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Kapitel 3: Die Zentren des Blues
Trotz der Fragwürdigkeit mancher Zuordnungen halten die meisten Autoren an der absolut zentralen Bedeutung des Deltablues unerschütterlich fest. Ein typisches Beispiel wissenschaftlicher Literatur soll hier für alle anderen stehen. Robert Springer beschrieb in seinem nützlichen und kenntnisreichen Buch über authentischen Blues die Kennzeichen des Deltabluesstils wie folgt:
»Die Deltablues sind nicht sehr ausgefeilt; sie basieren auf der Grundharmonie, wobei die Subdominante und Dominante oft mehr angedeutet als tatsächlich gespielt wird. Im Allgemeinen werden sie von Gitarren und/oder Mundharmonika begleitet, manchmal kommen perkussive Ergänzungen dazu oder Ad-hoc-Instrumente. Die Melodieführung ist relativ eng und entwickelt sich kaum. Die antiphone Verbindung zwischen Sänger und Instrument ist normalerweise einfach, aber stellenweise Unisono-Passagen zwischen Stimme und Gitarre sind charakteristisch für diese Blues.« (S.70)
Das Mississippidelta wird im Osten vom Yazoo-River und im Westen vom Mississippi zwischen Vicksburg und Memphis begrenzt. Die Gegend zwischen den beiden Flüssen ist bretteben und hatte als Schwemmland sehr fruchtbare Böden, die ideal für Plantagenbau waren. Anfang des Jahrhunderts lebten dort prozentual mehr Schwarze als irgendwo sonst in den USA. Im Delta waren es weit über die Hälfte der Bevölkerung, Nachkommen jener Sklaven, die das Land erschlossen hatten. Eine Statistik von 1930, die Jeff Todd Titon in seinem Buch Early Downhome Blues anführt, dürfte eher zu geringe als zu hohe Zahlen enthalten. Danach lebten in den USA insgesamt knapp 2,9 Millionen Familien, davon nur 610.000 im Norden! Die schwarze Bevölkerung im Süden teilte sich in 785.000 städtische und 1,4 Millionen ländliche Familien auf. Ungefähr zwei Drittel davon, also knapp eine Million Familien, lebten auf oder bewirtschafteten Farmen. Ungefähr 400.000 Familien hausten auf kleinen Farmen, etwa 550.000 arbeiteten auf den Baumwollfeldern. Im Delta wurde die Wirtschaft auch nach dem Ende der Sklaverei von der Baumwollindustrie bestimmt. Vermittler lockten zahllose Schwarze als billige Arbeitskräfte auf die Plantagen, die ausschließlich Weißen gehörten. Schwarze konnten es bestenfalls zu bescheidenem Landbesitz bringen, hatten sonst den feudalistischen Status von Share-Croppers, Share-Renters oder Cash-Renters. Sie lebten meist in primitiven Hütten und waren de facto ohne Bürgerrechte, da die Verwaltung der Union sich nicht in die regionalen Belange einmischte. Schließlich waren und sind die USA. ähnlich föderalistisch organisiert wie die Bundesrepublik. Anfang des Jahrhunderts gab es in Mississippi noch Lynchjustiz, Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung, die sexuelle Ausbeutung schwarzer Frauen eine Selbstverständlichkeit. Und da Unterdrückung im Gegensatz zur Meinung von Sozialromantikern nicht zwangsläufig Rebellion und Revolution produziert, sondern ebenso oft die Repression verinnerlicht, waren die Verhaltensweisen vieler Schwarzer untereinander ähnlich brutal wie die Missetaten, die Weiße an ihnen begingen. Während Letztere freilich meist straflos blieben, waren die Arbeitslager und Gefängnisse voll mit schwarzen Delinquenten, die als Zwangsarbeiter beim Deichbau, auf den Feldern und bei der Bewässerung der Felder eingesetzt wurden. Hier fanden die ersten Feldforscher der schwarzen Folklore noch ähnliche Verhältnisse vor, wie sie zu Zeiten der institutionellen Sklaverei ein Jahrhundert zuvor geherrscht haben dürften.
Diese Situation war bis Ende der Fünfziger Jahre praktisch konstant. Erst die liberale Bürgerrechts-und Protestbewegung der Sechziger Jahre konnte nach harten Kämpfen und vielen Opfern gegen Polizeibrutalität und den massiven politischen Widerstand der Besitzenden Abhilfe oder wenigstens Erleichterungen schaffen. Stillschweigender, manchmal auch offener Rassismus ist im Süden aber bis heute vorhanden.
Der integrierende Faktor Nummer eins ist nach wie vor die Musik, die von Einsichtigen inzwischen als die wichtigste kulturelle Produktion erkannt wird, wichtiger noch als mit Pestiziden durchtränkte Baumwolle. Nicht zuletzt sind Bluestourismus und museale Traditionspflege eine beachtliche Einnahmequelle geworden.
Die vermittelnde Rolle der Musik zwischen den ausübenden Musikern ist im Detail noch nicht genau untersucht. Selbst ein großangelegter Repertoirevergleich steht noch aus. Versucht man so etwas innerhalb der eigenen Bestände, erhärtet sich jedenfalls der bereits geäußerte Verdacht, dass sowohl in der kommerziellen wie in der nichtkommerziellen Musik der ländlichen Gebiete ein gemischtes, weitgehend ähnliches Repertoire aus Folksongs, Blues und Balladen sich großer Beliebtheit erfreute und vor allem von den Stringbands gepflegt wurde, die bei den großen und kleinen Festlichkeiten zum Tanz aufspielten. Das dürfte auch im Delta nicht anders gewesen sein. Immerhin haben wir die gewichtige Aussage eines Son House, der sich an seine frühen Auftritte mit Charley Patton bei ländlichen Tanzvergnügungen erinnerte und damit zugleich die Unterstellung konterkarierte, es habe sich bei den Tänzern um zurückgebliebene Landeier mit altväterischem Geschmack gehandelt. Im Gegenteil:
»House sagte, er und Patton hätten Tanzstücke gespielt, die ohne Pause bis zu einer halben Stunde lang gewesen seien. Breakdowns und Square-Dances hätten als altmodisch gegolten; die Leute wollten die aktuellste Musik und die neuesten Tänze hören. Blues erfüllte diesen Zweck auf ideale Weise.« (Titon, S. 28.)
Trotzdem hat bei der Darstellung des Deltablues das Image des Einzelinterpreten in seiner möglichst dämonischen Variante fast alles überlagert, nicht zuletzt ein Problem engagierter, gutgemeinter aber einseitiger Darstellungen seit Samuel B. Charters. Auch Feldforschung schützte vor Irrtum nicht, vor allem wenn der Forscher ein Frantz Fanon lesender Intellektueller wie William Ferris Jr. war, dessen Buch Blues From The Delta (1970) als modernes Grundlagenwerk gilt.
»Regionale Unterschiede wurden während meiner Feldforschungen im Mississippidelta deutlich, wo Schwarze sich auf den Blues als ›ihre‹ Musik beziehen. Deltablues ist in dieser Gegend ursprüngliche schwarze Kultur und hat mit der traditionellen weißen Musik wenig gemein. Einer meiner schwarzen Informanten, Tom Dumas, verbrachte die meiste Zeit seines Lebens außerhalb des Deltas in Walthall, Webster County, einer Gegend, in der die musikalische Tradition der Schwarzen stark von traditioneller weißer Musik beeinflusst ist. Dumas musikalisches Repertoire bestand ausschließlich aus Square-Dance-Melodien, die er auf der Fiedel und auf dem Banjo spielte und als er ins Delta zog, merkte er, dass nur Weiße an seiner Musik interessiert waren. Die Volksmusik, die als Kommunikationsmittel zwischen Schwarzen in Webster County funktioniert hatte, konnte das im Delta nicht leisten. Obwohl schwarz, fühlt Dumas keine Identität mit der Musik anderer Schwarzer in seiner Gemeinde. Er sagte mir: ›Ich spielte bei Tanzveranstaltungen dort, als ich sehr jung war, fünfzehn oder sechzehn. Ich lernte das dort. Die Leute hier mögen kein Gefiedel. Niemand mag das außer den Weißen. Farbige mögen diese Art von Musik nicht. Ich übe ein wenig und spiele für mich allein ... Ab und zu geh ich weg und picke ein bisschen Banjo für die Weißen. Die Farbigen hören das nicht gern.‹«
An dieser Darstellung ist schief, was nur schief sein kann. Was Ferris nicht in Betracht zog, war, dass auch schwarze Musik zeitweise Moden unterliegt und dass in den Sechziger Jahren Square Dances nicht nur im Delta und nicht nur bei Schwarzen mega-out waren. Das war nicht immer so gewesen. Als Jeff Todd Titon Menschen im Delta nach ihren Erinnerungen an frühe Tanzvergnügen befragte, kam er zu dem Ergebnis: »Die populärsten Tanzschritte waren Walzer, Foxtrott und Twostepp. Keiner der Befragten erwähnte Square-Dancing zu Musik aus dem Phonographen, allerdings tanzten sie zu Livemusik häufig Square-Dances. Offensichtlich machte Square-Dancing so viel Lärm, dass man die Musik nicht hören konnte und war so heftig, dass die Nadel aus der Rille sprang.«
Das war in den Sechziger Jahren freilich lang her und das Delta war gerade damals Zentrum des ersten großen Countryblues-Revivals, in dem Jugbands und Stringbands höchstens von einigen Collegestudenten und Hippies als randständige Kuriositäten gewürdigt wurden. Immerhin, auch Dumas' Aussage stützt den Verdacht von Repertoireüberschneidungen unter bestimmten sozialen Bedingungen.
Die Behauptung, die Leute im Delta hätten etwas gegen Banjos und Fiedeln im Blues gehabt, ist ebenfalls kaum haltbar. Man vergleiche etwa frühe Aufnahmen der Mississippi Black Snakes etc., von Charlie McCoy, Tommy Johnsons »Cool Drink of Wate Blues« vom 3. Februar 1928 und vor allem Charley Pattons »Going to Move to Alabama« – dem prototypischen Deltablueser überhaupt – mit dem Fiddler Henry Sims (1890 – 1958).
Es war wohl ein ganz anders gearteter Umstand als die folkloristische Stimmigkeit, der die Bluessänger im Delta zu dem werden ließ, was sie waren: lebende Legenden. Und dieser Umstand war sehr konkret. Big Bill Broonzy benannte ihn in seinen Memoiren ohne Zögern: »Diese Männer hatten keine Ahnung, wie Baumwolle, Mais, Reis und Zuckerrohr wachsen und es interessierte sie auch nicht die Bohne. Sie gingen aus, putzten sich jede Nacht fein heraus und manche von ihnen hatte drei oder vier Frauen. Die eine fütterte ihn und die andere kaufte seine Klamotten und Schuhe. Das waren die Männer, die Zehndollar-Stetsons trugen und Zwanzigdollar-Stücke an ihrer Uhr und Diamanten in ihren Zähnen oder an den Fingern.«
Nur im Unterhaltungsgewerbe konnte ein schwarzer Mann die harte Arbeit auf den Feldern mit einigem Anstand vermeiden. Die Alternative zum Musiker war eigentlich nur, als Zuhälter herumzulaufen.
Ferris Jr. hätte es gerne anders gehabt: »So stand der Bluesspieler deutlich abseits vom Rest der schwarzen Gemeinde und benutzte seine musikalischen Fähigkeiten dazu, die schwere körperliche Arbeit zu vermeiden, die das Geschick der meisten Schwarzen im ländlichen Süden war. Solche Sänger wurden oft musikalische Sprecher für die gesamte schwarze Gemeinde, insofern ihre Blues ein Leid ausdrückten, mit dem sich alle Schwarzen identifizierten. Bluessänger spielten in ihren Texten häufig auf örtliche Ereignisse und Personen an, drückten das Leid der Schwarzen sowohl als Individuen wie als Gruppe aus.«
Dieses schwer belegbare ideologische Konstrukt diente vor allem dazu, eine nahtlose Geschichte schwarzer Leidensidentität seit den Sklaventagen zu rekonstruieren, ein permanentes Anliegen intellektueller Masochisten, denen selbst vor lauter Grübeln die Lebensfreude abhandengekommen ist. Doch die Fakten liegen anders. Deshalb bleibt Ferris Jr. auch Belege für seine These vom Bluesmusiker als Sprecher der schwarzen Gemeinde schuldig. Wie in allen ehemaligen Stammesgesellschaften hätte diese Position übrigens niemals ein Künstler, eher vielleicht ein gewählter Häuptling oder eine Schamanin einnehmen können.
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Hier soll mitnichten das Widerstandspotential des Blues in Frage gestellt werden. Ganz im Gegenteil. Nur der Begründungszusammenhang ist anders. Ganzheitlicher und individueller. Es wird nämlich darauf insistiert, dass der Blues nicht nur klagend bis wehleidig daher kam, auch nicht im Delta, sondern viel mehr und viel gelungenere Formen individuellen Widerstands zu entwickeln in der Lage war. Ein Umstand, den schon der kauzige aber kluge Jazzfranzose Hugues Panassié in seiner Geschichte des echten Jazz den wohl nie aussterbenden Tragik-, Erhabenheits- und Jazz-ist-die-Kammermusik-des-Zwanzigsten-Jahrhunderts-Wichteln entgegenhielt:
»Es ist eine ergreifende, aber nicht übertrieben klagende Musik, denn der Schwarze gehört einer ›jungen‹ Rasse voller Energie an, und er jammert nicht gern über sich selbst. Wenn ein Schwarzer den Blues singt, so nicht um traurig zu werden, nicht um sich wehmütig über sein Leid und sein schweres Schicksal auszulassen, sondern um sich davon zu befreien. Man kann auf den Blues das Wort des neuprovenzalischen Dichters Aubanel über die Dichtung anwenden: ›Wer sein Leid besingt, verzaubert es.‹ Darum ist der Blues im Grunde eine Musik, die stärkt und erfreut.«
Als unmittelbarer Ausdruck kollektiver Befindlichkeit eignet er sich aber viel weniger als etwa Worksongs, Prison- und Chaingang-Songs, Fieldhollers oder Gospel. Die wenigen expliziten Protest-Blues stammen fast alle aus den Vierziger und Fünfziger Jahren und keineswegs nur aus dem Delta. Manchmal täuscht sogar der Titel. Hinter dem »1931 Depression Blues« der ominösen Three Stripped Gears verbirgt sich ein flottes Instrumental!
Lead Belly sang den »Bourgeois Blues«, J.B. Lenoir den »Eisenhower-« und »Korea Blues«, John Brim beklagte die »Tough Times«, Lightnin' Hopkins den Krieg in »War is Starting Again«, Floyd Jones die harten Zeiten in »Ain't Times Hard«, am bekanntesten war wohl Big Bill Broonzys »Black, Brown and White«, ein inbrünstig vorgetragenes Manifest gegen den alltäglichen Rassismus:
»Me and a man was working side by side
This is what I meant:
They was paying him a dollar an hour,
But they was payin' me fifty cents.
They say, if you's white, it's allright,
If you's brown, stick around,
But if you's black, brother
Git back, git back, git back!« 11
Insgesamt aber war der Blues durchaus verschieden vom Protestsong, wie ihn weiße Politbarden á la Woody Guthrie oder Pete Seeger sangen. Die hier beliebte Form des Talking-Blues taucht bei schwarzen Musikern typischerweise kaum auf, am ehesten noch bei den sogenannten Gitarrenevangelisten, die als religiöse Erwecker und Moralapostel über die staubigen Straßen zogen. Der Blues als genuine Tanzmusik war ein primär kommunikatives Medium, das Reaktionen des Publikums hervorrufen wollte, anstatt es zu indoktrinieren. Aufgabe der Musiker war es, im Ruf-und-Antwort-Verfahren (call and response) ein Einverständnis und eine spontane Kommunikation zwischen Sänger und Publikum herzustellen. Fehlte das Publikum, funktionierte es auch zwischen Sänger und Begleitmusiker, im Notfall sogar noch zwischen dem Sänger und seinem Instrument.
In vielen Fällen scheint das eine entspannende, geradezu therapeutische Wirkung bei Interpret und Publikum gehabt zu haben. Konkrete Untersuchungen dazu stehen freilich aus, wiewohl manche Autoren gerne das folkloristische Afrika samt Griots und Schamanentum bemühen, Voodoo natürlich nicht zu vergessen. Es wird sich aber in den meisten Fällen einfach um wildes Abtanzen mit Hilfe mehr oder weniger deftigen Drogenkonsums auch und gerade zu Zeiten der Prohibition gehandelt haben. Nicht nur Tommy Johnson wusste davon ein Lied zu singen, das später einer Band von Bluesfans den Namen geben sollte. Canned Heat war übrigens ein alkoholhaltiger Brennstoff auf Paraffinbasis, der zum Grillen verwendet, in Zeiten der Prohibition aber auch höchst schädlich zweckentfremdet wurde.
Crying canned heat, canned heat mama,
Crying sure Lord, killing me (2x)
Takes alcorub to take those canned heat blues. 12
Es wird die Freunde des Deltablues herb treffen, aber sein wichtigster Interpret, Charley (auch Charlie) Patton (1891 – 1934), war zwar schon seit etwa 1907 mit dem Blues unterwegs, seine ersten Aufnahmen machte er aber erst 1929, als er auf der Dockery-Plantage lebte, für den Plattenladenbesitzer und Agenten H.C. Speir aus Jackson, Mississippi. Schon drei Jahre vorher waren die Bluessongs des ersten Großmeisters, Blind Lemon Jefferson, auf Platte erschienen und selbst Tommy Johnson, der von ihm, Willie Brown und Dick Bankston – die als Trio spielten – beeinflusst war, hatte schon im Februar 1928 für Victor seine bahnbrechenden Aufnahmen vom »Canned Heat Blues«, »Cool Drink of Water Blues«, »Big Road Blues«, »Maggie Campbell Blues«, »Slidin' Delta Blues« u.a. eingespielt. Nach anderen Quellen soll die erste Aufnahme mit Mississippi-Countryblues von Fred Spruell 1928 gewesen sein.
Charley Pattons Blues stellen einen frühen Höhepunkt des Delta-Dance-Blues dar – ein Umstand, der immer wieder betont werden muss. Alle frühen Bluesmusiker spielten zum Tanz für ihre Zuhörerschaft auf. Wahrscheinlich nur selten allein. Oft war ein zweiter Gitarrist beteiligt, wie häufig auch bei den Aufnahmen. Pattons Erkennungssong war »Pony Blues«, ein kompliziert gebauter, sich weit vom Schema entfernender Song. Seine anderen Glanznummern waren »Down The Dirt Road Blues«, »Banty Rooster« und sein zweiteiliger Blues über das Hochwasser von 1927, »High Water Everywhere Pt. 1&2«. Charley Patton nahm – endlich entdeckt – allein 1929 die rekordverdächtige Anzahl von 43 Titeln auf. Seine Aufnahmekarriere dauerte bis 1934. Seit 1933 hatte sich seine Stimme verändert, da ihm bei einer Tanzveranstaltung in Holly Ridge die Kehle aufgeschlitzt worden war. Bald nach seiner letzten Aufnahmesession starb er an einem alten Herzleiden. Er ist in Holly Ridge, Mississippi begraben.
Eine Tanzveranstaltung mit Charley muss für Zuschauer das reine Vergnügen gewesen sein. Zeitzeugen berichten von abenteuerlichen Verrenkungen und Clownerien mit der Gitarre. Patton war nicht zuletzt ein Show-Man, mit ihm begann eine Traditionslinie, die direkt zu T-Bone Walker, Chuck Berry, Screaming Jay Hawkins, James Brown und Jimi Hendrix führte. »Er nahm die Gitarre zwischen die Beine, hinter den Nacken, legte sich auf den Boden und hörte dabei nicht auf zu picken.« Anstatt sich darüber bluespuristisch zu genieren, sollte man vielleicht froh darüber sein, einen so frühen Beleg für Instrumentalartistik auch in der populären schwarzen Musik zu finden.
Von den dank ihrer anhaltenden Beliebtheit nur schlecht erhaltenen Platten allein lässt sich also kein Persönlichkeitsprofil ableiten. Und aus den Hagiographien mancher Beiheftschreiber auch nicht. Wo es etwa im Beiheft zu Charley Patton: Founder of the Delta Blues andeutend heißt: »Kurz, nachdem er eine Bluesplatten aufnehmende Berühmtheit geworden war, wurde Patton aus Dockery hinausgeworfen.« Über die Ursache erfahren wir Genaues erst wieder bei Davis, nämlich, dass er einen schlechten Ruf als Frauenmisshandler und Großmaul hatte: »Er wurde einmal aus Dockery hinausgeworfen, weil er eine seiner Lebensgefährtinnen mit einer Bullenpeitsche geschlagen hatte; Pattons eigene Version der Geschichte war, dass er bestraft worden sei, weil er die Frauen auf der Plantage mit seiner Musik und seiner sexuellen Potenz nicht habe zum Schlafen kommen lassen, was sie für die Feldarbeit am nächsten Tag unbrauchbar gemacht habe.«
Patton war bei seinen Kollegen wegen seiner präpotenten Art und seiner Prahlsucht über sexuelle Eroberungen wenig beliebt. Es wird auch gern unterschlagen, dass nur etwa die Hälfte der aufgenommenen Patton-Titel Blues oder bluesähnlich waren. Das macht ihn zu einer Figur des Übergangs vom Songster zum Bluesmann, weswegen Davis ihn zu Recht einen »Bluester« nennt. Nichtsdestotrotz beschrieb er die Verhältnisse, die ihn umgaben, durchaus genau und ohne jede Schönfärberei.
Every day seem like murder here (2x)
I'm gonna leave tomorrow I know you don't bid my care
(Charley Patton Down The Dirt Road Blues)
Man hat versucht, die Deltablues-Sänger als transzendental oder metaphysisch zu charakterisieren – religiös, wenn auch nicht immer im Sinn der Amtskirchen, wäre vielleicht richtiger –, gemeint ist jedenfalls die spirituelle Qualität vieler Texte, die sich mit dem Zustand jenes Teils des menschlichen Bewusstseins beschäftigen, den gläubige Menschen als Seele bezeichnen. Das Problem dabei ist, dass das für die Bluessongs von Texanern wie Blind Lemon Jefferson oder dem Gitarrenevangelisten Blind Willie Johnson mindestens genau so gilt. Einen Mann freilich hat das Delta hervorgebracht, der die Definition des spirituellen Bluessängers so genau erfüllt wie kein anderer: Eddie James, besser bekannt als Son House. Obwohl alles andere als ein glänzender Virtuose auf der National-Steel, wie die DVD aus der Masters-of-Blues-Serie zeigt, sang und spielte er sich auch nach seiner Wiederentdeckung in den Sechzigern mit jener Inbrunst und Intensität an den Rand einer geistesabwesenden Ekstase, die wohl nicht nur krankheitsbedingt war. Son House war ein mit dem Blues Geschlagener und Beglückter gleichermaßen, Beat im Sinn der Beatpoeten. Denn seine immense Begabung hatte ihm zwar zu Einnahmen von stolzen vierzig Dollar in den Jahren 1940 und 1941 verholfen – damals mehr als der Jahreslohn eines Farmarbeiters – als ihm Paramount für jede Platte pro Seite fünf Dollar zahlte. Andererseits verschaffte sie ihm ein permanent schlechtes Gewissen, das sich sowohl in seiner Körpersprache als auch in den Einleitungen zu seinen Songs niederschlug.
Manchmal hat man das Gefühl, hier werde eine Seele vor den Augen des Betrachters in zwei Teile zerrissen und erst im Augenblick des Spielens wieder zusammengefügt – nicht ohne Bruchstellen, wie die aufgerissenen Augen und der entrückte Blick nach oben ins Nichts beweisen. Und wenn ihn auch keine Höllenhunde vor sein akademisches Publikum gejagt hatten, dank seiner Vergangenheit als abtrünniger Prediger, den seine »schwarze Mama, deren Gesicht scheint wie die Sonne« vom rechten Weg abgebracht hatte, und der zwei Jahre Zwangsarbeit leisten musste, weil er einen Mann bei einer Rauferei in einer Bar getötet hatte, lagen genügend Steine auf seinem Weg, die ihm die Reise in den Himmel der Religiösen schwergemacht haben dürften. House war ein Zerrissener, der zwischen den Polen Sünde und Erlösung schwankte, wenn er zur Gitarre griff. Das Besondere an Son House war auch, dass er im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen immer nur den Blues gesungen hatte, völlig ohne kommerzielle Hintergedanken. Von Alan Lomax hatte er als Honorar eine Flasche Coca Cola erhalten – immerhin eisgekühlt, wie er ironisch anmerkte. Er war solchermaßen das tadellose Relikt, das nicht korrumpierbare Missing Link zwischen Tradition und Revival, aber er war als Person die absolut untypische Ausnahme. Selbst nach seiner Wiederentdeckung 1964 musste er zu Auftritten überredet werden und schlug kein Kapital daraus. 1971 wurde er krank und zog sich völlig zurück, bis zu seinem Tod 1988. Seine alten und seine neuen Aufnahmen gehören zum unverzichtbaren Erbe des echten Deltablues.
Von der anderen Seite her wurde das Bild ergänzt durch Nehemiah Skip James – der aus Bentonia, also nicht direkt aus dem Delta stammte – dessen Blues sich ebenfalls bevorzugt mit religiösen Themen wie Sünde und Erlösung befassten, allerdings mit einer weiteren, überpersonellen Perspektive. Wo Son House noch um die eigene Erlösung kämpfte, machte sich Skip James zum Anwalt und Richter der ganzen sündigen Menschheit. Als er im gleichen Jahr wie Son House aus dem kurzen Schatten trat, den seine wenigen Aufnahmen für Paramount 1931 geworfen hatten, wurde er schnell zum Liebling eines weißen, akademischen Publikums, das seine rare Platten gesammelt und wegen ihres ungewöhnlichen Inhalts ebenso geschätzt hatte wie wegen der außerordentlichen gesanglichen und instrumentalen Fähigkeiten. Skip James sang in einem eigentümlichen Falsett und spielte nicht die deltatypische Bottleneck-Gitarre, sondern verließ sich auf raffinierte Pickings, wenn er sich nicht gar ebenso delikat am Piano begleitete. Die zweite bemerkenswerte Ausnahmeerscheinung also, keineswegs typisch für den Deltaelues der anderen Mississippi-Master wie Garfield Akers, Joe Callicott, William Harris, John D. Fox, Blind Joe Reynolds, Tom Turner, J.D. Short oder Otto Virgial sowie Mattie Delaney und die legendäre Geeshie (oder Geechie) Wiley. Deren Musik ist zwar teilweise erhalten, über die Personen und ihren Lebensweg sind die kargen Auskünfte in den Booklets wie in Mississippi Masters oft das Einzige, was wir haben.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Plattenindustrie seit der Depression, die Anfang der Dreißiger Jahre einsetzte, praktisch keine Aufnahmen mit Deltablues-Sängern mehr machte. Die entscheidende Ausnahme ist allerdings der großartigste Deltasänger überhaupt, Robert Johnson.
Wandernde Songster und Bluessänger gab es selbstverständlich auch noch in dieser Zeit. Vor allem ein Reiseziel bot sich an, wenn ein Delta-Landei Stadtluft schnuppern wollte: Sweet Home Chicago, das nach Robert Johnson allerdings in Kalifornien liegen sollte, was merkwürdigerweise noch kaum jemand verwundert hat.
Oh baby, don't you wanna go (2x)
Back to the land of California
To my sweet home Chicago ...
Mit der Illinois Central Railroad konnte man in vierundzwanzig Stunden von New Orleans über das Delta nach Chicago kommen. Der Fahrpreis von Memphis aus betrug laut Robert Palmer (Deep Blues, 1981) elf Dollar und zehn Cents. Chicago war seit der Jahrhundertwende gewissermaßen die großstädtische Filiale des Deltas. Mit einer ständig wachsenden Migration schwarzer Arbeitskräfte in die winddurchwehte Stadt am Michigan-See korrespondierte ein Bedürfnis nach der gewohnten ländlichen Unterhaltung, schon um das Heimweh zu vergessen. Eine kleine Plattenindustrie entstand, obwohl man in den frühen Jahren für Aufnahmen nach New York fahren musste. Und um die weißen und schwarzen Unterhaltungsunternehmer herum wuchs eine urbane Bluesszene heran, die sich aber bis heute ihrer ländlichen Wurzeln bewusst zu sein scheint.
Statistiken machen die Verschiebung deutlich. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Chicago weniger als fünfhundert schwarze Einwohner. Zur Jahrhundertwende waren es laut Paul und Beth Garon (Memphis Minnies Blues, 1992) schon an die dreißigtausend. Anfang der Dreißiger Jahre eine Viertel-, um 1950 eine halbe Million, 1960 über 800.000. Obwohl das Leben der Schwarzen auch in Chicago alles andere als lustig war, konnte man hier immerhin fast das Vierfache verdienen wie im Delta. Chicagos große Zeit als Zentrum des Blues kam freilich erst nach der Depression der Dreißiger Jahre.
In Chicago gab es eine schwarze Zeitung, den Defender, der die Schwarzen ermutigte, ihr Glück in Chicago zu suchen. Chicago war »kalt, teuer, dreckig und gefährlich« (Palmer), aber es gab Schulen, in die man die Kinder schicken konnte, um ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Die meisten Zuwanderer blieben. Und manche von ihnen brachten es offensichtlich nicht nur zu Gitarren und Phonographen, sondern auch zu einem Piano. Anders wäre die dominante Rolle dieses Instruments im Chicago-Blues der frühen Jahre wohl kaum zu erklären. Zwei Stilrichtungen mischten sich hier: Die melodiösen Ragtimes aus dem Südosten der USA wurden mit dem rauen Klavierstil des tiefen Südens konfrontiert, den man Boogie-Woogie nannte und den schon Blind Lemon Jefferson als Booger-Wooger auf seiner Gitarre nachgedroschen hatte. Während in ländlichen Gegenden Pianos relativ selten waren und vor allem kaum transportabel, konnten städtische Kneipenbesitzer ihr Barrelhouses und sonstigen Lokale durch eine relativ bescheidene Investition attraktiv machen. Das Piano war das Geschenk Chicagos an den Blues. Solisten wie der Texaner Clarence Pinetop Smith (1904 – 1929), »Cripple« Clarence Lofton (1896 – 1957), Jimmy Yancey (1898 – 1951) und seine Schüler, die Freunde Albert Ammons (1907 – 1954) und Meade Lux Lewis (1905 – 1964) waren Ende der Zwanziger Jahre auch auf zahlreichen Blueseinspielungen vertreten. In den beiden folgenden Jahrzehnten erfreuten sich Boogie-Woogie-Combos und swingende Boogie-Orchester anhaltender Beliebtheit.
In den Studios hatten es Gitarristen von da an ziemlich schwer. Sie mussten schon die Klasse eines Scrapper Blackwell, Big Bill Broonzy, Lonnie Johnson oder Tampa Red haben, um noch mitspielen zu dürfen, wobei Letzterer mit Georgia Tom Dorsey einen pianistischen Langzeitpartner gefunden hatte. Weitere wichtige Pianisten waren Cow Cow Davenport (1894 – 1955) und Big Maceo (1905 – 1953) mit seinem umwerfenden »Chicago Breakdown«. Nicht alle Pianisten spielten ausschließlich Boogie, viele schwenkten früher oder später zum Pianoblues über, der sich gerade in Chicago nachhaltiger Beliebtheit erfreute.
Ein Dauerbrenner ganz anderer Art war der ständige Konflikt zwischen Chicago und New Orleans. Es ging dabei vor allem um das Geburtsrecht am Jazz, aber natürlich spielten gerade in den Anfängen auch die klassischen Bluesaufnahmen in der Argumentation eine Rolle. Dass das die persönlichen Beziehungen zwischen den Machern nicht unbedingt trüben musste, zeigt eine Anekdote, die Perry Bradford über sein erstes Zusammentreffen mit Jelly Roll Morton berichtete: »Ich erinnerte mich, wie ich ihn zum ersten Mal getroffen hatte, in Chicago, damals, im Jahr 1913. Mama Bradford weckte mich auf, weil Charlie [Warfield] hereingestürzt kam und sagte, Mort Shoecraft schicke ihn, weil ich kommen solle, denn da sei einer – und damit meinte er den Typ, der gerade in mein Schlafzimmer latschte –, der habe nicht schlecht angegeben im Pompei Saloon, er sei der beste Pianist in Chicago und das sei ihm so an die Nieren gegangen, dass er es nicht ausgehalten habe. Inzwischen stand der große dürre Mann, der von seinem ›Jelly Roll Blues‹ den Spitznamen ›Jelly Roll‹ hatte, in meinem Zimmer. Ich sagte: Bist du der Typ, der der Blueskönig sein soll? ›Aber klar‹, sagte er. ›Charlie, bring das Lämmchen zum Piano, auf dass ich es schlachte‹, sagte ich. Jelly heulte vor lauter Lachen auf. Wir gingen ins Wohnzimmer zum Piano und Jelly spielte seinen später weithin berühmten ›Jelly Roll Blues‹. Ich bat ihn noch mehr zu spielen, aber er weigerte sich. Ich empfing ihn mit den Worten: ›Mann, das ist ein guter Blues, sehr trickreich, aber jetzt rutsch mal rüber und lass den echten Blueskönig ran, dann brichst du zusammen.‹ Ich spielte und sang ein ganze Reihe von Blues: ›I'm Alabama Bound‹ war dabei ... und dann spielte ich ›Cannon Ball Blues‹. Nach dieser morgendlichen Blues Session wurden Jelly und ich schnell Freunde.«
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