Kitabı oku: «Marokkanisches Tagebuch»
Carl Bloem
Marokkanisches Tagebuch
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Südwärts
Pleite
Tetouan
Auf der Straße
Agadir
Tafraoute
Marokkanische Tage
Nordwärts
Impressum neobooks
Prolog
Der Passat wehte beständig von Nordosten. Dort, wo die Küstenlinie in einer Biegung nach Westen verlief, blies er kalt den Berg hinunter. Er heulte durch die leeren Augen der Kasbah, die auf der Spitze der Anhöhe hockte wie eine fette, alte Spinne, ein Relikt vergangenen Glanzes, vom Wind geschliffen und vom Sand geschmirgelt. Im Süden wechselte sich der Strand mit vorgelagerten Siedlungen, Abflussrohren und Mülldeponien ab, vorbei an der Mündung des Souss und dem Park. Ich war nie weiter an der Küste nach Süden gefahren und konnte mir nur vorstellen, dass es immer so weiter ging. Ein Berg, eine Stadt, die Mündung eines Flusses, der kein Wasser führte. Lediglich die Abwasserkanäle sprudelten fleißig und zogen hässliche Streifen in die Brandung. Die starke Strömung hielt die Bucht jedoch sauber und wenn der Wind mal nicht unablässig den Fischgestank vom Hafen herüberwehte, konnte man mit einem flüchtigen Blick, ein wirklich schönes Fleckchen Erde sehen.
Ich befand mich in Agadir, dem südlichsten Flughafen Marokkos und im Moment der begehrte Anlaufpunkt vieler Touristen. Es war das Jahr 1993 und die Menschen kamen im April aus den verschiedensten Ländern hierher, um das ausgesprochen warme und stabile Klima zu genießen. Man traf sie zumeist in den Hotelanlagen oder am Strand. Ab und zu verirrten sich einige den Berg hinauf, in die Viertel der Einheimischen, kehrten aber nicht selten nach kurzer Zeit um, denn die Karten der Restaurants wurden immer kürzer und Alkohol gab es nur in wenigen Bars hier oben.
Manchmal sah man auch ein paar Chinesen, die sich des Abends in unserer Nachbarschaft betranken. Dies aber waren keine Touristen. Die Chinesen wohnten hier und arbeiteten im Hafen. Nach der Dämmerung saßen sie zusammen und verprassten ihr Taschengeld mit dem dünnem marokkanischen Bier. Meist nicht weniger als zehn gleichzeitig steckten über einem runden Tisch die Köpfe zusammen und redeten drauflos, als ginge es darum ein Wettrennen aus zu tragen. Die beiden marokkanischen Kellner, Mohammed und Aziz, die auf der Terrasse meines Lieblingscafes arbeiteten, machten sich gerne einen Spaß mit ihnen. Die Hafenarbeiter bestanden darauf, dass die getrunkenen Flaschen auf dem Tisch verblieben, um sich an dem Anblick der geleisteten Tat zu weiden. Die Meisten von ihnen brauchten selten mehr als zwei Flaschen, um sturzbetrunken zu sein. Wenn also wieder einer von ihnen nach einer neuen Runde schrie, stellte Aziz acht volle sowie zwei leere Flaschen auf den Tisch und kassierte die gesamte Bestellung ab. In dem ganzen Durcheinander merkte das niemand und ich saß häufig am Tisch unter dem Fenster und beobachtete das Treiben.
„Sieh zu, das nächste Mal stelle ich nur sieben volle Flaschen hin sagte Mohammed zu mir, nachdem Aziz den Tisch ohne Beanstandung verlassen hatte.
„Wenn sie dich erwischen, reißen sie dir den Kopf ab", entgegnete ich.
Aber er lachte nur."Die erwischen Mohammed nie." Dann drehte er sich um und sprintete los.
Während ich durch das Kif rauchen eher träge wurde, war es für Mohammed wie ein Erfrischungsgetränk. Mit zehn Jahren hatte er angefangen, für seine älteren Brüder die kleinen Zigaretten mit den harzigen Brocken zu drehen, aber erst mit vierzehn durfte er es auch rauchen. Mit vierzehn war man ja schon ein Mann!
Ich wohnte im Hotel Canaria im Herzen von Talborjt. Das Hotelgebäude lag am Kopfende eines Platzes, der auf der Nordseite von einer Reihe kleiner Restaurants gesäumt wurde. Es gab noch zwei weitere Hotels, ein paar Geschäfte mit Zigaretten, Lebensmitteln und dem täglichen Bedarf sowie die Apotheke des Stadtteils. Eine Stück die Straße hoch war das Postamt und hinter dem Hotel lag direkt der große Busbahnhof, von dem man selbst so ferne Ziele wie London erreichen konnte.
Das Hotel war nicht sonderlich groß und verfügte über zwei Dutzend Zimmer, die zwischen zwei und vier Betten hatten. Die Räume waren nur mit dem Nötigsten möbliert, aber gemütlich und sauber. Es war ein Hotel das Stadtfremde auf der Durchreise nutzten oder Verwandte, die keinen Platz im Haus des Besuchten fanden. Auf dem Dach gab es eine kleine Terrasse, die ich häufig nutzte, da sich nach hier oben, nur selten jemand verirrte. Von dort aus konnte man das gesamte Areal und die zuführenden Straßen gut übersehen. Besonders am Morgen stand ich gerne dort und trank einen Tee.
Auf dem Platz waren ein paar Arbeiter seit einiger Zeit damit beschäftigt diverses Grünzeug in den Boden zu pflanzen. Man sah sie schon früh am Morgen auf ihren Schaufeln lehnen und in die Sonnen blinzeln. Eigentlich habe ich nie gesehen, dass sie etwas anderes taten. Sie unterhielten sich, tranken Tee, lehnten auf ihren Arbeitsgeräten und sahen dem Lauf der Sonne zu. Ich beobachtete dies nun schon seit mehr als zwei Wochen und musste unverhohlen anerkennen und bewundern, dass Zeit hier etwas ist, das dem Leben untergeordnet ist. Es war nicht wichtig und was machte es auch schon, ob der Baum nun heute oder morgen dort stehen und ob die Sträucher sich jetzt oder erst nächste Woche in einer nahezu exakten Reihe an den Rand des Gehwegs schmiegen würden. Die Arbeiter gehörten mittlerweile zum Tagesgeschehen. Sie waren wie der gute Geist des Platzes. Sie brachten verirrte Kinder nach Hause, trockneten Tränen, schlichteten Streit und blinzelten in die Sonne. Es war schön, dass sie da waren. Es war etwas Verlässliches. Sie brachten ein wenig Ruhe an diesen Ort der Geschäftigkeit. Denn der Platz von Talborjt war auch das Zentrum, der Treffpunkt und die Seele des Stadtteils.
Eines Tages musste ich mir neue Schuhe kaufen und brauchte dafür etwas mehr als eine Woche. Auf dem Weg zum Strand lag in einer schäbigen Einkaufspassage ein kleiner Laden für Lederwaren. Normalerweise befanden sich solche Läden in der Medina der Städte, aber in Agadir war das alles etwas anders. Im Februar 1960 hatte es hier ein furchtbares Erdbeben gegeben, das große Teile des Stadtgebiets in Schutt und Asche gelegt und viele Menschenleben gefordert hatte. Nun war es aber umso schlimmer, dass der König, dessen Land seit wenigen Jahren die Unabhängigkeit von Frankreich erlangt hatte, die größte Stadt im Süden mit dem Charme und in dem Baustil Pariser Vororte wieder aufgebaut hat.
Dieser kleine Laden war bis unter die Decke vollgestopft mit Waren und wenn man sich im Innern befand, konnte man zum Glück leicht vergessen, wie es draußen aussah. Überall hingen verschiedene Taschen, Säcke, Beutel und Gewänder herab. Der Boden war über und über mit Decken und Teppichen belegt. Es roch nach frischem Tee und Gebäck und der Besitzer, ließ immer sofort alles stehen und liegen, sobald er mich sah. Abderrahmane war sehr klein, vielleicht 1 Meter 60, schlank wie ein Knabe, hatte ein kluges Gesicht und akkurat geschnittenes schwarzes Haar. Nach einer herzlichen Begrüßung setzten wir uns hin und mein Gastgeber begann dann meist mit einer ausgiebigen Tee-Zeremonie.
Der Tee wurde in reichlich verzierten silbernen Kannen hergestellt, indem man ein großes Bündel Minze und einen Klumpen groben Zucker mit der ausreichenden Menge kochenden Wassers vereinte. Nachdem der Tee dann eine Weile gezogen hatte, wurde das Getränk durch mehrmaliges Ausgießen und Wiedereinfüllen gerührt und auf Trinktemperatur gebracht. Abderrahmane konnte einen bemerkenswert hohen Bogen mit seiner Kanne gießen, ohne dass ein einziger Tropfen Tee daneben ging. Mit stillem Vergnügen an dieser herrlich zeitraubenden Angelegenheit betrachtete ich versonnen die Schuhe, wegen derer ich vor knapp einer Woche dieses Geschäft zum ersten Mal betreten hatte. Die Schuhe waren nichts Besonderes. Solche, wie sie fast jeder hier in Marokko trug, aus Ziegenleder mit einer langen Lasche hinten an der Ferse, die die Meisten jedoch nach innen schlugen und die Schuhe so nach hinten offen waren, wie Hausschuhe. Geklebt war das alles auf ein zurecht geschnittenes Stück Autoreifen. Bei meinem Paar konnte man noch den Firmennamen des Reifenherstellers lesen. Ich hatte mich für die Schuhe interessiert und Abderrahmane hatte mir zur Eröffnung einen völlig überzogenen Preis vorgeschlagen. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, ich bin mit den Worten gegangen, dass ich für diesen Preis bei jedem anderen Händler zwei Paare bekäme.
Am nächsten Tag war ich wieder da und Abderrahmane lud mich zum Tee ein. Wir klärten einige Geschehnisse des Tages, beklagten den Mangel an Wind, handelten etwas an dem Preis fr die Schuhe herum und rauchten etliche importierte Zigaretten, die ich meinem Gastgeber gerne offerierte. Den folgenden Tag war ich krank. Ich hatte mir den Magen verdorben. Ich nehme an, dass es etwas zu viel fettes Lammfleisch gewesen war. Nachdem ich meine Essensrationen aus Geldmangel gekürzt hatte, war ich es einfach nicht mehr gewohnt. Am Tag darauf war ich wieder bei Abderrahmane, der sich mit sorgenvoller Miene nach meinem Befinden erkundigte und sofort etwas Tee und Brot anbot. An diesem Tag redeten wir gar nicht über die Schuhe, sondern beschäftigten uns damit, welcher Tajine jeder von uns den Vorzug gab. In Anbetracht der jüngsten Ereignisse favorisierte ich die Vegetarische mit vielen Auberginen. Abderrahmane lächelte wissend, sagte aber nichts und goss noch etwas Tee nach. Er selbst liebte auch die Tajine mit Lammfleisch sehr.
So kam ich jeden Tag zu Abderrahmane, blieb selten weniger als eine Stunde und lernte nach und nach seine ganze Familie kennen. Er hatte drei Töchter, die zwischen fünf und elf Jahren alt waren und entweder log er oder er liebte sie wirklich so sehr, denn er wollte keine Einzige von ihnen eintauschen, nicht einmal für drei Söhne. Wir verbrachten herrliche Stunden, in denen wir ausgestreckt auf den Kissen lagen und Rauchringe in die Luft bliesen. Dann eines Tages waren die Schuhe wieder in unser Interesse gerückt, denn zum Einen brauchte ich diese Schuhe dringend und zum Anderen vergisst ein marokkanischer Händler niemals seinen Geschäftssinn. Am achten Tage kamen wir schließlich zu einem Preis, der uns beide zufrieden stellte, 26 Dirham.
Ich hatte zu viel bezahlt, das wusste ich, aber ich wusste auch, dass noch nie ein Ausländer bei Abderrahmane weniger gezahlt hatte.
Ich weiß nicht, wie es heute ist, aber zu jener Zeit gab es in Marokko sechs Preise für jede Ware. Da waren die beiden Preise für Ausländer. Einen für die Klugen und einen für die Dummen. Dann gab es zwei Preise für Marokkaner aus anderen Städten und zuletzt die zwei Preise für die Ortsansässigen. Die Schuhe gehörten jetzt mir und meine geschundenen Füße freuten sich sehr darüber, aber ich war auch ein bisschen traurig, da ich wusste, dass diese schönen Vormittage nun ein Ende haben würden. Ich hatte keinen Grund mehr herzukommen. Ich mochte Abderrahmane und ich glaube, er mochte mich auch, aber diese lange Woche endete dort, mit meinen neuen Schuhen an den Füßen und einer Träne im Auge. Geschäft ist eben Geschäft.
Nach dem Schuhkauf ging ich zurück nach Talborjt und musste unweigerlich an eine Nacht vor ein paar Tagen denken, in der ich den großen Platz überquert hatte, an dem ich nun langsam vorüber ging. Es war sehr dunkel gewesen. Eine mondlose Nacht. Die Beleuchtung an der Straße spendete nur wenig Licht und der Platz, über den ich gelaufen war, lag fast völlig im Schatten. Es standen zwar Laternen darauf, aber diese durften noch nicht eingeschaltet werden. Ein Schuh traf mich im Genick, dann folgte noch einer. Ich lief ein bisschen schneller.
Ich glaube, der Platz war schon vor einigen Monaten fertiggestellt worden. Trotzdem wurde er nicht benutzt. Man konnte ihn überqueren, sich darauf unterhalten, Fahrrad fahren (nehme ich an, obwohl ich nie jemanden gesehen hatte), aber weder bot hier ein Verkäufer seine Ware feil, noch wurde er des Nachts beleuchtet, denn der König hatte den Platz noch nicht eingeweiht. Ein bisschen Licht hätte mir gut getan. Ich stolperte weiter vorwärts. Warum lief ich eigentlich?
Ein kräftiger Schlag mit einem Schuh traf mich erneut im Genick. Jetzt wusste ich es wieder. Ich hatte mich nach etwas Nähe gesehnt und mein Freund Mohammed hatte mir eine Diskothek in einem Hotel am Strand empfohlen. Aber wie hieß sie nochmal? Ich hatte es vergessen.In früherer Zeit in einem anderen Teil der Welt hätte man sie ein leichtes Mädchen genannt. Eine Bordsteinschwalbe. Eine Dirne. Man konnte sie mit Geld kaufen. Vielleicht mit ein paar Gläsern Wein oder Sekt. Aber wenn man gar nichts besaß, betrunken war und ihr nur vorgemacht hatte, man hätte das Eine oder das Andere oder zumindest noch ein paar Münzen für das Taxi den Berg hinauf, dann konnte sie böse werden.
Zärtlich war der Tanz in der Bar gewesen, verführerisch ihr Blick. Die Augen wie Mandeln. Ich hatte mich gefühlt wie ein Bräutigam in den Flitterwochen. Jetzt aber lief sie hinter mir her. Barfuß und mit ihren Schuhen trommelte sie auf meinen Rücken. Eine wahrhaft kurze Romanze!
Aber Moment, ich schweife ab. Wie war ich hierher gekommen? Wie hatte das eigentlich alles angefangen?
Südwärts
Es war April. Der Regen klatschte gegen die Scheiben meines Wagens und die beiden Wischblätter fuhren hektisch wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm durch mein Blickfeld. Die Straßen glänzten und in der Fahrerkabine von meinem Bus machte sich Musik breit. Im durchgehenden Armaturenbrett meines T2 steckte ein Kassettenradio, dass mit einer angemessenen Anzahl Lautsprecher verbunden war. Ich hatte ein Magnetband eingeschoben und aus den Boxen drang ein vertrautes Gitarrenspiel.
Der Wagen war grün, ein sattes laubfroschgrün. Es war der Pritschenwagen von Volkswagen, der hinten keine Seitenfenster besaß. Lediglich in die Heckklappe war eine Scheibe eingelassen. Das Modell war zwanzig Zentimeter länger als sein Vorgänger, hatte 50 PS Leistung und eine pneumatische Scheibenwaschanlage. Aber weniger um die technischen Details rankten sich die Mythen bei diesen Wagen. Der Bulli war der Inbegriff für ein Leben auf der Straße.
I'm gonna find a home on wheels, hatten The Who gesungen und taten es noch. Die Wagen dienten Bands für ihre Live-Touren und Fans für die Besuche der Konzerte. Gerade in den USA hatte es Ende der 60er und in den 70ern einen riesigen Hype um den Wagen gegeben. Wer in Woodstock nicht nass geworden war, hatte bestimmt einen Bus dabei gehabt. Die Leute lebten in diesen Bussen, zeugten wahrscheinlich einigen Nachwuchs darin und brachten mitunter auch den ein oder anderen Sprössling dort zur Welt. Viele Menschen verbanden mit diesen Autos ein ganz bestimmtes Gefühl, malten die Wagen bunt an und schmückten sie mit viel sinnstiftendem Interieur. Mein Bus hatte fast zwanzig Jahre lang einem Händler der International Harvester Company für Landmaschinen in Münster gehört. In dieser Zeit hatte der Wagen zunächst einmal viele Orte des Münsterlandes bereist. Sein nächster Besitzer baute ihn für längere Touren um, die er aber niemals machte und aus einer monetären Verlegenheit heraus, kam dieser Wagen bereits ein Jahr später zu mir. Bislang hatte der Bus noch keine Geschichte, aber ich war mir sicher, dass das nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen sollte.
Der Bus war 4.5 Meter lang, 1.7 Meter breit und fast zwei Meter hoch. Er konnte eine Tonne Nutzlast dazu laden, was meines Erachtens erheblich war. Ich war mir nicht sicher, ob mein ganzes Leben zusammen genommen so viel wog. Wenn ich alles, was ich besaß in den Wagen stopfen würde, mich selbst dazu und auch noch vollgetankt hätte, kamen mir doch Zweifel, dass es eine Tonne Gewicht ausmachen würde. Nicht, dass dies eine ernst gemeinte Überlegung war, aber ich rechnete eben gerne.
Ich fuhr durch die Stadt und machte einige letzte Besorgungen vor meiner Reise in den Süden. Auf dem Rückweg hielt ich an meiner Stammkneipe an, um ein Bier zu trinken. Es wird das letzte deutsche Bier für eine lange Zeit werden, dachte ich bei mir und trank langsam, während ich meine Augen durch das Lokal gleiten ließ. Die üblichen Gesichter erwiderten meinen Blick und ein Kerl in einer Wildlederjacke mit langen wehenden Haaren kam auf mich zu.
„Hey. Hab gehört, dass du mit deinem Bus nach Marokko fährst", stellte er fest.
„Stimmt genau!" antwortete ich knapp.
„Mit wem fährst du?", fragte er.
„Ich fahre allein gab ich ihm über mein Bier hinweg zurück."
„Warum?", fragte er erneut.
„Na, weil ich wenig Geld, sowie keine konkreten Pläne habe und auch nicht weiß, wann ich wieder komme. Das klang für die Meisten wohl wenig verlockend", entgegnete ich und fragte mich langsam, wohin dieses Gespräch wohl führte.
„Ich will auch nach Marokko", platzte er heraus.
„Na dann. Viel Spaß!", sagte ich und prostete ihm zu.
„Ich meine, wir könnten doch zusammen fahren", sagte er nun.
„Hör zu. Ich hab mein eigenes kleines Geschäft mit Ketten und Tauschwaren. Da reicht das Geld gerade so für einen.“
„Aber ich habe Geld", monierte er.
„Wie viel hast du denn?", war ich nun derjenige, der fragte und musterte ihn aufmerksam. Er dachte nach und schaute dabei auf den Boden. Ich kannte ihn vom Sehen. Ein ruhiger Typ. Ich hatte nie gesehen, dass er herum schrie oder irgendwie Ärger machte.
„Ich hab ein paar Hundert", sagte er. Reicht nicht für den Flug, aber wir könnten uns den Sprit teilen und das Essen.“
"Na ja, beim Sprit geht die Rechnung auf", dachte ich.
„Was willst du eigentlich da unten?" fragte ich erneut. "Кennst du jemanden dort?“
„Nee. Bin noch nie da gewesen, aber ich wollte immer schon nach Marokko.“
Jetzt dachte ich nach. Für den Sprit bis nach Agadir brauchte ich etwa 500 Mark. Da wäre mir jede Spende willkommen. Aber wer war der Typ? Würden wir klar kommen? Was wäre, wenn nicht? So ein Trip konnte anstrengend werden. Ich war unsicher. Mir gefiel aber die Art, dass er etwas wollte, ohne richtig zu wissen warum.
„Wie heißt du eigentlich?", fragte ich.
„Ich bin Mark", antwortete er und gab mir brav die Hand.
„Alles klar, Mark, ich fahre übermorgen. Pack deinen Krempel und deine Kohle zusammen. Wir starten durch und werden mal sehen, wie weit wir beide zusammen kommen.“
„Wie cool, wie cool", johlte er.
„Schreib mir mal deine Nummer auf. Ich ruf dich Freitag früh an und du sagst mir dann, wo ich dich einsammeln soll.“
„Alles klar. Super", sagte er und kritzelte mir die fünf Zahlen auf einen Bierdeckel.
Ich nahm die runde Pappe, zahlte mein Bier und ging.
„Bis übermorgen", rief er mir nach.
"Ja. Bis übermorgen", dachte ich und stieg die Treppe ins Tageslicht hinauf.
Am Freitag Morgen brachte ich die restlichen Sachen in meinen Bus. Es war mild an diesem Tag und zur Abwechslung regnete es mal nicht. Meine Mutter gab mir etwas Besteck mit, das einstmals zu ihrer Aussteuer gehört hatte, aber mittlerweile nicht mehr die erste Garnitur war. Ich war dankbar für jedes Stck und packte es mit den alten Töpfen und dem Gaskocher in den kleinen Schrank, der im Großen und Ganzen die Küche sowie den Vorratsraum meines fahrenden Hauses ausmachte. Ich hatte diverse Konserven gebunkert und unter der Matratze, die das ganze Heck des Wagens einnahm, war weiterer Stauraum mit Wasser, eingeschweißtem Brot und meinen paar Habseligkeiten, Kleidungsstücken sowie dem Vorrat an Ketten und T-Shirts, die ich unterwegs zu Geld machen wollte, um die Reise zu finanzieren. Ich hatte mehrere Wochen lang Perlen aus Modelliermasse hergestellt und bei 110 Grad Celsius im Backofen ausgehärtet. Diese Steine stellte ich in acht verschiedenen Farben her und vermischte auch verschiedene Massen, um Marmorierungseffekte zu erzielen. Die fertigen Stücke reihte ich dann ganz nach Geschmack auf Lederschnüre und befestigte einen Karabiner-Verschluss an den losen Enden. Zusätzlich hatte ich einige bereits getragene Band-Shirts aufgetrieben, die mir bei früheren Reisen nach Marokko stets einträgliche Tauschgeschäfte ermöglicht hatten. Deep Purple, Jimi Hendrix, Led Zeppelin und Bob Marley-Sachen waren eine eigene Währung, ebenso gute Live-Mitschnitte der genannten Musiker, besonders wenn diese nicht autorisiert waren und somit einen gewissen individuellen Wert darstellten. Alles war in meinem Laderaum. Vorne unter der Sitzbank hatte ich noch eine umfangreiche Werkzeugkiste und einen weiteren Karton mit Musikkassetten geladen. In meiner Jeans steckten fünfhundert Mark und ich hatte zwei Adressen für Übernachtungen in Paris und Madrid. Ich ging nach oben und wählte Marks Nummer.
Zwei Stunden später waren wir bereits auf der Straße südwärts und das gutmütige Rattern von meinem Bus linderte die Ungeduld, die mich jedes Mal vor einer Abfahrt quälte. Der Regen kam natürlich wieder und begleitete uns durch Eifel und Ardennen. Bei Sedan ließ der Regen etwas nach und kurz hinter Reims hörte er dann ganz auf. Mark erzählte mir Geschichten von gemeinsamen Bekannten und rollte in regelmäßigen Abständen Zigaretten für uns. Im Kassettenschacht steckte das Tape einer Peel Session von The Disposable Heroes of Hiphoprisy und der Sound harmonierte exzellent mit den Fahrgeräuschen des Wagens. Die große Ladefläche erzeugte einen Hall, der die Stimmen der Rapper optimal vom Beat-Motorgeräusch-Gemisch abgrenzte. Ich war zufrieden. Endlich lief es wieder und die Vibrationen des Lenkrades genoss ich wie eine Reflexzonen-Massage für die Hände. Meine Mutter hatte mich noch einmal gedrückt und war dann schnell wieder im Haus verschwunden. Sie mochte es nicht, wenn ich auf Reisen ging. Oder besser gesagt: Sie mochte es nicht, wie ich auf Reisen ging. Immer zu wenig Kohle und nur vage Pläne und Ziele. Das lag ihr nicht. Sie nahm mir das Versprechen ab, regelmäßig zu essen und ich log so gut ich konnte, um sie zu beruhigen. Meinen Vater hatte ich bereits am Abend vorher verabschiedet. Ihn kümmerte es weniger, ob ich genügend aß. Er wusste, dass sich die Natur schon darum kümmern würde. Ihn plagten eher andere Sorgen. Einen Satz gab er mir auf jede Reise mit: Junge, du kannst alles machen, du darfst dich nur nicht erwischen lassen. Damit war einfach alles gesagt. Ich umarmte ihn und ging in mein Zimmer. Am nächsten Morgen, als ich erwachte, war er bereits auf der Arbeit. Er ging jeden Morgen um sieben Uhr aus dem Haus, seit fast dreißig Jahren und ich habe nie gehört, dass er sich je darüber beklagt hatte.
Ein Sonnenstrahl traf mich und ich schreckte aus meinen Gedanken hoch. Bis Paris war es nicht mehr weit und ich dachte nach, wie ich zur Rue de Saitouge kommen würde. Ich war lange nicht mehr dort gewesen und sehr froh, dass meine Freundin Katy uns beide für eine Nacht aufnahm. Sie hatte mir eine recht gute Wegbeschreibung vom Place de la Republique aus gegeben, aber letztendlich, als ich in der kleinen Einbahnstraße vor ihrem Haus stand, war ich dennoch verwundert, wie gut das mal wieder geklappt hatte. Paris war immer eine Herausforderung, wenn man aus einer deutschen Kleinstadt kam und ein normales und geregeltes Verkehrsaufkommen gewohnt war.
Wir verbrachten den Abend mit ein paar Freunden bei schwerem Rotwein und streunten nachts noch ein wenig durch den 3. Bezirk und über den großen Platz. Rund um die Statue der Marianne mit ihrem Olivenzweig war immer mächtig was los.
Gegen drei Uhr früh kamen wir zurück in die Wohnung. Wir hatten alle Schlagseite und ich verzog mich alsbald in meine Ecke. Als ich am nächsten Morgen auf dem Holzfußboden wach wurde, fühlte es sich an, als hätte ein schöner, großer, roter Doppeldeckerbus in meinem Kopf geparkt.
Ich schaffte eine halbe Schale Müsli, eine Banane und dann waren wir auch schon wieder auf der Straße. Wir hatten einen langen Tag vor uns, denn Jutta, unsere Gastgeberin in Madrid, hatte mir gesagt, dass wir nur am Wochenende bei ihr pennen könnten und bis Madrid war es noch ein ganzes Stück. Also trat ich das Pedal durch und steckte mir eine Zigarette an.
Auf Orleans folgte Tours und nach Poitiers kam Bordeaux. Wir fuhren bei herrlichstem Frühlingswetter durch die Gascogne und überquerten die spanische Grenze hinter Biarritz. Es war eine Schande so an diesen schönen Orten vorbeizurasen, aber wir hatten keine Wahl. Das Geld war knapp und Touristen gab es um diese Jahreszeit noch zu wenige, um hier den Handel ernsthaft zu eröffnen. Wir passierten den trockenen Hafen Gasteiz und gerade hier, in der Hauptstadt der baskischen Provinz hätte ich gerne einen Moment verweilt, aber es war schon später Nachmittag an diesem Samstag und wir hatten noch gut vier Stunden Fahrt vor uns.
Jutta kannte ich eigentlich kaum. Sie war die ältere Schwester einer Freundin aus Münster und hatte sich breit schlagen lassen, mich für eine Nacht zu beherbergen. Als ich ihr dann vor ein paar Tagen telefonisch noch einen zweiten Schlafgänger angekündigt hatte, wäre sie am liebsten von ihrem Angebot zurück getreten, aber ich hielt das Telefonat kurz, so dass sie keine Zeit hatte ihre Meinung zu ändern. Im Grunde genommen freute sie sich darauf Geschichten aus der Heimat zu hören, war sich aber nicht ganz sicher, ob ihr spanischer Verlobter zwei langhaarige Rumtreiber in seiner Wohnung haben wollte.
Wir trafen gegen zehn Uhr abends in der Calle Sedano sdwestlich des Casa de Campo ein. Die Wohnung befand sich in einem Haus mit roten Ziegeln in einem weitläufigen Wohnviertel. Meine Gelenke knackten, als ich mich aus dem Auto quälte und selbst Mark, der nicht oft gefahren war, fühlte sich gerädert von dieser langen Tour.
Der Empfang in Apartment 4b war nicht gerade überschwänglich, aber wir bekamen etwas Wein zur Paella und der Abend kam langsam in Fahrt. Wir köpften noch eine weitere Flasche Wein und ich unterhielt die Gruppe mit Geschichten aus Münster, die Jutta für ihren Verlobten fleißig dolmetschte. Oft stand ich dabei auf, um neben dem Esstisch dann vorzuführen, wie es etwa ausgesehen haben musste, als ich mit meinen damaligen Kollegen Andre auf seiner Schwalbe, auf der Flucht vor der Polizei, einige Treppen hinunter gefahren war. Das löste die Stimmung und nach der dritten Flasche Wein wurden die Geschichten auch gar nicht mehr übersetzt. Jeder versuchte nur noch besonders körperbetont die Dynamik erlebter Abenteuer im bestmöglichen Sprachgemisch aus Deutsch, Englisch und Spanisch in Szene zu setzen. Ich stürzte mehrfach und als ich irgendwann nicht mehr konnte, blieb ich einfach erschöpft an Ort und Stelle liegen. Jutta brachte mir eine Decke und ich schlief sofort ein.
In der Nacht wurde ich plötzlich wach. Ich hörte Marks Atem von der anderen Seite des Raumes. Ansonsten war es still. Der Mond schien durch das Fenster und eine frische Brise erfüllte den Raum. Die Decke war weggerutscht und ich fror. Während ich mich wieder zudeckte, dachte ich darüber nach, warum uns die Polizei eigentlich damals verfolgt hatte, aber es wollte mir partout nicht mehr einfallen. Ich erinnerte mich aber an eine andere Geschichte mit der Polizei und warum es damals in Münster immer so viele Beamte gegeben hatte, die einem das Leben schwer machen wollten:
In der Stadt an der Aa hatte damals die Polizeischule Hochkonjunktur und die Anwärter mussten die Routine des Polizeidienstes auch bei Tätigkeiten wie der allgemeinen Verkehrskontrolle erlernen. Nun waren so viele junge Leute in der Ausbildung zum Polizeivollzugsbeamten, dass man in manchen Nächten auf den Ringstraßen, die die Innenstadt von Münster fast vollständig einschlossen, gleich mehrfach kontrolliert werden konnte. Wenn man mit einem Einsatzfahrzeug des Deutschen Roten Kreuzes unterwegs war, wurde man in der Regel durch gewunken, aber der Eifer und der Enthusiasmus mancher junger Bewerber war einfach bahnbrechend. Andre und ich liehen uns gerne die Fahrzeuge für Spritztouren zu Diskotheken und in einer dieser Nächte, wenn man es am wenigsten brauchte, trafen wir dann auf einen besonders dienstbeflissenen jungen Mann, dessen Aufsicht gerade wohl ein Nickerchen im Polizeiwagen verrichtete.
„Kann ich mal Ihren Führerschein und die Fahrzeug-Papiere sehen?", fragte er, nachdem er uns ordnungsgemäß aus dem Verkehr herausgefischt hatte.
„Hören Sie, Mann, wir sind im Einsatz. Sie sehen doch, dass ist ein Dienstwagen und wir müssen dringend zu einer Patientin", sagte ich, während ich mit der Hand durch das offene Fenster auf das große und leuchtend rote Symbol der Fahrertür klopfte.
„Ja, das verstehe ich, aber ich muss wirklich darauf bestehen", setzte er mir entgegen.
„Nein, ich glaube, sie verstehen nicht. In der Pötterhoek liegt eine alte Dame im Nachthemd auf ihren kalten Küchenfliesen und wartet auf uns", sagte ich mit Nachdruck.
„Sie wollen also sagen, dass dies eine Dienstfahrt ist und ich sie durchlassen soll, weil ein Notfall vorliegt. Ist das so richtig?", stellte er fest.
„Besser hätte ich das nicht sagen können, Herr Wachtmeister", antwortete ich und wollte gerade das Fenster wieder hochkurbeln, da ja eigentlich alles gesagt war, als ich Andre's Hand an meinem Arm spürte und er mich anwies, mein Gekurbel einzustellen.
„Was gibt es denn jetzt noch?", fragte ich mittlerweile etwas ungehalten.
„Also, erstens bin ich kein Wachtmeister, sondern Polizeianwärter und zweitens möchte ich gerne wissen, wenn dies eine Dienstfahrt ist, was machen dann die beiden Damen mit ihren Fahrrädern hinten im Wagen?"
Es entstand eine klitzekleine Pause.
„Mensch, das ist doch wohl klar. Die Damen hatten einen Platten draußen auf der Hammer Straße und da konnten wir die Beiden doch nicht stehen lassen, oder?, antwortete ich und drehte mich zu den zwei Mädchen um, die fleißig nickten und Ja, Herr Wachtmeister, genau so war das", während Andre angestrengt aus dem Beifahrerfenster schaute und um Fassung rang.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.