Kitabı oku: «Westerwälder Köpfe», sayfa 3

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Paul Deussen, 1845-1919, Philosoph und Indologe, Oberdreis


Nietzsches Freund

für mich ist Deussen neben August Sander und Friedrich Wilhelm Raiffeisen der Dritte im Bunde Westerwälder Kulturgrößen, deren Namen Weltgeltung haben. Lange Zeit, obwohl ich selbst in seinem Geburtsort lebe, hatte ich seinem Leben und Werk keine Beachtung geschenkt.

Es sei daher hier kurz erzählt, wie ich schließlich doch zu Paul Deussen kam. Schuld daran ist Nietzsche, der als junger Student einmal in Köln in ein Bordell geraten ist. Dort klimperte er freilich nur nervös ein paar Takte auf einem Klavier und nahm vor den verführerischen Schönen Reißaus, was er am nächsten Tag seinem Freund Paul erzählt. Der hat’s dann später aufgeschrieben, auf eine Weise, dass kein Geringerer als Thomas Mann davon beeindruckt war und die Szene in seinen Roman Doktor Faustus übernommen und ausgeschmückt hat.

Als ich vor einigen Jahren für einen »Literarischen Reiseführer Rheinland-Pfalz« den Westerwald als literarische Landschaft untersuchte, war ich heilfroh über diese Entdeckungen, denn markante Kulturspuren im Westerwald schienen mir durchaus überschaubar. Deussens eigenes Werk interessierte mich freilich am Anfang herzlich wenig. Ich war zwar schon viele Jahre Mitglied der Schopenhauer-Gesellschaft, wusste also, dass unser Oberdreiser Kopf Paul Deussen ihr Begründer war und die erste historischkritische Gesamtausgabe Schopenhauers herausgegeben hatte, doch was sollte ich beispielsweise anfangen mit einem Werk, das den Titel trägt Die Sutras des Vedanta oder die Shariraka-Mimansa des Badarayana?


Ehemaliges Pfarrhaus in Oberdreis, Deussens Elternhaus

In Oberdreis am 7. Januar 1845 als Pfarrerssohn geboren, wuchs Paul Deussen mit sieben Geschwistern in einer landwirtschaftlich geschäftigen Pfarrei auf; seine Mutter unterhielt ein angesehenes Mädchenpensionat. Paul ging zunächst wie alle Oberdreiser Kinder zur Elementarschule und wechselte später auf ein Gymnasium in Elberfeld. Ab 1859 besuchte er die fürstenschule Pforta bei Naumburg.


Deussenstraße in Oberdreis

Dort lernte er Friedrich Nietzsche kennen. Nach dem Abitur nahmen die beiden ihr Studium in Bonn auf. Auf dem Weg dorthin im Herbst 1864 und dann noch einmal 1865 über Karneval war Nietzsche für einige Tage bei den Deussens in Oberdreis zu Gast. In einem Brief an seine Schwester Elisabeth wird er später dem Westerwald nachsagen, er sei »grua-, grua-, gruselich kalt«. Ein andermal spricht Nietzsche von dem »glücklichen Oberdreis « – unschwer ist da die Ironie herauszuhören, wenn nicht gar der Seufzer der Erleichterung, dass ihm das Glück einer Oberdreis-Existenz erspart geblieben ist – wie auch ein »Schwager Paul«: als ihm die eigene Schwester eine Schwester Deussens als Lebensgefährtin ans Herz legte, wies er das Angebot höhnisch-höflich zurück. Nach den ersten Semestern in Bonn studierte Deussen in Tübingen und Berlin, spezialisierte sich nebenher auf Sanskrit und las, von Nietzsche angeregt, intensiv Schopenhauer. Seine Doktorarbeit schrieb er, 1868 zu Hause in Oberdreis, über den Plato-Dialog Sophistes; lange Zeit blieb ihm der Sinn dieser Schrift verborgen, bis er sich ihm endlich bei einem Gang auf den Oberdreiser Kopf erschlossen habe, so Deussen in seinen Lebenserinnerungen.


Aus: Paul Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, Leipzig 1901

In den Ferien vertrat er nicht selten seinen alten Vater im Gottesdienst. Er verstand sich durchaus als Christ, wenn auch eher in dem Sinne, dass der Kern aller Religionen identisch sei, »mit einer anderen Schale, mag sie nun etwas mehr oder weniger vollkommen sein – unvollkommen sind sie alle.«

Zunächst tätig als Lehrer in Minden und Marburg, übernahm er bald eine gutbezahlte Hauslehrerstelle bei einer russischen Adelsfamilie, um deren Sohn er sich in Genf und Aachen kümmerte – mit dem absurden Abschluss, dass sich sein Schüler bei einem Ehrenhandel erschießt. Er hielt erste Vorlesungen an den dortigen Universitäten, vertiefte sich in die heiligen Schriften Indiens und korrespondierte mit Nietzsche, der, sensationell früh in Basel zum Professor ernannt, ihn immer wieder provozierte, ihm etwa »Bauernstolz« vorwarf und ihn einen gelehrten »Kleinkrämer« nannte.


»Ekam sad vipra bahudha vadanti« (Rigveda I, 146, 46) »Die Wahrheit ist eine einzige, die Gelehrten erklären sie auf vielfältige Weise«. Deussen übersetzt: »Vielfach benennen, was nur eins, die Dichter.«

Wenige Jahre später sprach Nietzsche von dem »ersten wirklichen Kenner der indischen Philosophie in Europa, meinem Freunde Paul Deussen.« Der hatte sich 1881 in Berlin mit dem Werk Das System des Vedanta habilitiert, die 19 Jahre jüngere Marie Volkmar geheiratet und war schließlich Professor für Philosophie in Kiel geworden, wo er, zuletzt halberblindet, bis zu seinem Tode am 6. Juli 1919 als international geschätzter Denker wirkte, der erste Universitätsphilosoph überhaupt, der in Wort und Schrift die altindische Gelehrtensprache, das Sanskrit, beherrschte, und dies in einer brahmanischen Priestern ebenbürtigen Kompetenz. Der Hindu-Heilige Vivekananda, ein Schüler Ramakrishnas, hat ihn in Kiel besucht.


Ornament von Ernst Schneidler. Aus: Die altindische Philosophie nach den Grundworten der Upanishads. übersetzt von Paul Deussen. Jena 1914

Von hier aus machte er immer wieder weite Reisen, anfangs auch mit seiner Frau. So suchten sie Friedrich Nietzsche in seinem Schweizer Bergnest Sils-Maria auf; der Freund war von der jüdisch-melancholischen Schönheit Mariechens beeindruckt. 1891/92 unternahmen sie eine halbjährige Indienreise, wo ihm die hohe Ehrung der Umgürtung mit der heiligen Opferschnur der Brahmanen zuteil wurde und die sanskritische Form seines Namens: Devasena. Am liebsten aber fuhr Deussen nach Rom zu seiner Freundin Henriette Hertz, einer Kunstmäzenin – wie seine Frau deutsch-jüdischer Herkunft –, die 1912 an der Via Gregorina ein bedeutendes kunsthistorisches Institut gründete, die »Bibliotheca Hertziana«. Mehrfach kam er auch zurück in sein Heimatdorf. Hatte schon Nietzsche in einem Brief an seine Schwester Elisabeth gefragt: »Willst Du nicht einmal Oberdreis ansehn?«, so ist diese Frage heute um so berechtigter, zumal sich hier, gleich neben der evangelischen Kirche, Deussens Elternhaus und Grabstätte befinden.

Falls Sie auf Deussen neugierig geworden sind: Fangen Sie mit dem ersten Band seiner Philosophiegeschichte an, der Sie behutsam, vom bekannten Denken des Westens ausgehend, ins Indische führt. Lesen Sie in Ergänzung meiner Biographie Deussens eigene Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, beschaffen Sie sich seine Elemente der Metaphysik, deren wunderbare Schluss-Sätze an Kant gemahnen, an dessen Aussage vom bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir. Und falls Sie ein Faible haben für das fernöstlich Meditative, vielleicht angeregt durch eigene Yoga-Übungen, so nehmen Sie seine weltberühmte Upanishaden-übersetzung zur Hand. Paul Deussen, durchaus klischeehaft sich vorzustellen als wilhelminischer Professor mit Schlapphut und Gehrock, weißem Bart und Goldbrille: ein Geistessouverän, alle Barbarei und Gewalttätigkeit verabscheuend, also auch den Ersten Weltkrieg: ein Pionier als übersetzer heiliger Hindu-Schriften, ein global philosopher, dessen Stimme im heutigen interreligiösen Diskurs weiterhin Gehör verdient. Sein Werk war z. B. für Hesse, Gandhi, Max Beckmann, Jorge Luis Borges oder Erwin Schrödinger Quelle und Anregung. Ja, es ist ungemein lohnenswert, sich mit dem Denk- und Lebensweg dieses Westerwälders zu beschäftigen, der, vom Dorfe kommend, auszog, im Weltdorf die metaphysische Vielfalt zu studieren, beseelt von der Ahnung ihrer geheimen Einheit, bestrebt, nationale und religiöse Enge zu überwinden.

HF

E i n e n Nutzen wird das allgemeinere Bekanntwerden der indischen Weltanschauung doch haben, diesen nämlich: uns zum Bewußtsein zu bringen, daß wir mit unserm gesamten religiösen und philosophischen Denken in einer kolossalen Einseitigkeit stecken, und daß es noch eine ganz andere Art, die Dinge anzufassen, geben kann.

Paul Deussen

Denken mit Deussen

Die schöne Ruhe in den Deussen-Schriften, der seine Gedanken am liebsten laut vortrug, vor großem Publikum. Bei Nietzsche hat man in aller Lesestille den Eindruck, angeschrien zu werden.

Der Tod schien ergeben gewartet zu haben, bis Deussen mit seiner Philosophiegeschichte von den Ursprüngen übers Mittelalter in der Neuzeit, vom Orient wieder im heimischen Okzident angelangt war.

Die verblüffende Ähnlichkeit des Steinblocks bei Surlej im Engadin, wo Nietzsche 1881 sein mystisches Erlebnis der Ewigen Wiederkunft hatte, mit dem Beilstein bei Oberdreis im Westerwald, in dessen Nähe dem jungen Deussen 1868 urplötzlich das unwandelbare Eine im Schein der Vielheit aufleuchtete. Deussens Basaltbrocken, Nietzsches Granitfels – »große, leise sprechende Natur«.

Neben dem Beilstein gibt es in Oberdreis ein zweites Naturdenkmal: eine uralte Eibe. Auch Nietzsche wird sie bei seinem Aufenthalt in Oberdreis gesehen haben. Seither ist im Ort die Redewendung geläufig: Wenn du zur Eibe gehst, vergiß den Nietzsche nicht.

Nietzsche, der Un-Freund, der fortwährend Bedingungen stellte. Deussen war im Grunde mit allen Menschen gut Freund, nur mit einem nicht, mit Nietzsche. Nietzsche gekannt, erduldet, überstanden zu haben – eine Lebensleistung an sich.

Deussens Fahrt in Eilzügen durch Indiens Nächte, als trüge es ihn beinahe schon außerhalb von Raum und Zeit an das Ziel der immerwährenden Wahrheit; die moderne Beschleunigung als metaphysische Hilfe, und keine Pferde-, Kuh-, Elefantenstärke.

Immer wieder lugt aus den Schriften Deussens der lustige Paul hervor, so wenn er im Index die Heiligen Wahrheiten zwischen Hasenhorn und Heuhund plaziert, Frauen, mehrere erlaubt, die Tänzerin weit, weit vor dem Tod auftreten läßt, dann aber festhält: Weiber ausgeschlossen.

… »etwas so völlig Sinnloses und daher gerade besonders Geeignetes wie die Silbe Om …«

Aus: Heiner Feldhoff, Paul Deussen und ich, Nachträge aus Oberdreis. 2011

Karl Wilhelm Diefenbach, 1851-1913, Künstler und Lebensreformer, Hadamar


Der malende Messias

Er war ein charismatischer Mensch, der niemanden kalt ließ, der ihm begegnete. Die einen verehrten ihn als visionären Maler und Messias einer Naturreligion, die anderen verhöhnten ihn als Kohlrabi-Apostel. Das Leben des Künstlers Diefenbach war ein ständiger Kampf mit der erstarrten Bürgerlichkeit der Jahrhundertwende, mit seinen widersprüchlichen Triebkräften und seinen vielen Krankheiten.

In Hadamar, am Rande des südlichen Westerwalds, wird er am 21. Februar 1851 in eine arme, sehr religiöse Familie hineingeboren. Vom Vater, Zeichenlehrer am Gymnasium, erbt er die künstlerische Begabung, aber auch die Anfälligkeit für Krankheiten. Und die fürsorgliche Mutter hinterlässt ihm seine lebenslange Sehnsucht nach einer hingebungsvollen Frau, die »wie Wachs mich umfließt«. Vom Wunsch beseelt, Maler zu werden, bricht er die Schule ab, schlägt sich als Gehilfe eines Fotografen durch, bis er es an die Kunstakademie in München schafft. Als seine Eltern 1875 kurz hintereinander sterben und er in lähmende Trauer verfällt, kritisiert ihn der Herzog von Nassau, der sein begabtes Landeskind mit Aufträgen und Stipendien fördert, er solle sich mehr um seine Entwicklung als Künstler sorgen. Stolz antwortet Diefenbach: »Hoheit, meine Aufgabe ist es in erster Linie, Mensch zu sein.«

An der Akademie werden seine Gemälde, die von der mystisch-symbolischen Kunst Franz von Stucks und den Historienschinken von Piloty beeinflusst sind, durchaus anerkannt. Jedoch wird seine Ausbildung unterbrochen durch eine schwere Typhus-Erkrankung, die wegen eines ärztlichen Fehlers schließlich zum Verlust großer Teile der Muskulatur des rechten Armes führt. Die andauernde Vereiterung heilt er 1878 durch eine wochenlange Traubenkur in Italien. Das ist das Schlüsselerlebnis für seine Lebensreform! Vier Jahre später gründet er in München den Verein »Menschheit«, der das Programm einer neuen natürlichen Lebensweise vertritt: Radikaler Verzicht auf Fleisch, Alkohol, Koffein und Tabak – und das mitten im Eldorado der Schweinshaxen und des Bieres. Gegen die Fischbeinkorsetts für Damen, die ihren Brustkorb verformen, und die steifen Kragen für Herren, sogenannte »Vatermörder«, propagiert er eine leichte wollene Kleidung für beide Geschlechter in der Art einer Mönchskutte. Langhaarig und mit wildwachsendem Bart wandelt er prophetengleich durch München und hält in großen Sälen gut besuchte Vorträge darüber, wie der Mensch leben sollte. Dazu gehört vor allem auch eine Abkehr von den christlichen Religionen mitsamt ihrer rigiden Sexualmoral.

Sein eigenes Verhalten erscheint dabei allerdings ethisch fragwürdig. Zunächst geht er eine Liebesbeziehung mit Maximiliane Schlotthauer ein, die er beim Schlittschuhlaufen kennen lernt, trennt sich aber von ihr, weil sie ihm ein uneheliches Kind aus einer früheren Beziehung verheimlichte. Doch lässt er sie nie ganz los, denn immer wieder ruft er seine »Maja« zu sich, wenn es ihm dreckig geht. Parallel zu dieser Affäre hat sich ihm Margarete Atzinger als Krankenpflegerin so weit genähert, dass sie von ihm schwanger wird und 1880 den Sohn Helios zur Welt bringt. Durch seelische Erpressung gelingt es ihr, ihn in eine – wie sich später erweisen wird – Ehehölle zu drängen. Am Tag nach der Hochzeit flieht Diefenbach auf den Hohenpeißenberg in die Einsamkeit. Beim Anblick der aufgehenden Sonne und der erleuchteten Kette von Alpengipfeln widerfährt ihm dort ein Erweckungserlebnis: »Erkenne, Menschheit, deine Mutter, die NATUR, die rein und frei als höchstes Wesen dich geboren…«

Dass immer mehr junge Männer und Frauen diesem faszinierenden Guru am Kuttenzipfel und, wenn weiblich, an den Lippen hängen, reizt das Münchner Bürgertum und die Obrigkeit ungemein. Auf der Straße wird ihm »Orang-Utan« und »Kohlrabi-Apostel« nachgerufen, seine Vorträge werden verboten, und die Presse feindet ihn an. Vor diesen Angriffen zieht sich Diefenbach mit Familie und Gefolgschaft in einen Steinbruch bei Höllriegelskreuth zurück und gründet in einem verlassenen Arbeiterhaus seine erste Kommune: HUMANITAS, Werkstätte für Religion, Kunst, Wissenschaft.

Hier stößt als Malschüler der junge Hugo Höppener zu ihm, den Diefenbach »Fidus«, der Getreue, nennt, ein Künstlername, mit dem Höppener später als Jugendstil-Maler bekannt wird. Fidus hilft seinem oft bettlägerigen »Meister«, das große Gemälde »Kindermusik« zu vollenden, später unter dem Titel »Per aspera ad astra« berühmt geworden, ein Fries von 68 Metern Länge, der heute im Schlossmuseum Hadamar zu bestaunen ist.


»Per aspera ad astra« (Eine Tafel des Frieses, aufgenommen im Schlossmuseum Hadamar)

Doch Diefenbachs Gegner belauern ihn. Ein Gendarm beobachtet die nackt in der Wildnis von Höllriegelskreuth herumtollenden Kinder Helios und Stella und sieht auch Fidus, der »im adamitischen Kostüm seinen Allerwertesten unehrerbietig zum Himmel gerichtet« habe, so die Zeitung »Münchner Post« im August 1888. Diefenbach und sein Schüler werden im ersten Nudisten-Prozess Deutschlands wegen unsittlichen Gebarens angeklagt und verurteilt.

Von der Sensationspresse gejagt und von Schulden gedrückt nimmt Diefenbach 1892 den Vorschlag des Direktors des Österreichischen Kunstvereins an, seine Werke in Wien auszustellen. Die Ausstellung, für die er großformatige Bilder in kurzer Zeit malt, wird ein riesiger Erfolg. Angelockt von dem Ruf des Künstlers als skandalöser Bürgerschreck eilen die Neugierigen zu Zehntausenden herbei. Die beträchtliche Summe der Eintrittsgelder unterschlägt Direktor Terke und treibt Diefenbach durch ein betrügerisches Darlehen auch noch in den Ruin und die Obdachlosigkeit.

Mit seiner Familie und einer kleinen Schar seiner Getreuen verlässt er Österreich und wandert zu Fuß über die Alpen nach Italien. Schließlich landet er am Gardasee, wo er Unterkunft auf einem Besitztum der Herzogin von Ferrari findet. Angetan von seiner Kunst finanziert sie ihm eine Reise nach Ägypten, wo er sich mit seinem Gefolge in einer kleinen Villa bei Kairo niederlässt. Die Besichtigung der Sphinx in Gizeh beflügelt ihn zu dem monumentalen Entwurf eines 250 Meter langen und 40 Meter hohen Tempels »HUMANITAS« – Zeugnis des Größenwahns, der ihn so manches Mal packt.

Zurückgekehrt aus Ägypten versucht Diefenbach, noch einmal in Österreich Fuß zu fassen. In Himmelhof bei Wien gründet er 1897 eine Landkommune, die Vorbild für viele der folgenden ökologischen und spirituellen Experimente des Zwanzigsten Jahrhunderts wird. Bis zu 20 Jünger und Jüngerinnen sammeln sich um ihn und seine Lehre, darunter der junge Gusto Gräser, der später die legendäre Gemeinschaft auf dem Monte Verità bei Ascona gründet, von der sich Hermann Hesse und viele andere Geistesgrößen inspirieren lassen. Doch das Zusammenleben in Himmelhof ist konfliktreich. Diefenbach tritt sehr patriarchalisch auf, verlangt von allen Jüngern Tagebuchaufzeichnungen, die er kontrolliert, und fordert Keuschheit innerhalb der Gemeinschaft, ein Gebot, das für ihn nicht gilt. Nach und nach verlassen ihn deshalb die besten Köpfe der Kommune, an der Spitze sein Lieblingsjünger Gräser.


Du sollst nicht töten, 1903


Diefenbach in der Kommune »Himmelhof« bei Wien

Ein letztes Mal macht sich Diefenbach auf, um endlich an einem paradiesischen Ort zur Ruhe zu kommen. über die Zwischenstation Triest erreichen er und die Seinen Capri, wo er schließlich in der »Casa Grande « auf einer Klippe über dem Mittelmeer seine Lebensflucht enden lässt. Obwohl von allen möglichen Gebrechen geplagt, zieht Diefenbach auf Capri eine Reihe von jüngeren Frauen in seinen Bann, die ihn umsorgen, ab und zu auch sexuell. Noch einmal gerät er in einen Schaffensrausch, malt die Fels- und Meerlandschaft, wird mit seinen Bildern wohlhabend. Doch wird er als Künstler nur auf der Insel wahrgenommen, in Österreich und Deutschland ist er vergessen.


»Der Rettung entgegen«, Öl auf Leinwand, Capri 1913

Bis in seine letzten Tage arbeitend, stirbt am 15. Dezember 1913 der Verkünder eines befreiten Lebens, der oft Bewunderte und oft Verlachte – unter Qualen an einer Krebserkrankung.

CG

Margaretha Flesch, 1826-1906, Ordensgründerin, Waldbreitbach


O du selige Mutter Rosa

Pilgern ist in Mode, selbst der strapaziöse Jakobsweg findet mehr und mehr Zulauf. Manchen genügt indes ein besinnliches Gehen vor den Klostertoren daheim, z. B. im Nistertal oder im Wiedtal. So ist denn der Westerwald eine gesegnete Landschaft? In materieller Hinsicht gegenwärtig gewiss, doch auch geistlich? Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen äußerer Armut und religiösem Reichtum: Aus der Not sprießen zuweilen die schönsten Tugend- und Glaubensblüten hervor, auch im gar nicht so unglücklichen 19. Jahrhundert, und eine solche nannte sich, als sie 1863 ihre katholische Genossenschaft gründete, Maria Rosa.

Begibt man sich heute auf den Höhen vor Waldbreitbach zur weithin sichtbaren Klosteranlage der »Franziskanerinnen von der allerseligsten Jungfrau Maria von den Engeln«, so gewahrt der aufmerksame Besucher sogleich, wie spirituell und unternehmerisch lebendig sich das von Margaretha Flesch ins Leben gerufene karitative Werk präsentiert und welche posthume Verehrung der Seligen hier zuteil wird, als solle nachgeholt werden, was ihr auf das Hinterhältigste zu Lebzeiten verweigert worden ist. Doch der Reihe nach.

Ihr Geburtsjahr fällt in die nachnapoleonische Umbruchszeit. Im preußisch gewordenen Rheinland verlor der offizielle Katholizismus erheblich an Einfluss, die beginnende Industrialisierung, Landflucht und Missernten führten zu sozialem Elend, ins dörfliche Abseits gelangte kaum je ein Arzt, Waisenkinder fielen zur Last und wurden nicht selten in die Fremde verkauft. Auch Margaretha Flesch geriet in ihrer Jugend in eine prekäre Familiensituation. Geboren wird sie am 24. Februar 1826 als Tochter eines OÅNlmüllers in der Klostermühle von Schönstatt bei Vallendar, als Sechsjährige verliert sie ihre Mutter, eine Witwe kommt als Stiefmutter mit eigenen Kindern ins Haus. 1838 zieht die Familie in die Keltermühle im Fockenbachtal, vier Jahre später stirbt auch der Vater. Nun ist Margaretha als Älteste von sechs Geschwistern mitverantwortlich für den Lebensunterhalt, indem sie z. B. Heilkräuter sammelt und an den Apotheker verkauft. Die Lage wird noch schwieriger, als die Stiefmutter ein uneheliches Kind zur Welt bringt.


Kreuzkapelle mit Stationsweg zum Kloster (1912)

Die hübsche Margaretha wird inzwischen selber von jungen Männern umworben, doch nach der Teilnahme 1844 an der Heilig-Rock-Wallfahrt nach Trier, wo sie einem Priester erzählt, sie habe einst im Traum ihrem Schutzengel versprochen, als Jungfrau »schlicht und einfach unter den Menschen zu leben«, reift in ihr der Entschluss, ein eigenes »Klösterchen« zu errichten, um Armen, Alten und Waisen helfen zu können. Im Herbst 1851 zieht sie mit ihrer Schwester Marianne, die an der Fallsucht, der Epilepsie, leidet, in eine leerstehende unbeheizte Klause der Kreuzkapelle, zwischen Hausen und Waldbreitbach direkt an der Wied gelegen. Geld verdient sie sich als Näherin und als Aushilfslehrerin in den Nachbardörfern, sie pflegt Kranke, kümmert sich um Kreuzkapelle mit Stationsweg zum Kloster (1912) Waisenkinder.

Dann, zehn Jahre später, muss sie zugunsten eines früheren Schulkameraden, des gelernten Schuhmachers Peter Wirth, die Klause verlassen, der, auf Drängen des Ortspfarrers Jakob Gomm, mit einem Freund hier einziehen soll. Auch er trägt sich mit der Absicht, eine franziskanische Gemeinschaft zu gründen, und Pfarrer Gomm sieht in ihm offenbar den Geeigneteren. Margaretha, in eine Mietwohnung verbannt, gibt nicht auf. Sie kommt auf den abenteuerlichen Gedanken, oben auf dem Kapellenberg, auf den von alters her ein steiler felsiger Kreuzweg führt, ihr eigenes Klösterchen zu erbauen. Vergeblich sucht der Pfarrer ihr dieses Vorhaben auszureden, doch wider Erwarten bekommt sie die notwendigen Gelder und Genehmigungen zusammen; monatelang schleppen »dat Jritt« und die beiden Gefährtinnen, die sich ihr angeschlossen haben, das Baumaterial mit der Hotte auf dem Rücken hinauf; auch ihr Stiefbruder Ägidius hilft ihr.


Peter Wirth (Bruder Jakobus) mit einem Waisenknaben

Und das Erträumte wird Wirklichkeit: 1863, das Marienhaus und ein kleiner Krankentrakt sind inzwischen fertig, darf sie die Gelübde ablegen, sie verpflichtet sich in der Profess zu Armut, Gehorsam, Keuschheit und nimmt den Namen Maria Rosa an, Rosa nach der heiligen Rosa von Viterbo.

Erstaunlich genug: Fast gleichzeitig gründen in Waldbreitbach und gegenüber in Hausen Bruder Jakobus alias Peter Wirth und Mutter Rosa alias Margaretha Flesch franziskanische Gemeinschaften, die bis in unsere Tage hinein in engagierter Nächstenliebe tätig sind. Ausgangspunkt war für beide die Kreuzkapelle, eine Westerwälder »Portiunkula« (so nennt sich die historische Kapelle des Franz von Assisi). Zitat Mutter Rosa: »Der liebe Gott sucht das Kleine aus, wenn er Großes vorhat.«

Das Werk expandiert rasch, nah und fern entstehen Filialen. Da unterbricht 1870 der Deutsch-Französische Krieg ihre Arbeit und ruft »alle barmherzigen Schwestern« in die Lazarette, auch Mutter Rosa ist dabei und pflegt die Verwundeten, wofür sie nach dem Krieg das »Eiserne Kreuz« erhält, zu einem Zeitpunkt also, als der Kulturkampf alles Katholische schikaniert und einschränkt. Doch in einem »Gesicht« glaubt Mutter Rosa zu erkennen, dass ihr der Kaiser Wilhelm wohlgesonnen ist. Ihre Visionen teilt sie auch einer Freundin mit, der Adligen Octavie de Lasalle, die auf Schloss Dagstuhl bei Wadern lebt, wo die Waldbreitbacher Franziskanerinnen eine Filiale gegründet haben.


Ölgemälde von Octavie de Lasalle, ca. 1866

Dreißig Jahre zuvor hatte sich Octavie in Bad Ems mit eben diesem Wilhelm eingelassen, als er noch General und Prinz von Preußen war, und von ihm ein Kind bekommen. Sie führte hernach ein frommes Leben und betätigte sich als Malerin, ihr Porträt einer jugendlichen Mutter Rosa in Ölfarbe auf Zinkblech idealisiert die reale Margaretha Flesch ins Engelhafte. Diese selbst fertigt in den wenigen freien Stunden, die ihr neben Arbeit und Gebet bleiben, nazarenisch-romantische Stickbilder; in ein Bild vom hl. Josef stickt sie die Namen der ihr wesentlichen Tugenden, zuunterst rangiert, als Fundament, die Demut. Diese christliche Grundtugend, von Nietzsche zur gleichen Zeit als Sklavenmoral denunziert, wird schließlich zu ihrer größten, 28 Jahre währenden Herausforderung.

Nach den Statuten kann sie 1878 – mittlerweile wirken nahezu hundert Schwestern in 21 Filialen – als Generaloberin nicht wiedergewählt werden, Eifersüchteleien, Intrigen, Manipulationen vor allem ihrer Nachfolgerin Agatha Simon und des geistlichen Rektors Konrad Probst verhindern Ölgemälde von Octavie de Lasalle, ca. 1866 auch ihre drei Jahre später mögliche Wiederwahl: sie wird zur einfachen Schwester degradiert und abgeschoben, weit fort, u.a nach Niederwenigern, sprechender kann der Name nicht sein. Eine schwere Kränkung, von der sie sich nie mehr recht erholt, auch wenn sie selbst sagt: »Die Demütigungen und Beleidigungen sind die Perlen der Bräute Christi.« Kurzfristig regt sich Widerstand in ihr, immerhin sind die meisten Liegenschaften auf ihren Namen eingetrage


Mutterhaus auf dem Waldbreitbacher Klosterberg

n, könnte sie nicht eine neue Genossenschaft gründen? Doch sie gibt der Versuchung nicht nach und schickt sich in ihr Los, wird in Niederwenigern gar zur Namenlosen, da hier bereits eine Maria Rosa lebt und während des Kulturkampfes Aufnahme bzw. Versetzung von Ordensschwestern untersagt sind. Aus Sorge, sie könne der Gemeinschaft doch noch schaden, wird sie ins Mutterhaus zurückbeordert, wo sie als einfache Schwester, ins Schweigen abgedrängt, ihre letzten Jahre zubringt: Ihre Aufzeichnungen werden vernichtet, aber die junge Schwester Marzella Schumann schreibt heimlich die mündlichen Erinnerungen der zuletzt Schwerkranken auf. Am 25. März 1906 stirbt Margaretha Flesch, 80 Jahre alt.

1957 beantragt, fand die Seligsprechung der Mutter Rosa am 4. Mai 2008 im Trierer Dom statt. Joachim Kardinal Meisner verlas bei dem feierlichen Ritus das Apostolische Schreiben von Papst Benedikt XVI. Der Sarkophag mit den Gebeinen der Seligen wurde vier Tage später ins Wiedtal zurück überführt, zunächst zur Kreuzkapelle, wo alles angefangen hatte, und schließlich wieder hinauf in die Mutterhauskirche der Franziskanerinnen.

HF

Der Sünder ist der Mensch, der seinen Mittelpunkt allein in sich selbst hat, um sich kreist, sich selbst Gott ist. Der Heilige hat (nach einem Wort von S. Weil) seinen Mittelpunkt aus sich heraus verlegt. So kann er auf überraschende Weise fruchtbar werden. für mich ist es erschreckend und faszinierend zugleich, zu sehen, wie radikal Mutter Rosa diese Haltung gelebt hat.

Stephan Ackermann, Weihbischof, 2008

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25 mayıs 2021
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