Kitabı oku: «App to Date», sayfa 2

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SONNTAG

Der Regen hatte den Himmel reingewaschen, und Jenny sog tief die Luft ein, als sie am Morgen auf den kleinen Balkon trat. Es roch eindeutig nach Frühling. Aus den Bäumen unter ihr ertönte Vogelgezwitscher, und die Strahlen der Sonne machten einen zaghaften Versuch, Wärme zu verbreiten. Aber die Luft war noch eisig, deshalb kehrte Jenny schnell in ihr Zimmer zurück und schloss die Balkontür wieder, bevor sie ins Bad ging.

Mit feuchten Haaren setzte sie sich an den Frühstückstisch und löffelte ihren Obstsalat, während ihr Laptop hochfuhr. Statt einer Sonntagszeitung hatte sie ein Abonnement der Online-Ausgabe des Rheinischen Boten, und rasch überflog sie die Überschriften der Artikel. An der einen oder anderen Schlagzeile blieb ihr Blick hängen: Der Umbau des Hofgartens war fast abgeschlossen, aber die geplante Eröffnung des neuen Tunnels musste erneut verschoben werden. Ein Interview mit dem Bürgermeister klammerte dieses heiße Thema völlig aus, logisch, denn in einigen Monaten wollte er sich erneut zur Wahl stellen. Für den Nachmittag war eine Großdemonstration von Gegnern der aktuellen Flüchtlingspolitik der Kanzlerin angekündigt; damit war klar, dass sie heute um die Innenstadt einen großen Bogen machen würde. Dafür öffnete das Kaffeehaus im Volksgarten seine Tore, und rasch rief sie die Wetterseite auf. Das Niederschlagsradar zeigte für die nächsten Stunden keine einzige Wolke, und damit stand ihr Plan. Sie würde einen langen Spaziergang im Volksgarten machen und die Kamera ihres neuen Handys ausprobieren.

Dick vermummt verließ Jenny wenig später das Haus. Der Parka reichte ihr fast bis zu den Knien, und Wanderstiefel schützten ihre Füße vor den spiegelnden Pfützen auf den Wegen. Der Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht und biss scharf und kalt in ihre Wangen. Sie zog sich die Mütze über die Ohren und vergrub die Hände in den Manteltaschen.

Zwischen den Bäumen des Parks war der Wind nur noch ein Flüstern in den Baumkronen, das von den Vögeln übertönt wurde. Am Fuß der alten Kastanien wuchsen dicke Nester von Schneeglöckchen, und Jenny zog das neue Handy heraus.

Nach ein paar Fotos, die sie aus unterschiedlichen Perspektiven machte, wurden ihre Finger kalt. Sie schob das Telefon in die Innentasche ihres Parkas und ging mit schnellen Schritten weiter, bis ihr wieder warm genug war. Dann hielt sie erneut an und suchte nach Motiven.

Erst fotografierte sie nur im Automatik-Modus und war überrascht, wie gut die Smartphone-Kamera das Zusammenspiel von Belichtung und Beleuchtung beherrschte. Sie probierte die Filtergalerie aus und vergnügte sich mit verschiedenen Schwarz-weiß-Effekten, bis ein Rotkehlchen auf sie aufmerksam wurde und neugierig näher hüpfte. Sie schaltete in den Sport-Modus und zoomte das kleine Tier heran. Die Kamera hatte nur ein Digitalzoom, trotzdem war das Foto gestochen scharf. Sie war begeistert.

Irgendwann verlor der Vogel die Geduld mit ihr und flatterte davon. Jenny war inzwischen am nördlichen Ende der Parkanlage angelangt. Der Wind hatte sich gelegt, und eine Bank stand einladend im Sonnenschein. Die Sitzfläche war trotzdem eiskalt. Sie zog den Parka nach unten und setzte sich so, dass der wattierte Stoff ihren Po vor dem kalten Holz schützte.

Das Display des neuen Telefons war so hell, dass sie ihre Fotos sogar im Sonnenschein betrachten konnte. Sie rief das zuletzt aufgenommene Bild des Rotkehlchens auf und vergrößerte es. Sie war beeindruckt; selbst die feinen Details des Gefieders waren deutlich zu erkennen.

Als Jenny mit klammen Fingern durch die App-Galerie wischte, fiel ihr Blick auf das Icon von App2Date. Sie hatte schon wieder verdrängt, dass Marc ihr die App installiert hatte. Kurz rang sie mit ihrem Gewissen, doch die Neugier siegte, und sie rief das Programm auf.

Es dauerte einen Augenblick, in dem sich das Logo drehte – ihre neuesten Aktivitäten wurden gescannt. Jenny wusste, dass auch die Fotos, die sie gerade aufgenommen hatte, Teil der Auswertung waren: Die Bilder von den Blumen und dem Rotkehlchen zog der Algorithmus genauso ins Kalkül wie die Tatsache, dass sie mit ihrem Telefon sonst nicht viel gemacht hatte.

Das rote Eichhörnchen erschien auf dem Display, und Jenny tippte es an. Die Kartenansicht erschien. Der Park, in dem sie sich befand, war als gelbgrüne Fläche dargestellt, die von gepunkteten Linien, den Wegen, durchzogen war. Sie zoomte in die Karte hinein und fand sogar die Bank, auf der sie saß; ein blauer Pin markierte ihre Position.

In dem Kartenausschnitt waren kaum Punkte zu sehen. Die App förderte direkte Kontakte, weswegen andere Dater nur in einem Umkreis von eineinhalb Kilometern angezeigt wurden. Um Details wie den Avatar zu sehen und ein Treffen zu vereinbaren, musste man sich sogar auf 300 Meter annähern. Das sollte verhindern, dass sich ein enttäuschter Dater auf die Suche nach seinem Date machte.

Jenny musterte das Display und verzog das Gesicht. Außerhalb des Parks waren vereinzelte rote und gelbe Punkte zu erkennen. Vielleicht sähe das Bild anders aus, wenn sie nicht Liebe, sondern Freundschaft gewählt hätte, denn die Parameter für Freundschaft waren andere. Oder gar Sex, denn um guten Sex zu haben, brauchte es nur wenige Gemeinsamkeiten.

Sie schüttelte den Kopf und hatte den Finger schon erhoben, um die App zu schließen, als am äußersten Rand des Kartenausschnitts ein grüner Punkt aufblitzte und sofort wieder verschwand.

Sie hob die Brauen. Da war er wieder, und genauso schnell war er wieder weg.

Sie schaute sich um und orientierte sich. Er musste irgendwo in den Straßen jenseits des Parks unterwegs sein und schien sich genau am Rand des Anzeigebereichs aufzuhalten. Sie erhob sich und ging langsam in Richtung Westen, die Augen auf das Display gerichtet. Da war er wieder!

Der Punkt bewegte sich langsam nach Norden, weg vom Park. Sie beschleunigte ihre Schritte. Der Punkt hatte angehalten. Wartete er auf sie? Nein, jetzt setzte er sich wieder in Bewegung. An der nächsten Straßenkreuzung bog er ab und kam ihr entgegen. Sie waren noch ungefähr 800 Meter voneinander entfernt, und unwillkürlich wurde sie schneller.

Himmel, was tat sie da eigentlich?

Sie blieb stehen und versuchte, ihr Verhalten zu analysieren. Gegen das Jagdfieber war offenbar auch sie nicht immun. Dieser Aspekt ihrer Arbeit war ihr völlig neu, denn emotionales Engagement war in ihrem Job verpönt. Und trotzdem lief sie jetzt durch den Park und verfolgte diesen grünen Punkt. War es das, was die Menschen antrieb? War das der Grund, warum die App binnen weniger Monate solch einen Hype ausgelöst hatte?

Der grüne Punkt war inzwischen so nahe, dass sie ihn anwählen konnte. Grasgrüner Dobermann. Ein Hund? Sie schüttelte den Kopf. In diesem Augenblick vibrierte das Handy in ihrer Hand. Ein Popup öffnete sich, und die Dating-Anfrage erschien. Sie schloss die Augen, ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sollte sie es tun oder nicht?

Ihr Zeigefinger schwebte über dem OK-Button, der Daumen lag auf dem Ausschaltknopf. Es war eine Mischung aus Trotz und Neugierde, wie sie sich eingestand, als sie das Display berührte.

Jakob betrat das Lokal und sah sich suchend um. Feuerrotes Eichhörnchen. Er hatte bis eben krampfhaft vermieden, sich zu genaue Vorstellungen von der Person hinter diesem Avatar zu machen. Zu oft war er inzwischen enttäuscht worden. Aber nun war er in ihrer Hand.

Normalerweise versuchte er, bei solchen Treffen der Erste zu sein. Derjenige, der zuerst da war und die Tür des Lokals im Auge behielt, war eindeutig im Vorteil, denn er konnte meist erkennen, wenn sich das Date näherte. Aber wer als Zweiter kam, hatte diese Möglichkeit nicht und musste raten, wer von den Gästen sein Date war.

Er blieb stehen und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Worauf bezog sich das rote Eichhörnchen? Auf die Haarfarbe? Die Kleidung? Die – Gott bewahre – Schneidezähne? Oder war sie schon abgehauen, als er zur Tür hereingekommen war?

Er hatte das selbst schon gemacht. Tintenblaue Brillenschlange war keine in Blau gekleidete Brillenträgerin gewesen, sondern eine fette Punkerin mit blauen Haaren und einem Tribal-Tattoo um das linke Auge. Er hatte sich nicht zu erkennen gegeben, sondern auf der Toilette abgewartet, bis sie aufgab. Das hatte ziemlich lange gedauert, und er fand es gar nicht witzig.

Der kleine Tisch in der hintersten Ecke weckte seine Aufmerksamkeit. Eine junge Frau nahm ihre Mütze ab, und ihre lockigen roten Haare leuchteten wie ein Signalfeuer quer durch den Gastraum. Er atmete tief durch und setzte sich in Bewegung. Der Weg schien ihm mit jedem Schritt länger zu werden. Sie hatte ihn bemerkt, und sie lief bei seinem Anblick nicht weg, sondern schaute ihm entgegen.

Mit seinem Aussehen war er im Allgemeinen auch zufrieden. Als Jugendlicher war er klein und dünn gewesen, das hatte er gehasst, doch seit er begonnen hatte, regelmäßig ins Fitnessstudio zu gehen, hatte er an Schultern und Brustkorb zugelegt. Er war noch immer nicht sehr groß, aber damit hatte er sich abgefunden. Und wenn er seine Haare etwas länger trug, so wie jetzt, kringelten sie sich im Nacken zu braunen Locken, was die Mädchen zu mögen schienen.

Ihr breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln, Sommersprossen tanzten, und er musste unwillkürlich an Pippi Langstrumpf denken. Er trat an ihren Tisch, sie stand auf und reichte ihm die Hand.

«Hallo, ich heiße Jenny«, sagte sie.

«Jakob«, antwortete er und erwiderte ihren Händedruck.

Sie war klein, fast einen Kopf kleiner als er, und ihre Hand verschwand in seiner. Ihre Finger waren kühl, aber sie fühlten sich perfekt an. Am liebsten hätte er sie gar nicht mehr losgelassen, doch sie entzog sie ihm, als sie sich wieder setzte.

Er tastete nach einem Stuhl und ließ sich ihr gegenüber nieder. Er war sprachlos.

Jenny musterte ihr Gegenüber unauffällig. Er sah nett aus. Braunes Haar, lockig und etwas zu lang, ein zauseliges Bärtchen auf Oberlippe und Kinn, wie es jetzt viele trugen, braune Augen, nette Augen, ein nettes Lächeln. Sympathisch. Aber er schien stumm zu sein, sah sie einfach nur an.

»Bist du öfter hier?«, fragte sie, um das Schweigen zu brechen.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Du?«

Sie nickte. »Ich gehe oft hier spazieren.«

Genau genommen war sie noch nie im Bootshaus gewesen, hatte bisher immer nur draußen auf der hölzernen Terrasse gesessen, die sich zum Volksgartensee hin öffnete, aber da hatten auch andere Temperaturen geherrscht.

»Was meinst du, hat uns zusammengebracht?« Sie biss sich auf die Unterlippe und ärgerte sich über sich selbst. Das war eine der Standardfragen, wenn sie die App testete. Doch Jakob schien sich nicht daran zu stören.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte er und hob die Schultern. »Was glaubst du denn?«

Jenny überlegte fieberhaft. Für ihre Testprofile hatte sie eine Legende parat, hatte einen Katalog von Fragen und ein klar umrissenes Gesprächsziel. Jetzt ging es auf einmal um ihre eigene Person, und darauf war sie nicht vorbereitet.

»Ich fotografiere gern«, sagte sie schließlich. »Die App sieht wahrscheinlich, wie viele Fotos ich gespeichert habe.«

Jakob nickte. »Ganz bestimmt sogar. Ich fotografiere nämlich auch, aber nicht mit dem Handy.«

Jenny strahlte ihn an. »Das ist ja cool!«, sagte sie und meinte es auch so.

»Manchmal verkaufe ich sogar ein Bild an eine Zeitung, und das weiß die App sicher auch.«

»Da kann ich nicht mithalten. Ich knipse nur mit dem Handy.«

»Das macht doch nichts. Es kommt aufs Ergebnis an und nicht auf das Werkzeug.«

Jenny nickte. Dass er nicht mit seiner Ausrüstung protzte, gefiel ihr. »Gibt es etwas, das du besonders gern fotografierst?« Mist, es klang schon wieder wie ein Interview, aber Jakob gab bereitwillig Auskunft.

»Ich mache am liebsten Streetfotografie. Ich fotografiere Menschen auf der Straße, Fahrräder, Tauben, Mülleimer. Ich versuche, das Besondere im Alltäglichen zu zeigen.«

»Das klingt schön.«

Jakob sagte nichts, sondern schaute sie schon wieder nur an.

»Was ist los? Warum siehst du mich so an?«

Er riss die Augen auf und sah weg. »Entschuldige bitte. Es ist …« Er wurde rot und blinzelte. »Du bist umwerfend.«

Jenny schluckte, eine Hitzewelle fuhr durch ihre Brust. »Du kennst mich doch gar nicht.«

»Nein. Ich weiß. Entschuldige. Es war dumm von mir.« Er schlug die Augen nieder und hielt sie auf die Tischplatte gerichtet, bis der Kellner zwei Kaffee auf den Tisch stellte.

»Danke«, sagte er, und Jenny murmelte etwas Zustimmendes.

Jakob griff gleichzeitig mit ihr nach einer der beiden Tassen, und ihre Finger berührten sich.

»Entschuldige«, sagten sie beide wie aus einem Mund und griffen nach der anderen Tasse. Jenny kicherte, und Jakob fasste nach ihrer Hand. Sie hielt den Atem an.

»Feuerrotes Eichhörnchen.« Er fuhr mit der Fingerspitze über ihren Handrücken. »Hat das etwas mit der Haarfarbe zu tun?«

Nein, hatte es ziemlich sicher nicht. »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Jenny. Sie sollte ihm ihre Hand entziehen, aber es fühlte sich einfach gut an.

Er tupfte auf die Sommersprossen, die auch hier ihre Haut sprenkelten. »Eigentlich bist du gepunktet«, stellte er fest.

Jenny runzelte die Stirn und zog die Hand zurück. »Machst du dich über mich lustig?«, fragte sie.

»Aber nein, ich finde sie wunderhübsch. Jede Einzelne von ihnen.«

Jetzt musste sie lachen. »Du hast keine Ahnung, was du da sagst.«

»Wahrscheinlich nicht. Aber ich könnte es herausfinden.«

Seine braunen Augen sahen sie bittend an, und Jenny versank darin wie in einem Meer von Schokolade. Jetzt war sie sprachlos.

Jakob hob langsam die Hand. Seine Finger berührten ihr Haar, spielten mit den Locken, kitzelten sie am Ohr. Sie fuhr zusammen, und er nahm die Hand wieder weg.

Sie griff nach seinen Fingern und hielt sie fest. Ihr Herz klopfte, und sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.

»Langsam, Jakob«, flüsterte sie. »Ich habe das noch nie gemacht.«

»Du hast noch nie einen Mann gedatet?« In seinen Augen funkelten goldene Sterne.

»Doch, natürlich. Aber mir hat noch nie eine App gesagt, dass er …«

»… dass er perfekt zu dir passt?«, vervollständigte Jakob ihren Satz. »Zu mir auch nicht.«

Seine Augen ruckten zur Seite. Er log.

Jenny ließ seine Hand los und lehnte sich zurück.

»Nein, das stimmt nicht«, sprach er weiter. »Ich habe schon ein paar Grüne gedatet, aber es war noch nie so wie mit dir.« Er sah sie geradewegs an. Jetzt log er nicht.

Jenny rührte in ihrem Kaffee, riss ein Zuckertütchen auf und kippte es hinein, obwohl sie süßen Kaffee gar nicht mochte. Rührte weiter, alles nur, um ihre Hände beschäftigt zu halten.

»Und jetzt?«, fragte sie schließlich. »Wie geht es jetzt weiter?«

»Wir lernen uns besser kennen«, schlug Jakob vor. »Natürlich nur, wenn du willst.«

Er drängte sie nicht, das gefiel ihr. Langsam nickte sie.

Jakob nahm einen Schluck von seinem Kaffee, der inzwischen kalt geworden war, und verzog das Gesicht. Er drehte sich um, sah zum Eingang. Wo blieb sie?

Die Toiletten waren auf der Rückseite des Hauses und nur von außen zu erreichen, was wohl dem sommerlichen Terrassenbetrieb geschuldet war. Vor ein paar Minuten hatte Jenny mit den Worten »Ich bin gleich wieder da« ihren Parka angezogen und das Lokal verlassen.

Er schaute auf die Uhr. Zehn Minuten. Ihre grüne Wollmütze lag noch auf dem Tisch, er nahm sie in die Hand und roch daran. Glaubte zu riechen, wie sich ihre Haare angefühlt hatten, sah ihre Sommersprossen vor sich, als er die Augen schloss.

Nach einer halben Stunde gab er auf. Er bezahlte die beiden Kaffee und trat aus der Tür, umrundete das Gebäude und steckte den Kopf in die Damentoilette. Alles war still, der kleine Vorraum war leer, die Tür zur Kabine halb geöffnet. Ihr Name lag ihm auf der Zunge, aber er verkniff sich den Ruf und wandte sich ab. Er tastete nach der Mütze in seiner Jackentasche. Beim Gehen zerknüllte er die weiche Wolle.

Es hatte wieder zu regnen begonnen. Nässe durchdrang seine Schuhe, als er eine Wiese überquerte, er achtete nicht darauf und ignorierte auch das Wasser, das ihm von oben in den Kragen rann. Ohne genaues Ziel lief er einfach weiter. Der Park war menschenleer, nur ein einsamer Jogger zog in einiger Entfernung seine Runde, die Kapuze seines Shirts tief ins Gesicht gezogen. Ob er Jenny gesehen hatte?

Er blieb stehen und hielt sein Gesicht nach oben, die Tropfen fielen auf seine geschlossenen Lider und rannen über sein Gesicht. Er wusste nicht, wie lange er so stand. Als er die Augen öffnete, war der Jogger herangekommen. Seine rote Jacke leuchtete wie ein Fanal. Feuerrotes Eichhörnchen.

Jakob riss das Handy aus der Tasche und rief die App auf, die die ganze Zeit im Hintergrund aktiv gewesen war. Mit quälender Langsamkeit baute sich die Kartenansicht auf, das Display war nass, bevor die ersten Punkte erschienen. Er wischte es ungeduldig an der Hose ab. Nur Gelbe und Rote. Nein, da unten im Südpark war ein Grüner, fast hätte er ihn vor dem grünen Hintergrund der Karte übersehen. Er tippte ihn an, doch nichts passierte.

»Verdammte Scheiße«, entfuhr es Jakob. »Wie dämlich kann man eigentlich sein?«

Sie hatten den Handshake vergessen. Ohne Handshake hatte er keine Chance, sie wiederzufinden. Außer … Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte den gekiesten Weg entlang, machte sich nicht die Mühe, den Pfützen auszuweichen. Seine Schuhe waren ohnehin schon durchweicht und verursachten bei jedem Schritt quatschende Geräusche. Er folgte dem Weg in einem großen Bogen um den Friedhof herum und an einer Kleingartenanlage vorbei. Das Tempo hielt er nicht lange durch, und bald verfiel er in einen gleichmäßigen Trab, so wie sonst auf dem Laufband. Er blieb erst stehen, als er zwischen den Bäumen den Deichsee schimmern sah.

Ein Blick auf das Handy zeigte – nichts. Die einzigen Punkte befanden sich weit im Norden. Offenbar fand im Alten Stahlwerk eine Veranstaltung statt, denn hier war eine ganze Wolke von Datern zu erkennen. Im Westen lag das Gelände des Uni-Klinikums, hier tummelten sich ebenfalls einige, Rote und Gelbe, aber nicht ein einziger Grüner. In und um den Park herum war alles leer, kein Wunder bei dem Wetter. Er stützte die Hände auf die Rückenlehne einer Parkbank und wartete, bis er wieder zu Atem kam.

Seine bisherigen Dates kamen ihm in den Sinn. Das Hellgraue Mauswiesel, die Lachsrosa Amsel und die Libelle, die Farbe hatte er vergessen. Mit dem Wiesel hatte er sich sogar ein paar Mal getroffen, Jasmin war eine hübsche Fitnesstrainerin, aber zu mehr als ein paar gemeinsam verbrachten Nächten hatte es nicht gereicht.

Im Grunde suchte er ja gar keine feste Partnerin. Anfangs hatte er deshalb in der App auch »Sex« gewählt. Da war die Auswahl zwar groß, aber entsprach nicht wirklich dem, was er sich vorstellte. Durch die Wahl von »Liebe« lernte er tatsächlich nette Frauen kennen, und wenn sich daraus mehr ergab, sollte es ihm recht sein. Mehr traute er der App nicht zu. Bis heute. Bis er Jenny getroffen hatte.

Die anfahrende Straßenbahn warf Jenny regelrecht in ihren Sitz. Sie schnappte nach Luft, und das Herz klopfte ihr bis in die Ohren. Nur vom Laufen, redete sie sich ein. Sie war nichts mehr gewohnt, was sollte es sonst sein, wenn der kurze Sprint zur Haltestelle sie so außer Atem brachte.

Sie zog das goldene Handy aus der Tasche und starrte auf den Bildschirm. Da war er, der grüne Punkt, genau über dem Bootshaus. Sie tippte ihn an. Grasgrüner Dobermann. Nur einen Moment lang zögerte sie, dann beendete sie die App und schaltete das Handy aus. Es fühlte sich an, als schaltete sie ihr Herz aus.

Ob sie auch so reagiert hätte, wenn sie Jakob ohne Hilfe der App kennengelernt hätte? Wahrscheinlich nicht, gestand sie sich ein. Zwischen ihnen war etwas, das hatte sie ganz deutlich gespürt. Je länger sie sich unterhalten hatten, umso mehr hatte es sich angefühlt, als ob sie sich schon seit Jahren kannten. Jeden Satz, den er sagte, schien sie schon einmal gehört zu haben, jedes Wort aus seinem Mund klang vertraut. Sie hatte eine Art von Nähe empfunden, die sie selbst Menschen, die ihr viel näher standen als er, nicht entgegenbrachte. Etwas ganz Besonderes war das gewesen. Und trotzdem.

Als er gefragt hatte, was sie beruflich machte, war es, als erwachte sie aus einem Traum.

»Ich arbeite an der Uni«, brachte sie noch hervor und sprang auf, bevor er nachfragen konnte. »Ich komme gleich wieder«, sagte sie, warf ihre Jacke über und flüchtete zur Toilette. Da saß sie dann auf der geschlossenen Brille in dem ungeheizten Raum und ihre Gedanken rasten im Kreis.

Was sollte sie tun? Wie würde er reagieren, wenn er erfuhr, dass sie an der App arbeitete? Würde er ihr glauben, dass sie heute privat unterwegs war und nicht wie sonst, um irgendeinen Testlauf zu machen?

Abgesehen davon, dass sie mit ihm gar nicht darüber sprechen durfte, was würde er von ihr denken? Sie analysierte, kategorisierte und durchleuchtete Menschen, damit die App sie aufgrund der gewonnenen Daten zusammenbringen konnte. Und im Anschluss analysierte sie auch diese Dates, um die App immer weiter zu verbessern.

Würde er sich nicht – sie suchte in Gedanken nach dem Wort – benutzt vorkommen? Denn das war es doch, was sie tat: Sie benutzte Menschen, um die App zu füttern, damit die Menschen sie immer besser benutzen konnten. Nicht die besten Voraussetzungen für eine Beziehung.

Jetzt erst fiel ihr auf, dass die Straßenbahn in die falsche Richtung fuhr. Sie war in die erstbeste Bahn gesprungen, als sie die Haltestelle erreichte, ohne darauf zu achten, wohin sie sie brachte. Sie schaute aus dem Fenster. Erst erkannte sie nichts, dann sah sie das Schild eines großen Elektrofachmarkts. Sie war in Flingern.

Zwei Haltestellen weiter stieg sie aus und nahm die U-Bahn nach Hause. Erst da fiel ihr auf, dass ihre Mütze fehlte.

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