Kitabı oku: «Pater Noster», sayfa 2
Er hielt den Rheopharm-Brief hoch und wies mit einem Finger anklagend auf Carl.
»Ich …« Carl kam nicht zu Wort.
»Du hast hinter meinem Rücken an dieser Ausschreibung teilgenommen! Du wusstest ganz genau, dass ich dem niemals zugestimmt hätte.«
Carl nickte. Es abzustreiten hatte keinen Sinn mehr. »Es ist nur ein kleiner Auftrag, aber er wäre eine einmalige Chance …«
Boris unterbrach ihn mit erhobener Stimme. »Eine einmalige Chance, sich an einen dreckigen Pharmakonzern zu verkaufen! Ein Konzern, der Tierversuche macht, der in Dritte-Welt-Ländern produziert und sich einen Teufel um die Umwelt schert. Und dafür wirfst du alle unsere Prinzipien über den Haufen?«
»Unsere Prinzipien?« Carl wurde jetzt ebenfalls laut. »Das sind deine Prinzipien, diese unausgegorene Öko-Kacke, auf der du ständig herumreitest, und nicht meine oder gar die der Agentur! Du weißt ganz genau, dass ich immer auf dich Rücksicht nehme und dir entgegenkomme, wo es nur geht, aber du kannst nicht alles ablehnen, womit wir unser Geld verdienen!«
»Ach, ums Geld geht es dem werten Herrn? Verdienst du nicht schon genug? Bekommst du den Hals nicht mehr voll?« Boris’ Stimme wurde schrill und er schnappte nach Luft. »Selbst du, Carl, kannst nicht mit zwei schnellen Autos gleichzeitig fahren, und mehr als ein Haus braucht auch kein Mensch!«
Carl schüttelte zornig den Kopf. »Es geht überhaupt nicht ums Geld, Boris. Aber du weißt ganz genau, dass wir uns nicht da halten können, wo wir jetzt sind, wenn wir nicht ständig nach vorne schauen und uns weiterentwickeln. Wir können es uns einfach nicht leisten, so ein prestigeträchtiges Projekt nicht wahrzunehmen. Sonst gehen wir in der Masse unter, und das willst du genauso wenig wie ich.«
Carl hatte sich in Fahrt geredet. »Ich lasse dir gerne deine Prinzipien und deinen Öko-Trip, du kannst leben, wie du willst. Aber bitte halte das aus unserer Arbeit raus, das funktioniert nämlich nicht.«
»Das werde ich bestimmt nicht tun. Mein Öko-Trip, wie du es nennst, ist nämlich eine Grundeinstellung, die mein Leben ausmacht, und nicht ein Mäntelchen, das ich an der Bürotür abgebe.«
Die Stimme seines Partners kippte bei den letzten Worten.
»Aber Boris …«
»Nichts mit aber Boris. Solange du deine Weibergeschichten nicht aus der Arbeit heraushältst, brauchst du mir so überhaupt nicht zu kommen!«
Boris’ Gesicht war rot angelaufen und er fuchtelte mit dem Brief in der Luft herum. Seine dünnen blonden Haare standen in alle Richtungen von seinem Kopf ab.
»Du wirst diesen Auftrag nicht annehmen, hörst du?«, kreischte er. »Keinen Handschlag wird unsere Agentur für diese Firma tun, hast du mich verstanden?«
Carl atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. »Das entscheiden wir morgen. Noch haben wir den Auftrag ja nicht. Ich werde morgen mit Klaus zu der Präsentation gehen und …« Er hob warnend den Finger und deutete auf Boris, der ihm schon wieder ins Wort fallen wollte. »Nein, du hörst jetzt mir zu. Wir besprechen das morgen, sobald wir wissen, wer die Ausschreibung gewonnen hat. Und jetzt raus hier, ich habe zu arbeiten.«
Carl öffnete auffordernd die Tür und Boris stürmte wutschnaubend aus dem Zimmer. Eine Tür knallte, und Carl erkannte an dem scheppernden Geräusch, dass Boris das Gebäude durch den Hinterausgang verlassen hatte.
Draußen bei den Grafikern herrschte Totenstille. Alle Fenster zum Hof standen weit offen. Ihre Mitarbeiter hatten jedes Wort mitbekommen.
Stefan saß an dem langen Tisch in seiner Wohnung, der ihm gleichzeitig als Ess- und Arbeitstisch diente. An dem Ende, das zu der kleinen Küche zeigte, waren die Papierstapel zur Seite geschoben und es war für eine Person gedeckt. Das leise Piepen des Heißluftherds ertönte. Er legte den Brief zur Seite, den er inzwischen so oft gelesen hatte, dass er ihn auswendig herunterbeten konnte.
Mit zwei Topflappen holte er das Fertiggericht aus dem Ofen, eine billige Nudelpfanne vom Discounter, und stellte es auf den Tisch. Während das Essen etwas abkühlte, las er den Brief ein weiteres Mal durch.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben sich an der Ausschreibung zu unserer Werbekampagne »Ein Schmerzmittel für Kinder und Jugendliche« beteiligt. Wir dürfen Ihnen hiermit mitteilen, dass Sie zu den drei Bewerbern in der Endausscheidung gehören.
Wir freuen uns, Sie am Freitag, dem 19. Juni, um 13.00 Uhr zur Bekanntgabe des Gewinners in unseren Räumlichkeiten zu begrüßen.
Hochachtungsvoll
Marianne Leidenberg
Projektleitung Rheopharm
Dieser Auftrag könnte der entscheidende Wendepunkt sein, der langersehnte Anschub, den seine Ein-Mann-Agentur so dringend brauchte. Er hatte natürlich gewusst, dass es nicht einfach würde, als er sich mit seinem eigenen kleinen Grafikbüro selbstständig machte. Ihm war auch klar, dass er Geduld brauchte und es eben seine Zeit dauerte, bis er sich einen Namen gemacht hatte. Bis er durch Mundpropaganda und ein paar coole Aufträge so bekannt war, dass irgendwann jemand genau ihn und nur ihn haben wollte.
Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass er das allein durchziehen musste. Für ihn war die ganze Zeit klar gewesen, dass er die Arbeit und den Erfolg mit einer Frau teilen würde, mit seiner Frau, seiner Debbie. Sie war sein Spiegelbild, die zweite Hälfte seiner Kreativität, sein ständiger Ansporn. Seit Debbie ihn verlassen hatte, verlassen musste, wie sie ihm messerscharf dargelegt hatte, fehlte ihm ein wichtiges Stück seiner Inspiration. Nur langsam fand er sich in sein Schicksal. Noch immer war er weit entfernt von dem überbordenden Ideenreichtum, der seine Arbeit früher geprägt hatte. Er vermisste ihre Diskussionen und den fachlichen Austausch. Er vermisste die Streitereien um winzige Details, das ständige Reiben an Ecken und Kanten, bis alles, was sie gemeinsam taten, rund und perfekt war. Er vermisste sie jeden Morgen, wenn er allein aufwachte, jeden Mittag, wenn er allein mit dem Hund spazieren ging, und jeden Abend, wenn er sich müde und allein in sein leeres Bett legte.
Ob sie jetzt wohl glücklich war? Ihm war nicht bewusst gewesen, wie sehr sich Debbie in ihrer Zweisamkeit beengt gefühlt hatte. Er selbst war immer schon ein Einzelgänger gewesen, mit vielen oberflächlichem Bekanntschaften, aber kaum echten Freunden. Debbie war nicht nur seine Frau, sondern auch seine beste Freundin gewesen. Aber ihr war diese Ausschließlichkeit am Ende zu viel geworden. Seit Debbie mit dem Studium fertig war, hatte es kaum noch Kontakte mit anderen gegeben. Ihr fehlte die Inspiration von außen, zumindest hatte sie das so gesagt. Er hatte sie immer als festen Bestandteil seiner kleinen Agentur gesehen, aber plötzlich wollte sie neue Erfahrungen sammeln und sich verändern. »Sich weiterentwickeln« hatte sie es genannt und sich für ein Praktikum bei der Konkurrenz beworben, bevor er ihre Zusammenarbeit offiziell machen konnte.
Vielleicht hätte er sie gehen lassen sollen. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihren Schritt in eine große Agentur zu unterstützen, anstatt sie ganz für sich behalten zu wollen. Dann wäre sie ihm vielleicht Freundin und Partnerin geblieben. Aber nun war es zu spät, zu viele bittere Worte waren gefallen. Zu viel Geschirr war zerschlagen worden, als dass sich das so einfach wieder kitten ließe. Es war zu spät.
Er schaufelte das Essen in sich hinein, an den Geschmack nach Pappkarton hatte er sich inzwischen gewöhnt. Er zwang seine Gedanken in eine andere Richtung. Die morgige Präsentation. Wer waren die beiden anderen Kandidaten? Würde es dieses Mal reichen, um zu gewinnen? Was hätte das für Konsequenzen für ihn und seine Arbeit? Er bräuchte wohl ein oder zwei Freelancer, wofür er sich weiter verschulden müsste. Er hatte sich nach Deborahs Auszug sehr kurzfristig zur Teilnahme entschlossen und schon einen Kredit aufgenommen, um nur den Grafiker für seine Entwürfe zu bezahlen. Aber es würde sich lohnen, vielleicht nicht so sehr in finanzieller Hinsicht, aber umso mehr für seine Reputation. Er könnte endlich aus der Masse der vielen Talentierten heraustreten und zum ersten Mal mit einer Kampagne in der großen Öffentlichkeit stehen.
Er lachte laut auf. »Hör auf zu träumen, Schrödinger«, sagte er laut, während er das Geschirr in die Küche trug und es auf der vollgeräumten Arbeitsfläche abstellte. Josh kam ihm hinterhergetrabt. Offenbar fühlte er sich angesprochen, denn er stand nun mit wedelndem Schwanz neben ihm.
Stefan nickte ihm zu. »Bist ein feiner Hund!« Er schob die restlichen Nudeln von seinem Teller in die Schüssel des Hundes und kippte eine Handvoll Hundefutter darüber. Mit der Gabel rührte er Nudeln und gepresstes Trockenfleisch um, bevor er den Napf auf den Boden stellte.
»Langsam, niemand frisst dir etwas weg«, bremste er den Hund, der das Futter sofort in sich hineinzuschlingen begann. Josh liebte Nudeln, genau wie Debbie. Früher hatten sie oft zusammen gekocht, Fertiggerichte aus dem Tiefkühlregal hatte es so gut wie nie gegeben.
Stefan schob den Gedanken mit Gewalt beiseite. Er ging ins Wohnzimmer und schaltete die Stereoanlage ein. Die epischen Klänge von Nightwish und die Stimme von Tarja Turunen erklangen. Er holte eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, bevor er sich in seinen Lieblingssessel fallen ließ. Er schloss die Augen, als die kalte Flüssigkeit seine Kehle hinunterrann, und seufzte tief. Es war heiß in seiner Wohnung, obwohl die Fenster den ganzen Tag geschlossen waren und Jalousien die Sonne aussperrten. Nur im Bad und im Schlafzimmer, die nach hinten in den Lichthof hinausgingen, waren sie weit geöffnet, aber das reichte nicht aus, um den Altbau bei 36 Grad Außentemperatur kühl zu halten.
Deborah blickte von ihrer Arbeit auf. Ein Schatten war auf ihre Zeichnung gefallen. Sie wandte sich um. Carl Schulze stand halb hinter ihr und schaute ihr über die Schulter. Wie lange beobachtete er sie schon?
Die Kehle wurde ihr eng. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, wie immer, wenn er sie so ansah. Ein wenig herausfordernd und dabei leicht amüsiert, als ob es ein Spiel wäre, von dem er wusste, dass sie es noch nicht begriffen hatte.
Sie schob den Stuhl zurück und stand eilig auf. Seine Gegenwart schüchterte sie ein, da wollte sie nicht noch zu ihm aufschauen müssen, zumindest nicht mehr als notwendig. Er wich nicht aus, als sie sich erhob. Der schwache Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Selbst im Stehen überragte er sie noch um fast dreißig Zentimeter. Schnell trat sie einen Schritt zur Seite, um seiner körperlichen Nähe zu entkommen.
Carl Schulze sah nicht nur blendend aus, er kleidete sich dazu noch mit einer lässigen Eleganz, um die Deborah ihn beneidete. Er war erfolgreich in allem, was er tat, und er war sich dessen vollkommen bewusst. Das war zumindest die Ausstrahlung, die er wie einen Schild vor sich hertrug und die dazu führte, dass sie sich neben ihm klein und unbeholfen vorkam.
Seine Mitarbeiter führte er mit fester Hand. Er brachte sich überall ein, lobte selten und kritisierte oft, aber seine Kritik war immer durchdacht und hilfreich. Ein Lob aus seinem Mund empfand Deborah als etwas ganz Besonderes.
Ihre Initiativbewerbung war ein Schuss ins Blaue gewesen. Eine spontane Aktion, um der beruflichen Enge mit Stefan zu entkommen, die sie immer mehr wie ein Gefängnis empfunden hatte. Dass sie sich ausgerechnet bei Schulze & Niess beworben hatte, war ebenfalls Stefan geschuldet, der die Kultagentur von Carl Schulze und Boris Niess abwechselnd als das größte Vorbild oder den schlimmsten Feind betrachtete, je nach Auftragslage und Kontostand.
Sie hatte überhaupt nicht damit gerechnet, die Praktikantenstelle zu bekommen. Schulze & Niess hatten noch nie einen Praktikanten länger als einen Monat beschäftigt. Deborahs Anstellung war ein Novum und eine Chance, die sie um jeden Preis nutzen wollte.
All das ging ihr in den wenigen Augenblicken durch den Kopf, die Carl brauchte, um sich über ihre Skizzen zu beugen. Durch den offenen Ausschnitt seines Hemdes blickte sie direkt auf seine nackte Brust, dicht bedeckt von lockigen schwarzen Haaren. Ihre Wangen wurden heiß, aber zum Glück sah er sie nicht an, sondern war auf ihre Zeichnung konzentriert.
Er musterte die Bewegungsstudien der kleinen Figur, an der sie gearbeitet hatte. Es war die stilisierte Silhouette einer Tänzerin mit übertrieben schlanker Taille und langen Beinen im Stil der Zwanzigerjahre, die sich in lasziven Posen auf diversen Buchstaben rekelte.
»Ist das für die Narula Bar?«, fragte er und deutete auf die Zeichnungen.
Deborah nickte. »Ja«, krächzte sie. Sie räusperte sich und verfluchte im Stillen ihre Nervosität. Er war doch immer freundlich zu ihr, warum um alles in der Welt war sie dann in seiner Gegenwart jedes Mal so verunsichert?
»Ja, genau. Klaus hat den Schriftzug fertig und ich soll die Tänzerin draufsetzen.«
»Darf ich?« Carl nahm die Zeichnung, ging damit zum Fenster und hielt sie ins Licht. Deborah folgte ihm. Er musterte jede Skizze und wendete dabei das Blatt hin und her. Sie betrachtete währenddessen sein Profil, die klassische gerade Nase, die sinnlich geschwungenen Lippen und die dunklen Schatten auf Kinn und Wangen. Unwillkürlich fragte sie sich, wie sich sein Mund auf ihrer Haut anfühlen würde. Sie schloss kurz die Augen und rief sich selbst zur Ordnung.
»Es sind nur Studien«, beeilte sie sich zu erklären. »Ich habe noch gar nicht richtig angefangen.«
Carl schüttelte den Kopf. Eine dunkle Strähne fiel ihm in die Stirn. »Nein, Deborah, das ist schon recht gut. Diese hier oben, wo die Tänzerin auf dem B von Bar sitzt, das gefällt mir. Kannst du das mal größer und am Computer machen?«
Deborah atmete tief durch und nickte. »Ja, Herr Schulze.« Ihr Herz schlug bis zum Hals, vor Freude über sein Lob wahrscheinlich, und ihre Hände waren feucht.
»Gib ihr noch ein bisschen mehr Oberweite, schließlich ist das ein Nachtklub und kein Restaurant.« Er reichte ihr das Blatt zurück und sah sie aufmerksam an. »Wie lange bist du jetzt schon bei uns?«
»Zwei Monate«, erwiderte Deborah. Was kam jetzt?
»Dann wird es Zeit, dass du Carl zu mir sagst.« Er hob einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln und zwinkerte ihr verschmitzt zu. Mit der Hand fuhr er sich durch das schwarze Haar, eine seltsam jungenhafte Geste für den großen Mann. »Wir sind hier alle per Du.«
»Ja, äh, danke, Herr Sch…, äh, Carl, ja …«, stammelte sie. Nun hatte er sie schon wieder aus dem Konzept gebracht.
Er legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. »Du machst tolle Arbeit, Deborah, das wollte ich dir schon länger sagen.« Er lächelte anerkennend. »Klaus hat mir erzählt, wie gut du dich bei der Schmerzmittelkampagne der Firma Rheopharm eingebracht hast.«
Deborah nickte und war ein wenig verwirrt. Die Kampagne war das aktuelle Projekt gewesen, als sie gerade ihr Praktikum begonnen hatte. Sie hatte nur einen Entwurf für die Verpackung beigesteuert. Es war ihr mehr wie ein Test erschienen und nicht wie eine richtige Arbeit.
»Morgen findet die Präsentation der Entwürfe statt und der Sieger der Ausschreibung wird bekannt gegeben«, fuhr Carl fort. »Ich hätte gerne, dass du mitkommst.«
Deborah schluckte. »Ich? Wieso …«
»Du warst doch auch daran beteiligt. Also solltest du ebenfalls dabei sein.« Carl sah sie erwartungsvoll aus grauen Augen an. Seine dunklen Wimpern waren lang und dicht wie die einer Frau.
»Aber ich …« Deborah zwang sich zur Ruhe. »Ich bin doch nur Praktikantin und ich …«
»Dann wird es eine wertvolle Erfahrung für dich sein«, beendete er das Gespräch. »Es beginnt um eins, wir fahren von hier aus gemeinsam hin.«
Im Gehen warf er einen vielsagenden Blick auf ihre Leinenschuhe. »Und zieh dir was Nettes an!«, setzte er hinzu.
Deborah sah ihm kopfschüttelnd hinterher. Als ob sie das nicht wusste!
Carl schloss die Tür zu seinem Büro und lehnte sich dagegen. Sein Puls hämmerte, als ob er gelaufen wäre, und seine Hose schien ihm plötzlich eine Nummer zu eng. Er fluchte unterdrückt und zwang sich zur Ruhe.
Er wollte Deborah haben, um jeden Preis und am liebsten sofort. Wenn sie ihn so aus ihren grünen Augen ansah, geriet seine sorgfältig gepflegte Fassade ins Wanken. Doch bis jetzt schienen all seine Annäherungsversuche ins Leere zu laufen. Sie ging jedes Mal auf Distanz, wenn er sie ansprach. Er wünschte sich plötzlich, er wäre nicht ausgerechnet ihr Chef, vielleicht wäre sie dann zugänglicher. Aber nein, wenn er ehrlich war, reizte ihn gerade ihre Zurückhaltung. Frauen, die er einfach haben konnte, gab es schließlich genug.
Die Präsentation morgen war eine einmalige Gelegenheit, ihr näherzukommen, deshalb lag es nahe, Deborah mitzunehmen. Sie konnte nicht gut Nein sagen, natürlich nicht. Es war das erste Treffen außerhalb der Agentur und er würde dafür sorgen, dass es nicht das letzte blieb. Er wollte sie unbedingt haben.
Carl setzte sich an seinen Schreibtisch und drückte auf den Knopf der Sprechanlage. »Klaus, kommst du bitte mal zu mir?«
Draußen im Atelier der Grafiker konnte er den Widerhall hören. Er rief selten einen Mitarbeiter zu sich, meistens ging er selbst hinaus zu seinen Leuten. Aber er wollte jetzt nicht noch einmal an Deborah vorbei.
Es klopfte leise, und auf Carls »Herein« betrat der Chefgrafiker das Büro.
»Klaus, wegen morgen …«, begann Carl.
Klaus Rüdiger ließ sich auf den Besucherstuhl fallen und musterte seinen Chef ungeniert. Carl wusste genau, was Klaus sah: das weiße kurzärmelige Hemd, das am Hals offen stand, die tief gebräunten, kräftigen Unterarme, die muskulösen Schultern, alles schien wie immer. Aber das sonst so sorgfältig frisierte Haar war durcheinandergeraten und seine Haut glänzte feucht, als wäre er gerade der Dusche entstiegen. Carl konnte die Frage im Blick seines Mitarbeiters schon spüren, bevor er sie stellte.
»Was ist los?«
»Ich habe Deborah eingeladen, uns morgen zu der Präsentation zu begleiten«, erklärte Carl betont beiläufig.
Klaus pfiff durch die Zähne und grinste.
»Ich finde, sie sollte dabei sein. Immerhin hat sie auch daran mitgearbeitet.« Carl breitete die Hände aus, eine eigenartige Geste, als ob er sich rechtfertigen müsste. »Außerdem war sie noch nie bei so etwas dabei. Ich finde, das ist eine nützliche Erfahrung für sie.«
»Unbedingt, Chef, keine Frage. Ich freue mich.«
Klaus klang, als meinte er tatsächlich, was er sagte. Carl wusste, dass er sehr viel von Deborah hielt. Sie alle hatten sie in den letzten zwei Monaten als hochtalentierte Grafikerin und stets lernbereite Schülerin zu schätzen gelernt. Ja, mit ihr als Praktikantin hatte er einen Glücksgriff getan.
Stefan wartete in der Tür seiner Wohnung, während Deborah die Treppe bis in den obersten Stock hochstieg. Bevor er noch ein Wort sagen konnte, drängte sich Josh an ihm vorbei und begrüßte sie stürmisch. Sie beugte sich hinunter, um Josh zu streicheln, und als sie sich aufrichtete, war ihr Gesicht gerötet.
Er musterte sie von oben bis unten. Die ungewohnte Frisur ließ sie größer erscheinen. In der dunklen Hose und der hellen Bluse sah sie aus wie die Verkörperung der erfolgreichen Karrierefrau, die sie offenbar gerne werden wollte. Fast schon spießig, redete er sich ein. Von dem Hippiemädchen in ausgefransten Jeans und Schlabber-Shirts, in das er sich damals verliebt hatte, war nicht mehr viel zu bemerken. Hatte sie nicht auch abgenommen? Oder lag es wirklich nur an der Kleidung, dass sie so – er suchte in Gedanken nach dem richtigen Wort – so erwachsen wirkte?
Er trat einen Schritt zurück. »Komm rein«, sagte er und ging voraus in das große, unaufgeräumte Wohnzimmer, das gleichzeitig als Esszimmer, Büro, Atelier und Computerraum diente. Sie folgte ihm. Josh sah hoffnungsvoll von einem zum anderen.
»Ist jetzt alles wieder gut?«, schienen seine braunen Augen zu fragen.
»Wie geht es dir?« Deborahs unschuldige Frage entfachte Stefans Zorn aufs Neue.
»Was meinst du wohl, wie es mir geht, Debbie?« Er deutete auf das Chaos rundherum. »Zu viel Arbeit für einen allein, das sieht man doch!«
»Aber das ist doch gut, wenn du viel Arbeit hast!« Deborah wich seinem Vorwurf aus.
»Ja, schon, aber nicht gut genug für dich, hast du das schon vergessen?« Seine braunen Augen waren dunkel vor Schmerz. Schnell senkte er den Kopf und verbarg seinen verbitterten Gesichtsausdruck hinter den rotbraunen Locken, die ihm ins Gesicht fielen.
»Das meinte ich nicht«, antwortete Deborah. Sie ging zum Fenster und sah hinunter auf die Oberbilker Allee. Stefan fühlte den Boden erzittern, als die Straßenbahn um die Kurve fuhr.
»Nein, natürlich nicht«, antwortete er resignierend. »Du meinst es ja nie so.«
»Wenn du mich ein bisschen mehr unterstützt hättest, wäre es nie so weit gekommen«, gab Deborah zurück. »Aber du konntest ja nicht akzeptieren …«
»Du konntest nicht akzeptieren, dass ich dich für unsere gemeinsame Arbeit brauche!«
Stefan schloss die Augen. Sie hatten ihren Streit übergangslos an genau derselben Stelle wieder aufgenommen, an dem sie ihn vor sechs Wochen unterbrochen hatten. Deborah war damals einfach gegangen und nicht wieder zurückgekehrt.
»Ich wollte aber auch noch etwas anderes machen! Mich weiterentwickeln und andere Dinge kennenlernen, nicht nur« – sie schloss den Raum mit ihrer Armbewegung ein – »das hier. Kannst du das nicht nachvollziehen?«
»Debbie, was ist schlecht an dem hier?« Seine heftige Betonung der letzten zwei Worte machte ihm selbst deutlich, wie verletzt er immer noch war.
»Ich wollte nur einen Teil meiner Sachen holen und nicht den alten Streit wieder aufwärmen«, sagte sie leise.
»Ja, das hast du gesagt.« Stefan gewann nur mühsam seine Beherrschung zurück. Er streichelte Josh mit schnellen hektischen Bewegungen, bis der sich seiner Hand entzog. Demonstrativ rollte er sich zu Deborahs Füßen zusammen. »Du weißt ja, wo du alles findest.«
Deborah nickte. Sie stieg über den Hund hinweg, der ihr traurig hinterhersah. Im Schlafzimmer nahm sie die leere Reisetasche von ihrer Schulter und schaute sich um.
Stefan war ihr gefolgt. Er stand in der Tür und sah ihr schweigend zu. Deborah öffnete die Spiegeltür des Kleiderschranks. Einen Augenblick lang zog sein eigenes Spiegelbild an ihm vorbei: eine schlanke Gestalt in ausgeblichenen Jeans und verwaschenem T-Shirt, mit wirrem, lockigem Haarschopf, die Hände zu Fäusten geballt in den Hosentaschen.
Deborah betrachtete den Stapel alter T-Shirts und Jeans im Schrank und schüttelte den Kopf. Sie schien eine Entscheidung zu treffen und begann mit ihren Büchern und den Stofftieren, gefolgt von ihrer CD-Sammlung, mehreren Fotoalben und der großen Mappe mit ihren Arbeiten von der Uni. Am Ende war die riesige Tasche voll und dieser Teil des Schranks von den letzten Spuren ihrer Anwesenheit befreit. Den gerahmten Fotodruck mit der Skyline von London klemmte sie sich unter den Arm, das hatte er nicht anders erwartet, denn auf diese Aufnahme war sie immer besonders stolz gewesen. Die anderen Fotos an der Wand, die in den letzten gemeinsamen Jahren entstanden waren, ließ sie hängen. Ihm war das nur recht, sie würden ihn an schöne Zeiten erinnern. Zeiten, die offenbar endgültig vorbei waren.
Deborah wandte sich zu ihm um.
»Ich komme nächste Woche noch einmal und hole den Rest«, erklärte sie. »Es ist ja nicht mehr viel.«
Er nickte nur. »Hast du inzwischen etwas gefunden?«
»Ja«, antwortete sie kurz angebunden und verbot ihm so jede weitere Nachfrage.
Er wollte es ohnehin nicht wissen. Vielleicht hatte sie ja auch schon einen Neuen, mit dem sie sich ihr Liebesnest einrichtete. Der Gedanke schmerzte und er biss die Zähne zusammen. Es war besser, wenn er es gar nicht erfuhr.
Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, ging er mit schleppenden Schritten zum Kühlschrank und holte eine Dose Bier heraus. Er ließ sich aufs Sofa fallen, die ungeöffnete Dose in der Hand, und starrte blind aus dem Fenster. Josh weckte ihn aus seiner Starre, indem er zu ihm aufs Sofa sprang und den Kopf auf seinen Oberschenkel schob. Er öffnete die Bierdose und trank sie in einem Zug zur Hälfte aus. Dann legte er die Hand auf den Kopf des Hundes und begann die seidigen Ohren zu kraulen.
Deborah ließ erleichtert die Farbrolle sinken. Die letzte Wand war fertig gestrichen. Der Eimer Farbe, den sie heute Nachmittag gekauft hatte, war so gut wie leer, dafür leuchtete das Zimmer nun in strahlendem Gelb. Das Streichen der schrägen Decke war besonders anstrengend gewesen. Stöhnend bewegte sie die schmerzenden Schultern.
Sie ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Als sie ihr Gesicht im Spiegel sah, musste sie lachen. Tausende winziger Farbspritzer übersäten ihr Gesicht wie Sommersprossen. Wenn die Leute aus der Agentur sie so sehen könnten, sie würden sie kaum wiedererkennen, ging ihr durch den Kopf. In weiser Voraussicht hatte sie wenigstens ein altes Tuch um den Kopf gebunden, sodass die Haare nicht allzu viel abbekommen hatten.
Sie säuberte gründlich ihre Hände, dann zog sie die Klebestreifen von Fenstern und Türen ab. Sie warf alles auf die riesige Plastikfolie, die den Boden komplett bedeckte und auch noch das Sofa und die kleine Einbauküche überzog. Am Ende faltete sie die Folie zu einem großen Paket und trug es vor die Wohnungstür. Sie würde es später mit hinunternehmen.
Im Bad brauchte sie nichts weiter zu tun, denn es war erst kürzlich vom Vermieter renoviert worden. Helle Fliesen zogen sich bis unter die Decke. Ein bunter Duschvorhang bauschte sich im Luftzug, als sie die Tür hinter sich schloss. Warum eigentlich? Sie war allein hier, sie konnte die Toilette genauso gut bei geöffneter Tür benutzen, aber die jahrelange Gewohnheit hielt sie davon ab. Zum Glück hatte sie daran gedacht, Toilettenpapier zu kaufen und ein Handtuch mitzubringen!
Sie wusch sich das Gesicht und rubbelte den Rest der Farbe mit dem Handtuch ab. Anschließend musterte sie sich im Spiegel. Die Farbtupfer waren verschwunden, ihr Gesicht war gerötet. Sie zog das Tuch vom Kopf und schüttelte die Haare aus. Sie hatte keine Bürste dabei, deshalb strich sie das Haar nur nach hinten und band es mit dem Haargummi wieder zusammen. Zu Hause würde sie ohnehin noch duschen.
Zu Hause? Ihr Zuhause war jetzt hier, korrigierte sie sich im Stillen. Sosehr sie ihre Mutter auch liebte, auf Dauer ging das unter einem Dach mit ihr nicht gut. Deborah war froh, jetzt endgültig auf eigenen Füßen zu stehen.
Es klopfte energisch an der Tür. Deborah erstarrte mitten in der Bewegung. Besuch? Außer ihrer Mutter kannte niemand ihre neue Adresse und die traf sich heute Abend mit ihren Freundinnen zum Bridge.
Sie spähte durch den kleinen Spion nach draußen. Zuerst sah sie – nichts. Erst als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und den Blick nach unten richtete, erkannte sie graue Locken und eine gemusterte Jacke.
»Wer ist da?«, fragte sie vorsichtshalber.
»Ich wollte Ihnen etwas bringen«, bekam sie zur Antwort. Eine leise Frauenstimme mit einem heiseren Unterton.
Deborah öffnete. Vor ihr stand eine zierliche alte Frau in heller Jogginghose. Trotz der Hitze trug sie eine bunte Strickjacke über der Bluse. Sie war ein gutes Stück kleiner als Deborah. Die silbergrauen Locken tanzten, als sie den Kopf hob, und ihr Gesicht strahlte vor Herzlichkeit. Sie streckte Deborah einen kleinen Laib Brot und einen schönen Salzstreuer aus Keramik hin.
»Salz und Brot zum Einzug, herzlich willkommen, Frau Peters!«
Deborah lächelte zurück, das Lächeln der alten Dame war ansteckend.
»Das ist aber lieb von Ihnen, danke schön!«
»Ich bin Frau Maichen, vom ersten Stock«, erklärte die Frau. »Maichen wie Mai, nur kleiner.«
Deborah musste lachen. »Das ist ein schöner Name! Kommen Sie doch herein!«
Frau Maichen stieg über das Folienpaket hinweg. Deborahs ausgestreckte Hand, die ihr helfen wollte, ignorierte sie. Anerkennend sah sie sich in dem kleinen Flur um.
»Vorsicht, ich habe gerade erst frisch gestrichen«, warnte sie Deborah. »Die Farbe ist vielleicht noch feucht.«
Die alte Frau nickte und folgte ihr ins Wohnzimmer. Deborah legte das Brot auf die Arbeitsplatte neben dem Herd. Den Salzstreuer stellte sie in den leeren Hängeschrank darüber. Es roch durchdringend nach frischer Farbe.
»Wenn Sie irgendetwas brauchen, kommen Sie ruhig zu mir«, sagte Frau Maichen und sah Deborah ernst an. »Ich weiß, wie es ist, wenn man ganz allein ist.«
Deborah zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Woher wusste Frau Maichen, dass sie außer ihrer Mutter niemanden mehr hatte? Stand es ihr so überdeutlich auf die Stirn geschrieben? Kein Freund, kein Partner, nicht einmal richtige Freunde, sah man ihr das so sehr an?
Frau Maichen lächelte noch immer. »Keine Angst, ich kann nicht Gedanken lesen. Ich kann nur eins und eins zusammenzählen«, sagte sie. Dabei machte sie eine wegwerfende Handbewegung, als ob das alles nicht wichtig wäre.
»Werden Sie heute schon hier übernachten?«, wechselte sie abrupt das Thema. Sie sah sich in dem leeren Raum um, in dem bis jetzt nur das hässliche alte Sofa stand, das die Vormieter zurückgelassen hatten.
»Nein, ich fahre gleich zu meiner Mutter«, erwiderte Deborah. »Ab dem Wochenende werde ich dann hier wohnen, sobald ich meine Möbel habe.«
Frau Maichen nickte. »Dann will ich Sie nicht länger stören, Frau Peters. Alles Gute in der neuen Wohnung!«
»Ach, sagen Sie doch Debbie zu mir«, bat Deborah. Der Name ihrer Kindheit, den sie eigentlich hinter sich lassen wollte, der Name, mit dem sie außer ihrer Mutter nur noch Stefan rief, rutschte ihr heraus, bevor sie es verhindern konnte. Aber Frau Maichen hatte etwas Mütterliches an sich, also passte es irgendwie doch wieder.
Frau Maichen lachte. »Na gut, Debbie. Ich bin Dorothea, wenn Sie möchten. Kommen Sie doch einmal auf eine Tasse Tee vorbei, sobald Sie eingezogen sind.«
»Danke, Frau Maichen.« Deborah stockte. »Dorothea. Das werde ich gerne tun.«