiebt seine Finger zwischen meine.
Ich seufze, die Augen immer noch geschlossen. „Mir wird schon bei dem Gedanken an brüllende Menschenmengen schlecht. Und jetzt hör auf, über dieses verdammte Thema zu sprechen. Du weißt, du kriegst mich nicht rum.“
Er schüttelt den Kopf. „Ich werde dich nie verstehen, Cynthia.“
Ich spüre, wie sich sein Gesicht erneut dem meinen nähert und diesmal lässt er sich Zeit. Seine Hände wandern meine Arme hoch, graben sich in meine Haare, und noch während wir uns küssen, lösen sie sich wieder und streifen meinen Rücken hinunter bis zum Saum meines Schlafshirts. Ich öffne die Augen, als er beginnt, meinen Hals zu küssen. Überall dort, wo seine Lippen meine Haut berühren, bleibt eine prickelnde Stelle zurück. Meine Hände ruhen auf seinen Schultern, während seine sich unter meinem Shirt einen Weg zu meinem BH-Verschluss suchen.
Ich schließe die Augen wieder und seufze. „Ich werde dich auch nie verstehen, Sven.“
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4
„Ich kann es immer noch nicht glauben.“ Kiki rutscht unruhig auf meinem Sofa herum und zupft nervös an ihrer Blumenkette. Sie hat mir als „Nervennahrung für später“ Kinderschokolade mitgebracht, von deren Packungen einem seit Neuestem die Nationalspieler als Kinder entgegengrinsen. Nur hat Kiki, wie es mir scheint, Nervennahrung um einiges nötiger als ich. Alle paar Sekunden schnellt ihr Blick auf ihre Uhr und sie wird von Minute zu Minute zappeliger.
Ich lehne mich zurück. Ich bin genervt. Sehr sogar. Seit heute Morgen sind alle Leute, denen ich begegne, furchtbar euphorisch drauf, hetzen herum und können keine Minute stillsitzen. Und alles wegen dieses blöden Eröffnungsspiels. Meine Wohnung ist leider näher am Stadion als Kikis und sie hat schon vor zwei Stunden geklingelt, um hier zu warten, damit ihr Weg nicht so weit ist. Sophie und Rafael haben, wie halb Berlin, vor dem Stadion gecampt, um einen guten Platz zu bekommen, und vor einer guten Stunde hat Sophie völlig aufgekratzt angerufen und in ihr Handy gebrüllt, dass gerade die deutsche Nationalmannschaft in ihrem Bus angekommen ist und sie es tatsächlich geschafft hat, alle auf ihrem Trikot unterschreiben zu lassen. Sophie steht auf die halbe Nationalmannschaft und schwärmt mir andauernd von ihnen vor. Eigentlich schaut sie Fußball nur wegen der Spieler - ich habe mich mit diesen Typen noch nie auseinandergesetzt, kenne sie eigentlich nur flüchtig aus der Werbung oder von diesen vermaledeiten Sammelkarten und finde sie auch nicht attraktiver als andere Männer, nur weil sie Fußballspieler sind.
Das gleiche Trikot wie Sophie, nur ohne Autogramme, trägt Kiki auch gerade, zusammen mit einer schwarz-rot-goldenen Perücke und Make-up in Deutschlandfarben, außerdem baumelt diese verdammte Blumenkette um ihren Hals, an der sie schon die ganze Zeit herumfummelt, als hinge ihr Leben daran. Noch eine halbe Stunde, dann wird sie aufbrechen und sich ins Getümmel stürzen.
Sven ist heute Morgen schon um sieben Uhr abgehauen, um sich mit Jens und Marc vor dem Stadion zu treffen, obwohl das Spiel erst um achtzehn Uhr beginnt. Aber was am meisten nervt: Die Nachbarn neben mir haben wohl keine Karten fürs Stadion bekommen und deshalb bestimmt zwanzig Freunde eingeladen, mit denen sie schon seit zwei Stunden am Durchdrehen sind. Ich kann mich also auf einen ziemlichen Krach gefasst machen, sobald das Spiel beginnt. Hoffentlich verliert Deutschland wenigstens, dann rasten sie nicht so aus und lassen mich in Ruhe.
„Kiki, beruhig dich. Ist doch nur ein Fußballspiel, Mann.“
„Aber was für eins, Cynthia! Sicher, dass du nicht doch mitkommen willst?“ Meine Freundin nimmt ihr Glas und trinkt es in einem Zug leer, dann steht sie auf und tigert im Zimmer umher.
„Ja, ich bin mir sicher. Brauchst du irgendwas zur Beruhigung oder so?“, grinse ich, aber Kiki ist schon auf dem Weg zur Toilette, um zum bestimmt siebzehnten Mal aufs Klo zu rennen.
Mein Gott, bin ich froh, dass ich nicht so fußballverrückt bin. Ich glaube, das ist eher ein Fluch als ein Segen, wenn ich mir die Leute so anschaue. Die Bäckerin heute Morgen hat mir mit zittrigen Händen die falschen Brötchen eingepackt, während sie mich verunsichert mit irgendwelchen Prognosen für das heutige Spiel vollgeschwatzt hat. Was hat man denn bitte für einen Spaß an der WM, wenn man die ganze Zeit zittern muss, ob das deutsche Team weiterkommt? Da ist es doch wesentlich entspannter, wenn einem völlig egal ist, wer Weltmeister wird. Emma sieht das übrigens genau so, sie nimmt sich die Spiele immer auf und schaut sie nur an, wenn Deutschland wirklich gewonnen hat, dann muss sie nicht die ganze Zeit bibbern, aber Hardcore-Fußballfans wie Kiki können sich das nicht leisten.
Diese kommt gerade von der Toilette zurück und nimmt ihre Jacke vom Sofa. „Ich haue dann mal ab“, verkündet sie und rückt die alberne Perücke zurecht. „Mach dir einen schönen Abend.“
„Danke“, entgegne ich und stehe auf, aber Kiki ist schon verschwunden.
Da will man sich einmal freiwillig um seine Bankgeschäfte kümmern und dann hängt das Internet. Genervt haue ich auf die Tastatur, aber der Computer steht still, ich kann nicht mal mehr die Sanduhr bewegen, die sich seit einer guten halben Stunde auf dem Desktop befindet. Seit das Internet wegen Überlastung abgestürzt ist und sich mein Browser erst wiederherstellen musste. Ätzend. Es hockt doch alle Welt im Stadion oder vor dem Fernseher, warum muss man dann noch im Internet nach den Ergebnissen schauen? Das Eröffnungsspiel hat vor einer Viertelstunde begonnen, und weil es in der Wohnung nebenan bis jetzt noch relativ still ist, gehe ich davon aus, dass noch kein Tor gefallen ist. Ist mir auch herzlich egal.
Ich schiebe meinen Laptop zur Seite. Das hat heute keinen Sinn mehr. Wenn sowieso niemand Zeit für mich hat, kann ich auch meinen Stoff für die Uni lernen. Demnächst sind die ersten Prüfungen und ich kam bisher noch nicht dazu, mir irgendetwas anzusehen.
Ich ziehe meine Unitasche heran und nehme die Ordner und Bücher heraus. Gerade habe ich meine Mitschriften aufgeschlagen und will mich daran machen, sie zusammenzufassen, als plötzlich meine Nachbarn und ihre Gäste so laut zu schreien anfangen, dass ich im ersten Moment furchtbar erschrecke. Bis mir kommt, dass wahrscheinlich ein Tor geschossen wurde. Warum sind die Wände nur so dünn? Die Leute da drüben schreien sich die Seele aus dem Leib, tröten lauthals und grölen irgendetwas, sie stampfen mit den Füßen auf den Boden und ich warte ungeduldig, bis sie sich einigermaßen beruhigt haben und der Lärm abebbt. Von draußen dringt Gehupe bis zu mir hoch, aber Verkehrslärm bin ich gewohnt.
Ich habe eine ganze Seite und ein bisschen geschrieben, als das zweite Tor fällt. Es ist inzwischen kurz vor Ende der ersten Halbzeit, wenn ich richtig rechne, und die Deutschen scheinen leider nicht schlechter zu werden, denn ohne Vorwarnung geht drüben wieder der Lärm los und ich lasse mich stöhnend zurücksinken. Offensichtlich sind meine Nachbarn jetzt auch nicht mehr gar so nüchtern, denn die Jubelschreie halten länger an und die Fangesänge sind mindestens doppelt so schief wie beim ersten Tor. Ich hoffe, dass die andere Mannschaft schon drei Tore oder mehr hat, dann würde Deutschland nicht gewinnen und meine Nachbarn würden wenigstens nicht bis spät nachts feiern und Lärm machen. Von Autokorsos und Partys auf der Straße mal abgesehen. Aber wenn ein gegnerisches Tor gefallen wäre, hätte ich das mitbekommen. Dann wären die da drüben sicher in die andere Richtung ausgerastet.
Eine ganze Weile habe ich jetzt meine Ruhe. Ich kann mehrere Seiten zusammenschreiben, nur ab und zu höre ich einzelne Flüche und Schreie oder eine Tröte, aber es stört mich nicht weiter. Zwischendurch merke ich, dass Halbzeitpause ist, denn ich höre Schritte sowohl in der Wohnung neben als auch über mir, Toilettenspülungen rauschen.
Rafael hat erzählt, dass die Arbeiter im Wasserwerk die Spiele anschauen müssen, um in der Halbzeitpause irgendeinen Knopf zu drücken, damit mehr Wasser in die Leitungen gepumpt wird, weil zu dem Zeitpunkt ganz Deutschland aufs Klo rennt. Kiki meinte, sie würde ihr Studium sofort abbrechen, um in einem Wasserwerk zu arbeiten („Ich mein ... hallo? Fußballschauen und dafür noch bezahlt werden, wie geil ist das denn?!“). Mir tun die armen Kerle eher leid.
Nach einer Viertelstunde kehrt wieder Ruhe ein, das Spiel geht weiter. Nicht lange, dann fällt offensichtlich das drei zu null. Ich bin gerade dabei, die verschiedenen Kreuzungsschemata leise vor mich hin zu murmeln, als es wieder laut wird. Ich werde aus meiner Konzentration gerissen und räume verärgert mein Zeug zusammen. Ich glaube kaum, dass es einen Sinn hat, heute zu lernen. So wie es aussieht, wird Deutschland gewinnen und dann wird es so laut sein, dass ich meinen Prüfungsstoff sowieso vergessen kann. Ist das nicht langweilig, wenn ein Spiel so früh entschieden ist?
Ich stehe auf und beschließe, ins Bett zu gehen. Dann muss ich mich später nicht über den Krach ärgern. Wenn ich schlafe, bekomme ich das einfach nicht mit.
Doch leichter gesagt als getan. Nachdem ich mich gerade ausgezogen und ins Bett gelegt habe, wird anscheinend mit Fäusten an die Schlafzimmerwand, die direkt an die Nachbarswohnung angrenzt, getrommelt. Auftakt zum nächsten Jubelgeschrei. Das kann ja wohl nicht wahr sein! Meine Nachbarn haben offenbar beschlossen, dass Deutschlands Sieg nichts mehr im Wege steht, und beginnen schon damit, die Siegerparty zu feiern. Na großartig! Ich schließe die Augen und versuche, den Lärm irgendwie auszublenden, aber es geht nicht. Ich zähle Schäfchen, höre Musik und singe laut mit, aber das Gejubel drüben ist lauter. Ich kann meinen iPod so laut drehen, dass er mich warnt, ich solle meine Ohren schonen ‒ meine Nachbarn übertönen die Musik immer noch. Ich verziehe mich mit meinem Bettzeug in die Küche, das von der Nachbarwohnung am weitesten entfernte Zimmer. Ohne Erfolg.
Irgendwann wird das Spiel ja hoffentlich vorbei und die Fans müde sein. Ich lege mich wieder ins Bett und sage Formeln auf, bis es mir schließlich gewaltig stinkt. Die Party ebbt einfach nicht ab. Entschlossen stehe ich auf, schnappe mir im Gehen meinen Bademantel, werfe ihn über und marschiere zielstrebig auf die Tür nebenan zu. Dort ist der Krach fast unerträglich. Im Hausflur stehen mehrere leere Bierkästen, über die ich fast stolpere, vor der Wohnungstür meiner Nachbarn liegen zwei Pizzakartons. An dem Geruch erkenne ich, dass sie noch gefüllt sein müssen. Kommt davon. Wenn man so laut feiern muss, bekommt man eben nicht mit, wenn der Pizzabote klingelt. Warum der dann so dumm ist und die Pizzen nicht für seine eigene WM-Party wieder mitnimmt? Ich schüttele den Kopf. Wahrscheinlich hat er so viel zu tun, dass es ihm auf das eine oder andere Trinkgeld nicht ankommt.
Dann werden sie wahrscheinlich auch mich nicht hören. Egal. Versuchen kann ich es ja. Entschlossen drücke ich den Klingelknopf, so fest es geht. Nichts passiert. Noch einmal. Wieder nichts. Wütend haue ich mit beiden Fäusten gegen die Tür. Nach drei Versuchen wird die Tür endlich aufgerissen, dröhnende Musik und laute Stimmen kommen mir entgegen wie eine Flutwelle. Automatisch trete ich einen Schritt zurück. Ein junger Mann, vielleicht so alt wie ich, mit beflecktem Trikot, schief sitzender schwarz-rot-goldener Lockenperücke und Bierflasche in der Hand steht mir gegenüber.
„Ahh, Pizza is da!“, lallt er und bricht in schallendes Gelächter aus. „Kommsu auch rein? Willsu mitfeiern?“
Ich kann nichts erwidern, denn in dem Moment springt ein mindestens genauso betrunkenes Mädchen, ich schätze es auf das gleiche Alter, von hinten auf den Rücken des Mannes und kreischt: „Deutschland ist Weltmeister!“
„Tut mir wirklich leid, aber ich finde den Lärm, den Sie veranstalten, nicht angemessen, wenn Sie verstehen, was ich meine“, versuche ich es, obwohl ich weiß, dass diese Menschen ganz bestimmt nicht kapieren, was ich meine.
Das Paar starrt mich einen Moment lang verständnislos an, dann kichert das Mädchen hysterisch, lässt sich vom Rücken des Mannes gleiten, fährt sich durch die langen blonden Haare und hält mir seine Bierflasche hin. „Komm rein und schau den Rest vom Spiel mit uns an.“
Ich schüttele verärgert den Kopf. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie etwas zu laut sind. Ich würde gerne schlafen und ...“
Bevor ich meinen Satz zu Ende führen kann, drängelt sich Luisa, meine Nachbarin, die das Ganze hier organisiert hat, zwischen den Menschen hindurch. Sie ist immerhin schon Mitte dreißig und betrinkt sich nicht mehr ganz so haltlos. „Cynthia?“ Auch sie trägt ein Trikot und hat auf den Wangen Klebetatoos in Deutschlandfarben, etwas genervt schiebt sie die albern kichernde, junge Frau zur Seite. „Ist etwas?“
Ich komme mir unter ihrem besorgten Blick vor wie ein kleines Mädchen, das alleine daheim ist und die Anweisung bekommen hat, wenn es unter dem Bett spuke, sich an die liebe, nette Nachbarin zu wenden, die sicherlich helfen werde, die Gespenster zu vertreiben.
„Es ist sehr laut“, meine ich verärgert. „Ich würde gerne schlafen und ... ich habe morgen eine wichtige Prüfung“, füge ich flunkernd hinzu.
Luisa runzelt die Stirn. „Oh, das ... das tut mir wirklich leid, aber ...“ Sie sieht etwas ratlos aus. Als wolle sie sagen: „Ist ja schön und gut, dass du morgen deine Prüfung verkackst, aber wir wollen hier nun mal eine WM-Party feiern.“ Fehlt nur noch das Schulterzucken. „Muss halt sein.“
Ich schnaube entrüstet, bevor mir einfällt, dass sie gar nichts dergleichen gesagt hat.
Luisa sucht sichtlich bemüht nach irgendetwas Zuversichtlichem, das sie mir mitteilen kann. „Vielleicht kann ich meinen Gästen sagen, dass sie etwas leiser ...“
Von wegen. Plötzlich schwillt der Lärm wieder an und ich denke mir, dass die Gegner der Deutschen ja wohl nicht so blöd sein und noch ein Tor reinlassen werden, aber irgendwer brüllt: „Vier zu null!“, und mir wird klar, dass das Spiel vorbei ist, die Party allerdings gerade erst richtig anfängt. Schließlich muss man jetzt den Sieg feiern. Autohupen dringen von draußen herein. Irgendwer schmeißt eine Luftschlange in Deutschlandfarben direkt vor meine Füße und im Hintergrund sehe ich vier oder fünf trikotbekleidete Typen in einer Polonaise durch den Flur trampeln, während sie in einer völlig falschen Tonlage die deutsche Nationalhymne grölen.
Ich sehe ein, dass es wirklich keinen Zweck hat. „Ist okay. Vielleicht werde ich jetzt leichter einschlafen.“ Ich ringe mir ein falsches Lächeln ab. „Jetzt wo die größte Aufregung vorbei ist.“ Ich drehe mich auf dem Absatz um und gehe zurück zu meiner Tür.
„Gute Nacht!“, ruft Luisa mir noch hinterher, bevor sie die Pizzakartons reinholt und die Tür schließt.
Der Lärm wird augenblicklich etwas gedämpft, aber nicht lange und er kommt mir wieder genauso laut vor. Langsam beginnt mein Kopf zu dröhnen. Ich lehne mich entnervt und verzweifelt gegen die Wohnungstür. Diese WM macht mich jetzt schon krank.