Kitabı oku: «Im Namen der Opfer», sayfa 2

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Mord und Totschlag werden Alltag

Als ich Kofi Annan in Genf begegnete, war der starke Mann der UNO ausgebrannt. Er hatte seine Syrien-Mission zur hoffnungslosen Sache erklärt und war als Gesandter für Syrien zurückgetreten. Annan war nicht mehr der Mann, den ich kennengelernt hatte und der ein »Nein« nicht gelten ließ. Ich erinnerte mich, wie er im Sommer 1999 um ein Treffen ersuchte, ich war Bundesanwältin, und in den Niederlanden sollte der Posten der Chefanklägerin besetzt werden. Ich glaubte nicht an eine reelle Chance, aber da man eine Einladung des Generalsekretärs der Vereinten Nationen nicht ohne Weiteres ausschlagen kann, reiste ich nach New York. Die Hauptadresse der UNO liegt am Ostufer Manhattans. Wer das erste Mal zu diesem unpersönlich wirkenden Monolithen aufsieht, vor dem die Flaggen der Mitgliedsstaaten wehen, mag etwas eingeschüchtert sein. Nicht, wenn man im Maggiatal aufgewachsen ist. Unsere Berge überragen mühelos jeden Wolkenkratzer. Immerhin, dachte ich anerkennend, selbst wenn er auf einem ehemaligen Schlachthofgelände erbaut ist, dieser Bau steht für die Sicherung des Weltfriedens, die Einhaltung des Völkerrechts, den Schutz der Menschenrechte.

Im Sekretariatshochhaus ließ Kofi Annan seine diplomatische Kunst auf mich wirken. Er wollte mich als »Madame Prosecutor« des Internationalen Strafgerichts haben. Unser Staatssekretariat hatte meinen Namen ins Spiel gebracht, wohl als Wild Card, denn die Schweiz sträubte sich ja seit Ewigkeiten gegen den Beitritt zu den Vereinten Nationen, um die Neutralität zu wahren und noch aus anderen Gründen. Ruth Dreifuss hatte das symbolische Potenzial erfasst, eine Schweizerin auf diesen Posten zu setzen: Die hohe internationale Ausstrahlung war praktisch garantiert. Ich vermutete, auch Kofi hatte Hintergedanken, allerdings andere: Die NATO hatte soeben Serbien bombardiert. Da stellte ich wohl die gutschweizerische Kompromisslösung dar. Ich konnte nachempfinden, wie eine Braut sich bei einer Zwangsheirat fühlt. Wie man weiß, hat Kofi Annan seinen Willen bekommen – und ich das Amt der Chefanklägerin. Ich vergaß nie, wie er mich anstrahlte: »Wenn es nicht klappt, geben Sie einfach mir die Schuld.«

Jetzt hatte seine eigene schwierige Mission »nicht geklappt«, und Annan strahlte nicht mehr. Er habe »nicht alle Unterstützung bekommen, die der Fall verdient«, gab er als Begründung zum Rücktritt als Gesandter für Syrien an. Gleichzeitig sparte er nicht mit Kritik an der Uneinigkeit des Sicherheitsrats. »Es gibt Unstimmigkeiten innerhalb der internationalen Gemeinschaft.« Damit sprach er auch die Rolle der USA und der Golf-Anrainerstaaten an, die den politischen Verhandlungsspielraum ausgeschöpft sahen und die militärische Lösung befürworteten. Sicher war: Mit Kofi Annans Rücktritt schwanden die Aussichten auf eine diplomatische Lösung in diesem Gemetzel. Die Veto-Stimmen von Russland und China hatten mittlerweile drei Syrien-Resolutionen verhindert. Die fünf Vetomächte blockierten gegenseitig die Möglichkeit von Sanktionen gegen Assad.

Dass der Weg über den Sicherheitsrat in eine Sackgasse führen konnte, hatte Annan mir schon vor Jahren auseinandergesetzt. Es war in New York, der Sicherheitsrat hatte mir als Chefanklägerin gerade einen weiteren Stein in den Weg gelegt, und ich stürmte frustriert in Annans Büro im 38. Stock. Man muss dazu wissen, der Weg zum Generalsekretär führt über mehrere Vorzimmer, in denen man von Assistenten ausgebremst wird. Als ich hereinplatzte, verlieh mir mein Ärger noch immer genügend Schwung. »Herr Generalsekretär!«, begann ich, und dann machte ich mir in einer minutenlangen Tirade Luft. Annan ließ mich ausreden, unterbrach mich mit keinem Wort. Dann blickte er mich einen Moment lang an. »Carla, der Sicherheitsrat ist eine politische Institution, die politische Entscheidungen fällt«, klärte er mich auf, »nicht juristische«, und der Ton seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er selbst seine Mühe damit hatte.

Ihn nun in Genf so resigniert zu sehen, hätte meine Alarmglocken anschlagen sollen. Aber gerade war mein kriminologischer Jagdinstinkt geweckt. Wir sandten die 12 Ermittler aus, sobald wir von möglichen Verbrechen hörten, meist in Teams zu dreien oder vieren. In Libanon, Jordanien, Irak und den anderen Nachbarländern verblieben sie in der Regel zwei bis drei Wochen, bis sie alles aufgenommen hatten, was zur Aufklärung beitragen könnte. Ich brannte darauf, die Täter im »heißen Stuhl« vor mir zu haben, hatte mich doch die Arbeit als Bundesanwältin gelehrt, dass man dem Gegenüber ins Auge blicken muss. Die ersten Minuten eines Verhörs sind die wichtigsten. Die Befragungstechnik hatte mir als junge Staatsanwältin einer der Besten auf diesem Gebiet beigebracht, Giovanni Falcone, der sizilianische Untersuchungsrichter, der wusste, wie man einen Mafioso anpacken muss. Ich wollte mich jedoch nicht in die Arbeit der Ermittler einmischen. Nichtsdestotrotz, ein schriftlicher Bericht lässt sich nicht mit einer persönlichen Einvernahme vergleichen. Aber genau das erhielten wir: schriftliche Berichte. Natürlich erforderte es ausgezeichnete Kenntnisse der Umstände, der Sprache und der lokalen Gebräuche, um die Puzzleteile dieser Auseinandersetzungen richtig zusammenzusetzen. Doch manchmal, so musste ich feststellen, fehlten in den Abklärungen wichtige Teilchen für das Gesamtbild.

Immerhin konnte ich den Ermittlern meine Fragen mit auf den Weg geben. Ich wünschte in bestimmten Fällen spezifische Auskünfte. Die Antwort, die ich nach der Rückkehr jeweils erhielt, war ernüchternd: »Wir sind für umfangreichere Ermittlungen einfach zu wenige Leute, Frau Del Ponte.« Das stimmte allerdings. Die Mittel der Syrien-Kommission waren nicht zu vergleichen mit den Mitteln, die ich am ICTY zur Verfügung gehabt hatte. Damals beschäftigte die Anklagebehörde insgesamt 600 Personen, Rechtsanwälte, Ermittlungsbeamte, Psychologen und Dolmetscher. Hier würden wir, wie man so schön sagt, kleinere Brötchen backen müssen. Aber auch kleine Ermittlungserfolge sind wertvoll. Rein hierarchisch gesehen waren die Ermittler der Kommission unterstellt. Doch Paulo Sérgio Pinheiro hatte sich entschieden, diese Verantwortung auf seinen »Coordinator« zu übertragen, der die Ermittler anleitete. Paulo selbst wollte auf den humanitären Teil des Mandats fokussieren. Ich blieb fokussiert auf das Verbrechen. Auch die anderen zwei Kommissionsmitglieder wiederholten immerzu das Mantra der Menschenrechte.

Ich saß also auf dem Beifahrersitz. Aber ich saß im Wagen. Vielleicht könnte ich trotzdem das Ziel ansteuern, den Sicherheitsrat dazu zu bringen, Schritte zur Strafverfolgung zu unternehmen. In dieser Absicht stimmten Paulo und ich überein. Was nicht heißen soll, dass er Anstalten unternahm, sich stärker dieser Seite des Mandats zu widmen. Eine Anklageschrift vorzubereiten, quasi die Blaupause für einen späteren Strafgerichtshof in Syrien, ging ihm zu weit. »Das geht doch nicht! Wir sind kein Staatsanwaltsbüro, Carla, finde dich damit ab.« Über diesen strittigen Punkt debattierten wir oft und energisch. Damals war das Einvernehmen noch gut.

So beschränkten wir uns darauf, die sogenannte »Crime Base« zu ermitteln: Zeitpunkt und Ort, Vorgang und Art des Verbrechens. Nicht aber den Verbrecher selbst. Wenn es zu einem Fliegerangriff kam, hätte die Frage meines Erachtens lauten müssen: Woher kamen die Flugzeuge? Welche Beweise haben wir dafür, von wo sie gestartet sind? Und wer, am Ende einer militärischen Befehlskette, hat den Angriffsbefehl gegeben? Wer innerhalb der syrischen Regierung oder der Oppositionsgruppe zeichnet persönlich verantwortlich? Solche Feststellungen waren von immenser Wichtigkeit, weil sich in diesem Konflikt so viele Interessengruppen gegenüberstanden, dass selbst die Verletzten manchmal nicht mehr sagen konnten, wessen Opfer sie geworden waren.

Sind schon die Gruppen der Opposition in ihren Ausprägungen schwer zu unterscheiden, so gliederten sich auch die Regierungstruppen in eine Vielzahl von Einheiten. Assads stehendes Heer, das 300 000 Mann starke Militär, teilte sich in Armee, Marine und Luftstreitkräfte auf. Ihr Auftrag war die Verteidigung des nationalen Territoriums und die Abwehr aller internen Feinde. Das Militär bestand aus drei Korps mit 12 Divisionen: sieben gepanzerte, drei mechanisierte sowie die Republikanische Garde und die Spezialeinheiten. Die 10 000 Gardesoldaten, die direkt dem Präsidenten unterstanden, zählten zur Elite. Sie sollten Aufstände von Regimekritikern niederwerfen. Die 20 000 Mann der 4. Division wurden kommandiert von Maher al-Assad, dem Bruder des Präsidenten. Die Staatssicherheit, so wurde berichtet, sei umfassend und effektiv, sie war aufgeschlüsselt in eine Vielzahl von Geheimdiensten, deren Aufträge sich teilweise überlappten. Ihre Beamten spielten in der syrischen Gesellschaft eine weitreichende Rolle, denn sie sollten Verräter orten und Widerstand durch Repressalien im Keim ersticken.

Der interne Staatsapparat schloss die Polizeikräfte ein, die dem Innenministerium unterstanden, sowie den Militärischen Geheimdienst, den Geheimdienst der Air Force und das nationale Büro für Sicherheit. Zur alawitischen Miliz der sogenannten Schabiha gehörten rund 10 000 Zivilisten, die an der Seite der Sicherheitskräfte Demonstrationen zerschlagen sollten. Es hieß, die Fanatiker dieser irregulären Truppe – ursprünglich eine Schmugglerbande – würden Assad in den Tod folgen. Die Volksarmee, eine Miliz der Baath-Partei, wird auf 100 000 Reservisten geschätzt, die mobilisiert werden könnten. Gemäß Verfassung der Republik lag das Oberkommando über alle diese Streitkräfte in der Hand des Präsidenten: Baschar al-Assad hatte die militärische Überlegenheit. Seine Flugzeuge kontrollierten den Luftraum, und seine Artillerie hielt den Gegner am Boden.

Für den ersten Bericht, an dem ich mitwirkte, waren 445 Zeugen befragt worden. Der 130 Seiten schwere Report sollte der umfangreichste der Kommission werden. In diese Seiten legten wir alles, was wir hatten, alles, was wir anführen konnten, um den Sicherheitsrat förmlich zum Handeln zu zwingen. Folter, Vergewaltigung, Entführung, Mord. Verübt von Regierungskräften und den ihnen angeschlossenen Milizen. Ich legte Wert darauf, dass auch die Opposition in den Berichten nicht ungenannt bleiben sollte; über diesen Punkt redeten wir uns oft die Köpfe heiß. Schließlich waren auch die Regimegegner nicht untätig gewesen: Folter, Kidnapping, willfährige Standgerichte mit Todesurteilen. Zusätzlich brachten die Aufständischen die Zivilbevölkerung bewusst in Gefahr, indem sie militärisch wertvolle Ziele in Wohnvierteln platzierten. Die Taten des Regimes zu benennen, war einfacher, und ich merkte, dass uns politische Interessen die Schwerpunkte in den Berichten diktierten. Vor allem zu Anfang genossen die Oppositionsgruppen ja noch die Sympathien der internationalen Gemeinschaft, und einige Staaten betrieben im Hintergrund den »Regime Change«, den politisch motivierten Sturz Assads. Wir kamen nicht umhin, der militanten Opposition zu bescheinigen, dass ihre Angriffe auf Zivilisten nicht mit der Intensität der Regierungstruppen zu vergleichen waren – noch nicht.

Die Situation präsentierte sich in jenen Monaten 2012 wie folgt: Die Revolutionäre hatten sich vermehrt Zugang zu Waffenkammern verschafft und Militärbasen geplündert. Feuerwaffen und Munition wurden in großem Stil von externen Lieferanten über die Grenze geschmuggelt. Angriffe auf Hospitäler sorgten vermehrt dafür, dass das medizinische Personal seine Posten aufgab. Den Krankenhäusern gingen in alarmierender Geschwindigkeit die Vorräte an Blut und Medikamenten aus. Das Hochkommissariat hatte Kenntnis von 60 000 Todesfällen. Zwei Millionen Syrer befanden sich auf der Flucht.

Dem Vorschlag des Sicherheitsrats zur Waffenruhe vom 26. bis 30. Oktober hatten beide Seiten zugestimmt, um während der religiösen Feiertage die Verletzten von den Schlachtfeldern zu bergen – wer sie zuerst brach, blieb unklar. Am 11. November war die Syrische Nationale Koalition gegründet worden, die Gruppen der moderaten Opposition sowie der Freien Syrischen Armee (FSA) vereinte. Mehr als ein Dutzend der bewaffneten Gruppen, darunter die Al-Nusra-Front, anerkannte die Koalition nicht. Am 11. Dezember erklärten die USA die Al Nusra zur terroristischen Organisation, einem Ableger der irakischen Al Kaida. Die FSA selbst war nur noch ein Brand, ein Name – die Bezeichnung als Oberkommando verdiente sie längst nicht mehr. Die Foreign Fighters, die Kämpfer aus dem Ausland, hatten zahlreiche Neuzugänge erhalten. Zynischerweise nannte man sie auch »Wochenend-Krieger«, weil sie aus dem mittleren Osten, Nordafrika und Zentralasien kurzzeitig über die Grenze kamen, um sich an den Kampfhandlungen zu beteiligen. Viele waren kampferprobt, stammten aus Libyen, Tunesien, Saudi-Arabien, Ägypten, dem Irak und dem Libanon. Ihre Expertise wurde von den Regimegegnern hoch eingeschätzt. Einige reisten von weiter her an, auch aus der Schweiz.

Im Folgenden zitiere ich Einzelfälle aus dem besagten Bericht ans UNHRC, die mir besonders erwähnenswert oder repräsentativ scheinen. Sie stehen für Dutzende und Hunderte ähnlicher Vorkommnisse. Manchmal sagten Augenzeugen sogar aus, wenn dies ihren Eigeninteressen zuwiderlief. Wie jene FSA-Soldaten, die uns Details des Massakers anvertrauten, an dem sie im Juli in Aleppo beteiligt waren. Die FSA hatte fünf Mitglieder der al-Barri-Familie verhört und ein Scharia-Gericht einberufen. Dieses Standgericht verurteilte alle fünf zum Tod. Die Aufnahmen ihrer Exekution wurden ins Internet gestellt. Ebenfalls in Aleppo wurden alawitische Offiziere von einem Tribunal abgeurteilt, das sich aus lokalen Geistlichen zusammensetzte. Abzuklären galt es, wer der Angeklagten »Blut an den Händen« habe. Als zwei der Offiziere eine Vergewaltigung zugaben, wurden sie auf der Stelle hingerichtet. Die anderen kamen mit dem Leben davon. Videos auf Facebook oder anderen Social-Media-Kanälen zeigten diese Art von Lynchjustiz anhand verschiedener grausiger Beispiele: In Aleppo wurde einem Menschen, der sich zum Regime bekannte, der Hals durchgeschnitten. Weitere regimetreue Personen wurden kurzerhand vom Dach eines Postgebäudes gestoßen.

Wir bekamen vergleichsweise mehr Berichte solcher Tötungen durch Aufständische auf den Tisch. Etwa von der Stürmung einer Fabrik, in der vor allem Christen beschäftigt waren. »Wir wissen, wer ihr seid und aus welcher Region ihr stammt«, drohten die Bewaffneten. »Verlasst diese Fabrik und dieses Gebiet! Sonst seid ihr eures Lebens nicht mehr sicher!« Wohl um der Forderung Nachdruck zu verleihen, wurde der Direktor daraufhin beiläufig erschossen.

Fünf Regierungssoldaten, die von ihren Posten in einem Internierungslager desertiert waren, klärten uns auf, wie Informationen aus Verdächtigten herausgepresst wurden. Aus den erzwungenen Geständnissen heraus entstanden weitere Listen mit weiteren Verdächtigen. Wir wussten von 22 Personen, die ihren Schnellrichtern Schmiergeld für ihre Entlassung gezahlt hatten. Einer der Deserteure, der zuletzt im Geheimdienst in Hama stationiert war, nannte Entführungen mit Erpressung eine »systematische Praxis in Syrien«. In Latakia wurde einem Freiheitskämpfer ultimativ mitgeteilt: »Ergibst du dich nicht, behalten wir deinen Bruder in Haft!«

Bald erreichten uns glaubwürdige Berichte, dass auch die Opposition ihre Gefangenen misshandelte. Der Schabiha (abgeleitet vom arabischen Wort für »Gespenst«) waren Aufständische in die Falle gegangen. Die Miliz, die von Assads Cousins Fawaz und Mundhir al-Assad befehligt wurde, folterte ihre Gefangenen mit elektrischen Drähten und Knüppeln. In einem Fall wurde ein Mann mit 54 anderen in einem Haus in Aleppo gefangen gehalten. Acht Mitgefangene sah er an ihren Verletzungen einen langsamen Tod sterben. Während der Verhöre waren ihnen die Knochen gebrochen worden.

Wenn es der Opposition gelang, eines Schabiha-Milizionärs habhaft zu werden, gingen sie nicht zimperlich mit ihm um. Ein FSA-Kommandant in Damaskus gab vor unseren Ermittlern zu, einen Inhaftierten geschlagen zu haben, um ihn zur »Beichte« zu zwingen. Anschließend bekam der »Geständige« eine Kugel in den Kopf. Den Schabihas ließ man extrem harte Torturen angedeihen. Denn vor ihnen fürchte man sich ganz besonders, »vor allem die Frauen und Mädchen«, so versuchte ein Bewohner von Homs uns zu erklären, weshalb die Milizionäre keine Gnade erwarten durften. Zu erkennen seien diese Männer an ihren rasierten Köpfen und langen Bärten, zusätzlich zu ihren Schnauzbärten (sunnitische Muslime tragen keine Schnauzbärte).

Als Verhörmethode schreckte wiederum das Regime vor sexueller Gewalt nicht zurück. Vergewaltigungen sollten die Opfer zum Sprechen bringen, zudem eine verbreitete Methode, um zu bestrafen und gleichzeitig zu beschämen. Nicht nur Frauen wurden so gebrochen. Die Folterer verbrannten die Genitalien mit Zigaretten, Feuerzeugen und schmelzendem Plastik. Sie verbanden die Geschlechtsteile mit Stromkabeln, bis die Menschen elend an den Stromschlägen starben. Mitunter wurde sexuelle Gewalt eingesetzt, um Familienmitglieder zu erpressen: Befand sich eine Frau in der Folterkammer, sollten männliche Verwandte sich im Gegenzug für ihre Freilassung kampflos ergeben.

Die syrische Botschaft in Genf beklagte sich bitterlich über unsere Recherchen, die sich durch »eilig zusammengestellte Aussagen« auszeichne, welche »nur von einer Seite dieses Konflikts« stammten. Das offizielle Syrien warf uns mangelhafte Professionalität, keine sorgfältigen Nachforschungen und Voreingenommenheit vor. Vehement zurückgewiesen wurde auch der Vorwurf, schmutzige Bomben eingesetzt zu haben. Was ich keinesfalls billigen konnte, da wir genügend Beweismittel für »Barrel Bombs« hatten – das sind improvisierte Fassbomben, die aus der Luft abgeworfen werden. Verwendung finden unter anderem alte Heizkessel oder Warmwasserboiler, die mit Sprengmitteln und Metallteilen gefüllt werden. Human Rights Watch (HRW) bezeichnet ihren Einsatz als »mit hoher Wahrscheinlichkeit wahllos im Sinn des Kriegsrechts und damit unzulässig«.

Bombardierungen von Bäckereien fanden vornehmlich in den Morgenstunden statt, wenn es nach frischem Brot duftete. Es konnte kein Zufall sein, dass die Angriffe stets dann stattfanden, wenn die Betriebe voller hungriger Menschen waren. Bestimmten Quellen zufolge waren unter den Bäckereikunden FSA-Kämpfer. In einem Fall hatte der Bäckerei-Betreiber die FSA sogar aufgefordert, die Brotverteilung zu organisieren. Assad-Abtrünnige gaben uns die Namen der Kommandeure der Air Force, die die Bombardements von Bäckereien angeordnet hatten. Menschenschlangen vor Backstuben wurden in Aleppo systematisch unter Feuer genommen. An einem Tag im August wurde eine Bäckerei von einem Artilleriegeschoss getroffen: 11 Menschen, die für Brot anstanden, fanden den Tod. Am 16. August wurden Kunden vor einer Bäckerei mit Mörsern beschossen: 25 Tote.

Am 9. November um 8 Uhr schrien Frauen auf dem Marktplatz von Al Quriyah in Panik auf und suchten Schutz vor den Geschossen, die vom Himmel prasselten. Die Artillerie tötete an diesem Frauen-Markttag 21 Zivilisten. Ein Zeuge sah verstreute Tote mit abgetrennten Gliedern und Köpfen. Ein Körper war »nicht mehr als ein Haufen Fleisch. Diese Leiche vermochte niemand zu identifizieren.«

Am 23. Dezember um 16 Uhr war die Schlange vor der Bäckerei in Halfaya gut 1000 Menschen lang. »Wir hatten seit Tagen kein Mehl erhalten«, sagte ein Einwohner, »und in der ganzen Stadt war kein einziger Laib Brot zu finden. Darum stand praktisch jeder vor der Bäckerei.« Ein Kampfjet schoss mindestens vier Raketen auf sein Ziel ab. Jemand vermochte sich zu erinnern, dass eine Viertelstunde zuvor ein Hubschrauber über dem Platz gekreist war, wohl um es auszukundschaften. Ein Mann aus Halfaya beschrieb die Szene nach dem blutigen Angriff so: »Überall auf der Straße sah ich Leichen von Frauen und Kindern. Die Toten konnten nicht identifiziert waren, so entstellt waren sie.« Für uns war klar, dass es sich um einen gezielten Angriff handelte, trafen doch die vier in schneller Folge abgeschossenen Raketen ausnahmslos die Bäckerei.

Satellitenaufnahmen waren eine große Hilfe bei der Auswertung von Bombardements, etwa im Fall der Bombardierung von Azaz am 15. August durch zwei Kampfjets, was den Tod von 20 Mitgliedern der Familie Danoun zur Folge hatte. Das Muster der Einschläge legte den Schluss nahe, dass es sich nicht um Zufallstreffer handelte. Am 4. August traf eine weitere Fassbombe – sie sind einfacher und billiger herzustellen als Fliegerbomben – das Haus der Familie Elbaw in Tall Rifaat. »Es war unmöglich, die Toten auseinanderzuhalten«, sagte ein Zeuge. Am 10. August tötete die Bombe eines Kampfjets mehrere Bewohner eines Wohnhauses. Anvisiert war wohl die nahe gelegene Schule, da diese von der FSA als Baracke genutzt wurde.

Wir wussten von mindestens 14 Attacken auf Schulen. Die Rebellen hatten sie als Stützpunkte genutzt, womit sie ihren Status als geschütztes Zivilobjekt verloren. Andrerseits wurden mit Sicherheit auch Angriffe auf Schulhäuser befohlen, ohne dass Aufständische sich dort verborgen hielten. Ein Soldat – er desertierte daraufhin – hörte wörtlich den Befehl eines Offiziers, eine Schule nicht zu schonen, »damit sie nicht rausgehen und an Demonstrationen teilnehmen können«.

Tatsächlich geriet die jüngste Generation unweigerlich in diesen Sog des Kriegs. Ein 17-Jähriger vertraute uns Details seiner Tätigkeit für die Al-Nusra-Front an. Erst war er nur Wasserträger, brachte den Kämpfenden Lebensmittel an die Front. Schließlich rüstete man ihn mit einem Gewehr aus, das er auch einsetzte. Er nahm an einem Angriff auf einen Checkpoint teil. Als eine Verwundung seine Beteiligung an weiteren Scharmützeln verunmöglichte, wurde er wie andere Teenager in Haftanstalten als Wächter eingesetzt.

Das Gesundheitswesen war vom Konflikt schwer getroffen. Krankenhäuser wurden unter direkten Beschuss genommen. Ein Mitarbeiter des Dar al-Shifa Hospitals in Aleppo wusste von einem Hubschrauber des Regimes, der neun Raketen auf das Spital abgefeuert hatte. Sicherheitskräfte zwangen das medizinische Personal zu Aussagen über ihre Patienten. Und sie verboten, Kinder zu behandeln, die als Feinde des Regimes geortet wurden. Einem angeschossenen 12-Jährigen empfahlen die Ärzte die Falschaussage, er sei von Terroristen verletzt worden – sonst wäre ihm im Spital nicht geholfen worden. Ein Mann aus Daraa musste erleben, wie ihm der Weg ins Krankenhaus an Checkpoints versperrt wurde. Seine 11-jährige Schwester war beim Bombenangriff auf die Schule schwer verletzt worden. Auf Umwegen durchs Hinterland erreichte der Bruder schließlich das Armeehospital. Obwohl das Mädchen schon das Bewusstsein verloren hatte, verweigerten die Ärzte die Behandlung. Daraufhin versuchte der Verzweifelte noch, ein anderes Lazarett zu erreichen, doch seine Schwester starb auf dem Weg.

Verschiedene Berichte betrafen Personen, die an Checkpoints der Armee malträtiert wurden. Ein Mann hatte das Pech, dass ein regimekritisches Wort in den Staub seines Autofensters geschrieben war. Agenten des Nachrichtendienstes von Mhajjah verabreichten ihm Elektroschocks, bevor er zu ihrer Belustigung auf allen vieren einen Affen imitieren musste. Freigelassen wurde er erst, nachdem er das Autofenster sauber abgeleckt hatte. Ein früherer Mitarbeiter eines Nachrichtendienstes gab zu, dass an Straßensperren sunnitische Berufspendler auf regelmäßiger Basis gedemütigt würden. Ein Ex-Soldat, gefragt nach der Anzahl solcher Vorfälle an Checkpoints, sagte leichthin: »Die kann ich unmöglich alle zählen.«

Beängstigend fand ich persönlich die Depeschen von Massakern. Wahre Kesselschlachten schienen darauf ausgerichtet, ganze Menschengruppen zu vernichten. Und dies mit einer Herzlosigkeit, die mich an den Genozid in Ruanda erinnerte. Wir hatten Informationen aus erster Hand zum Massaker vom 1. August in Jdaidet Artouz, das bevölkert war von einer heterogenen Gruppe sunnitischer Muslime, Christen, Drusen und Alawiten. Auslöser war ein Anschlag von FSA-Kämpfern auf einen hochrangigen Offizier, der in der Nachbarschaft lebte. Als Strafaktion wurde ein Militärschlag gegen das ganze Dorf ausgeführt, mit Panzern und schweren Waffen. Soldaten durchsuchten Haus für Haus. Insgesamt wurden 60 Männer an Ort und Stelle exekutiert. Nahe der Moschee wurde ein Massengrab für sie ausgehoben.

Verschiedene Quellen berichteten uns von Vorfällen in Al Harak, der Heimat von 40 000 Sunniten. Die Menschen verließen den Ort, als am 18. August Regierungstruppen anrückten. Später fanden FSA-Kameraden die Leichen von 400 Zivilisten. Einige waren von Schrapnellen getötet worden, andere aus nächster Nähe durch Schüsse, weitere Tote wiesen Messerstiche auf. Einige der Körper waren verbrannt worden, um die Massentötung zu verschleiern. Die Augenzeugen schrieben es der Schabiha zu, Leichen aus Al Harak weggebracht und beim Hauptquartier der 52. Brigade verscharrt zu haben. Sagte ein FSA-Kämpfer: »Sie versuchten die Leichen zu verstecken, aber wir konnten sie riechen.«

Einst war Al-Mastomah, eine sunnitische Ortschaft der Provinz Idlib, bevölkert von 8000 Menschen. Bis zum 7. Januar dieses Kriegsjahres. Da flohen weite Teile der Bevölkerung vor der Bombardierung durch Regierungstruppen. Dann durchkämmten Soldaten den Ort. Als der Kriegslärm abnahm und unser Augenzeuge die Rückkehr wagte, fand er unzählige Tote, an Ort und Stelle hingerichtet. Die Leichen wurden gefilmt, das Material lag der Kommission vor. Auf den Filmen sind Frauen, Kinder und ältere Menschen zu erkennen – viele aus nächster Nähe exekutiert.

»Es ist wie in einer Geisterstadt«, beschrieb uns ein Bewohner von Taftanaz, »von 20 000 Bewohnern sind kaum noch 200 übrig.« Nach dem intensiven Beschuss der Kleinstadt im Juli und während des Ramadans suchte praktisch die ganze Bevölkerung ihr Heil in der Flucht. Doch Sniper, Scharfschützen mit Zielfernrohrgewehren, waren rund um die Stadt positioniert. Ihre Projektile trafen zahlreiche Flüchtende auf der Straße zum Flugplatz. Eine Frau, von einem Scharfschützen angeschossen, verblutete mitten auf der Straße. Menschen, die Hilfe leisten wollten, wurden selbst vom Schützen ins Visier genommen.

Bis zum 21. Januar 2013 waren in fünf Nachbarländern 671 262 Syrer als Flüchtlinge zur Registrierung gemeldet. Nicht unerwähnt ließen wir die Zerstörung kulturell bedeutsamer Bauwerke. Bis dahin waren sechs der Gebäude beschädigt, die im Weltkulturerbe der UNESCO erfasst sind. Die antike Ruinenstadt von Bosra etwa, Hort mehrerer Jahrhunderte Kulturgeschichte, mit byzantinischen Kirchen und frühislamischen Moscheen und seinem berühmten römischen Theater – von Bomben aus der Luft in Stücke geschlagen. Der »Souk«, Aleppos weltbekannter gedeckter Basar – abgebrannt. Plünderer waren in Syriens berühmteste Kreuzritter-Burg eingebrochen, und die Belagerung durch Assad-Truppen hatte die Burg Krak de Chevaliers schwer beschädigt. Beide Kriegsparteien hatten kein Problem damit, historische Gebäude als Stellungen zu nutzen.

Ein halbes Jahr nach meinem Eintritt in dieses Gremium sollten wir nun vor dem Human Rights Council unsere Schlussfolgerungen vortragen. Der Bericht mit der Nummer A/HRC/ 22/59 listete säuberlich Hunderte einzelner Gewalttaten auf. Wenn der UNHRC die Dokumentation dem Sicherheitsrat weiterreichte, käme dieser nicht umhin, seine Untätigkeit in der Syrien-Frage aufzugeben. Damit wäre mein Auftrag erledigt, innerhalb der veranschlagten Zeit. Zu Hause war ich zum ersten Mal Großmutter geworden, und mir schwebte vor, wie ich schon bald den Enkel in den Armen halten würde. Er sollte von mir umsorgt werden wie von einer typischen Tessiner Nonna. Ein Titel, auf den ich weit stolzer sein konnte als auf den Titel der UN-Untersuchungskommissärin. So jedenfalls stellte ich mir das vor, nach verrichteter Arbeit nach Hause zu gehen. Denn welchen Sinn hätte sonst die Kommission des Human Rights Council und die Erfassung all dieser Verbrechen? Ein kurzer Spaziergang auf dem Quai du Mont-Blanc ordnete meine Gedanken, die eigenen Atemwolken in der kalten Luft vor mir hertreibend. In Genf war es Februar geworden. Die Weihnachtsbeleuchtungen waren verschwunden, aber an den Straßenrändern lag der Schnee grau und matschig. Welch ein enormer Gegensatz, dachte ich, zu dem heißen Wüstenland, über das wir dem Menschenrechtsrat Bericht erstatten sollten.

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