Kitabı oku: «Das deutsche Zimmer», sayfa 2
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Ich warte noch drei Tage, bis ich den Schwangerschaftstest mache. Ich stelle idiotische Berechnungen an – wenn der Juli einunddreißig Tage hat und der August auch, hätte die letzte Menstruation … Keine Ahnung. Vom letzten Monat mit Santiago erinnere ich so gut wie nichts, bloß die Streitereien, die verletzenden Äußerungen, das dunkle Zimmer, Santiagos Körper auf mir, wir sehen uns aber nicht an, alles ist viel zu traurig. Ich weiß auch nicht mehr, wann ich das letzte Mal meine Tage hatte. Dafür weiß ich noch genau, wie ich eines Nachts zu Leonardo kam, wir haben eine Unmenge Wodka getrunken, und ich habe ihm erzählt, dass ich dabei bin, mich zu trennen, da hat er gesagt, ich soll bei ihm übernachten, irgendwann saß ich dann auf ihm, in seinem Bett, und als es draußen langsam wieder hell wurde, lag er neben mir und schnarchte, und ich wollte bloß noch fort, an einen Ort nur für mich, weit weg von allem.
Ich gebe mir große Mühe, mich daran zu erinnern, wann ich zum letzten Mal mit Blutflecken, Binden und Ibuevanol zu tun hatte, aber ich komme einfach nicht darauf. Ich ärgere mich, dass ich lauter Sachen aus dem Gedächtnis hervorkramen soll, ich bin doch gerade deshalb so weit weggefahren, damit ich mich von alldem erholen kann. Dann sage ich mir, kann ja sein, dass es bald losgeht. Am Morgen bleibe ich ewig lang im Bett, fürs Frühstück ist es deshalb zu spät, mittags mache ich einen Spaziergang, und danach lege ich mich gleich wieder hin. Einmal komme ich mit einer Japanerin aus dem Wohnheim ins Gespräch, sie ist sympathisch, studiert deutsche Philologie und heißt Shanice. Sie ist fast die einzige Person, mit der ich mich in diesen Tagen unterhalte. Ich merke, dass auch sie auf der Flucht ist, allerdings hat sie die Sache viel besser organisiert. Ein Studium in Deutschland ist für Japaner offenbar so etwas wie eine große Party. Wie die meisten Studenten hier im Wohnheim ist auch Shanice mehrere Jahre jünger als ich. Einmal erzählt sie, dass sie beschlossen hat, aus Japan fortzugehen, nachdem zwei Studienkollegen von ihr Selbstmord begangen hatten. Lächelnd sagt sie: »Es ist so einfach, sich vor einen Zug zu werfen, das ist ganz leicht, auch wenn es einem eigentlich gut geht, kann man das machen.«
Miguel Javier steht sehr früh auf und verbringt fast den ganzen Tag in der Universität, wir laufen uns kaum noch über den Weg. Ich lasse also drei Tage verstreichen, aber es tut sich immer noch nichts. Ich weiß nicht, wie ich hier an einen Schwangerschaftstest kommen soll. Ich frage Shanice, ob sie mir helfen kann. Sie hört aufmerksam zu und übernimmt die Sache, als handelte es sich um einen Geheimauftrag, bei dessen Erledigung uns nicht der geringste Fehler unterlaufen darf.
Schon bald steht sie wieder vor mir in meinem Zimmer und übergibt mir eine Schachtel, die sie in der Apotheke gekauft hat. Zusammen lesen wir die dreisprachige Gebrauchsanweisung – in das Döschen pinkeln, den Teststreifen reinlegen, drei Minuten warten, ist anschließend nur ein Strich zu sehen, ist das Ergebnis negativ, sind es zwei Striche, heißt das: positiv. Ganz einfach, also, los geht’s. Ich bedanke mich bei Shanice, aber sie bleibt vor mir stehen. Sie sieht mich an und erwartet offensichtlich, dass ich jetzt ins Bad gehe und ihr danach sage, was rausgekommen ist. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und sage, sie soll mich bitte allein lassen. Nein, erwidert sie, in so einer Situation lässt sie mich doch nicht allein. Sie steht da wie ein japanischer Soldat, und ich habe das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein. Andererseits weiß ich nicht, wie ich ihr in diesem Augenblick etwas klarmachen soll, was auch immer, mir fehlt die Kraft dazu. Schließlich nehme ich die Schachtel mit dem Test und gehe ins Bad. Ich mache alles genau, wie es in der Gebrauchsanweisung steht: Ich pinkle in das Döschen, stelle es auf den Boden und lege den Streifen hinein. Dann warte ich, wie angegeben, drei Minuten. Währenddessen versuche ich, mich mit meinem Spiegelbild abzulenken. Ich werde meiner Mutter immer ähnlicher. Als meine Eltern damals nach Heidelberg kamen, war sie schwanger, aber das wusste sie nicht. Ob sie sich gefreut haben, als es feststand? Ob mein Vater Brot, Würstchen und eine Flasche Wein gekauft hat? Ob sie darauf angestoßen haben? Ob sie die ganze Nacht wach waren und Zukunftspläne gemacht haben? Ob sie gleich zu Hause anrufen wollten, bei ihren Familien, und die Nachricht bekanntgeben? Ob sie gelacht haben?
Ich bücke mich, um das, was ich gerade im Stehen gesehen habe, genauer in Augenschein nehmen zu können – zwei deutlich erkennbare Striche. Ich drehe den Streifen um, schüttele ihn, sehe ihn mir erneut an. Die zwei Striche sind immer noch da. Ich wasche mir die Hände und verlasse das Bad. Shanice sitzt auf meinem Bett und sieht mich erwartungsvoll an. Ich sage ihr die Wahrheit: »Positiv. Mal sehen, was ich jetzt mache.« Dann bitte ich sie mit Nachdruck um zwei Dinge: »Sag niemandem was! Und jetzt geh, bitte!« Shanice umarmt mich, bevor sie das Zimmer verlässt. Ich verriegele die Tür und wandere eine Weile hin und her. Dann setze ich mich aufs Bett. Ich öffne die Packung Kekse und die Flasche Apfelsaft, die ich gestern gekauft habe. Der Saft schmeckt köstlich, ich fühle, dass meine Muskeln sich entspannen, der Druck in der Brust lässt nach und das Kinn fängt an zu zittern. Ich presse den Kopf ins Kissen und weine, bis ich einschlafe.
Zwei
1
In Heidelberg regnet es. Heute ist Samstag, und im Speisesaal sitzen lauter Studenten, die an diesem Wochenende darauf verzichten, Ausflüge zu machen. Ich habe einen ganzen Tag lang mein Zimmer nicht verlassen, jetzt aber beschlossen, nach unten zu gehen. Miguel Javier spielt mit einem rothaarigen Typen Schach. Der Typ hat einen Bart, und ich habe ihn schon einmal gesehen, ich glaube, er kommt aus einem osteuropäischen Land und studiert das Gleiche wie Miguel Javier. Ich freue mich, den Tucumaner wiederzusehen, und setze mich an einen Tisch in der Nähe der beiden, um zu warten, bis sie fertig sind. Ich möchte ein bisschen plaudern, worüber auch immer, und das Gefühl loswerden, eingeschlossen zu sein. Miguel Javier sieht mich aus dem Augenwinkel an, konzentriert sich aber trotzdem weiter auf die Partie, bewegt schließlich ein Pferd und sagt dann zu mir:
»Und, geht’s dir besser?«
»Ja. Du hattest recht.«
»Gut, dass du’s einsiehst. Ich hab immer recht.«
Der Rothaarige macht einen Zug, den ich nicht sehen kann, und der Tucumaner ärgert sich über sich selbst. Er schlägt sich mit der Hand an die Stirn und flucht leise vor sich hin. Der Rothaarige sieht mich an und lächelt.
Ich glaube, ich habe den Tucumaner abgelenkt, und jetzt verliert er wegen mir. Ich stehe auf und setze mich an einen anderen Tisch, der gerade frei geworden ist, er steht näher am Fenster, so kann ich in den verregneten Garten hinaussehen. Da kommt Frau Wittmann und sagt, ich soll ihr bitte helfen, ein paar Gardinen aufzuhängen, die sie hat reinigen lassen. Ich nehme an, dass sie mich fragt, weil ich allein bin und offenbar nichts zu tun habe. Alle um mich herum unterhalten sich oder lesen oder skypen in lauter verschiedenen Sprachen. Trotzdem überrascht ihre Bitte mich ein wenig. Wie kann es sein, dass die Leiterin eines so großen Wohnheims niemanden hat, der ihr bei der Arbeit hilft, einen Angestellten, meine ich? Sie hält mir die Gardine hin, viele Meter, aus einem tonnenschweren Stoff, die ich in die Schiene an der Decke einfädeln soll. Ich steige auf einen Tisch, und Frau Wittmann erklärt mir von unten, was zu tun ist. Als der Tucumaner mich so dastehen sieht, erhebt er sich und sagt, ich soll wieder runterkommen, ich sei ja wohl verrückt. Seit dem Ausflug zum Schloss, bei dem ich mich auf so verräterische Weise am Wegrand übergeben habe, behandelt er mich mit spürbarer Herablassung. Seine anfängliche Begeisterung ist in Enttäuschung umgeschlagen, er hat mich seither kaum noch angesehen und so gut wie nicht mehr mit mir gesprochen, wenn überhaupt, dann in vorwurfsvollem Ton. Jetzt hat er die Schachpartie Schachpartie sein lassen und steht selbst auf dem Tisch und folgt den Anweisungen Frau Wittmanns. Ich bin seiner Aufforderung wortlos nachgekommen, weiß nun aber nicht, was ich tun soll. Ich würde ja gern helfen, aber wie? Keine Ahnung, was mich eigentlich hierher geführt hat, in dieses Wohnheim, wo ich gar nicht hingehöre, in diese konservative Stadt, diese Märchenwelt, in dieses gleichermaßen perfekte und abstoßende Land. Ich gehe in mein Zimmer, ziehe mir die Jacke über und verlasse das Wohnheim. Während ich im Regen die Straße entlang wandere, sage ich Wörter und ganze Sätze vor mich hin, in allen möglichen Tonlagen. Ich bin auf der Suche nach einem Telefon, um in Buenos Aires anzurufen.
Ich werfe zwei Ein-Euro-Münzen ein und wähle die Nummer meiner früheren Wohnung. Während es läutet, bete ich, dass niemand drangeht, mir ist klar, dass es ein Fehler ist, anzurufen, wenn ich so voller Zweifel bin, aber einfach wieder auflegen kann ich auch nicht. Ich nehme mir vor, ganz direkt zu sein, alles auf einen Rutsch zu sagen, es geht ja nur um zwei Dinge, die einzigen zwei Dinge, die ich sicher weiß – ich bin in Deutschland und ich bin schwanger. Zehntausend Kilometer von hier entfernt nimmt Santiago ab. Ich frage, wie es ihm geht. Er sagt, Ringo sei von einem Auto angefahren worden und müsse operiert werden. Mir zieht sich der Magen zusammen. Ich fange an zu weinen. Ich frage, was der Tierarzt gesagt hat, ob er gerettet werden kann. Santiago sagt, das sei nicht klar, so sei das Leben eben. Ich glaube, kein Wesen auf der ganzen Welt liebt Santiago so sehr wie diesen Hund, und trotzdem klingt er so sarkastisch wie immer, genau wie bei unserer Trennung. Er fragt, ob ich bei der Operation dabei sein will, morgen früh. Ich sage, dass ich nicht kann, dass ich in Mar del Plata bin. Warum ich das sage, weiß ich nicht, es ist das Erste, was mir einfällt. Er sagt eine Weile nichts und bittet mich schließlich, ihm unsere Kundennummer von Telecentro zu schicken, dann werde er sich darum kümmern, dass die Telefonate mit dem Apparat bei uns zu Hause künftig auf seine Rechnung laufen und die Gebühren nicht mehr von meinem Konto abgebucht werden, schließlich wohne ich nicht mehr dort, also sei es auch seine Sache, dafür zu bezahlen. »Ja, ich schick sie dir, per E-Mail«, antworte ich. Eine Zeitlang schweigen wir uns an. Irgendwann fragt er, ob ich noch etwas sagen möchte. »Nein«, sage ich. »Dann lass uns auflegen«, sagt er, »der Anruf aus Mar del Plata kostet dich einen Haufen Geld.« Außerdem müsse er jetzt Ringo die Medizin geben, die der Tierarzt ihm verschrieben hat. »Hoffentlich geht alles gut«, sage ich. »Bei dir hoffentlich auch, und viel Spaß in Mar del Plata«, erwidert er und legt auf. Ich stehe eine Weile reglos mit dem Hörer in der Hand da. Als ich einhänge, gibt der Apparat mir eine Ein-Euro-Münze und drei Zehn-Cent-Münzen zurück.
Die Fäuste in den Jackentaschen geballt, gehe ich weiter, langsam, als würde ich immer noch Santiagos Stimme im Kopf hören. Keine Ahnung, wie Ringos Verletzung aussehen mag, bei der bloßen Vorstellung könnte ich mich übergeben. In Heidelberg sieht man nirgendwo herrenlose Hunde, die im Müll herumschnüffeln oder lang ausgestreckt im Schatten liegen – in Buenos Aires ist das normal, egal in welchem Viertel man unterwegs ist. Hier gibt es bloß Rassehunde, und sie sind klein und werden von ihren Besitzern an der Leine geführt, wenn sie nicht sogar getragen werden. In manchen Restaurants ist Kindern der Zutritt verboten, Hunden dagegen nicht. Ich wandere noch eine Weile ziellos umher. Der Regen hat sich in feinen melancholischen Nieselregen verwandelt. Ich will kein Geld für Kaffee ausgeben, aber mich weiter durchnässen lassen möchte ich auch nicht. Also mache ich mich auf den Rückweg ins Wohnheim. Dabei denke ich an Ringo, seinen warmen, dicht behaarten Körper – es tat so gut, ihn in die Arme zu nehmen, wenn ich im Winter nach Hause kam. Ich sehe seine Augen vor mir, die Art, wie sie mich scheinbar verständnisvoll ansahen, seine Ohren, die er aufstellte oder herunterklappte, je nachdem, wie wir gelaunt waren, wie er sich im Sommer im Hof ausstreckte, um Siesta zu halten, wie er unseren Besuchern beim Reinkommen die Schnauze in den Po bohrte, wie er mit dem Schwanz wedelte, sobald er hörte, dass Santiago den Schlüssel ins Schloss steckte. Ich stelle fest, dass ich ihn vermisse und für keinen anderen Hund jemals etwas Ähnliches werde empfinden können.
2
Im Wohnheim empfängt mich Shanice mit den Worten, sie habe schon nach mir gesucht, heute sei Karaokeabend. Sie trägt eine pinkfarbene Perücke und ein Kleid mit Streifenmuster. In der Zwischenzeit haben die anderen den Speisesaal in einen Partyraum verwandelt, an den Wänden hängen Luftballons und an der Decke eine Discokugel. Shanice erzählt, dass sie gerade die Teams zusammenstellen und dass sie möchte, dass ich zu ihrem gehöre. Ich sage, dass ich sehr schlecht singe und dass ich mich jetzt umziehen muss, weil ich ganz durchnässt bin. Sie sagt, sie wartet auf mich, und drückt mir eine blaue Perücke und eine violette Synthetikfederboa in die Hand. »Es wird bestimmt lustig, alle verkleiden sich und keiner denkt mehr an seine Probleme«, versichert sie, stößt kleine spitze Schreie aus und fuchtelt mit den Händen.
Heute Abend kann ich zwischen verschiedenen Möglichkeiten auswählen – ich kann mich ins Bett legen und im Kopf immer wieder das traurige Telefongespräch durchgehen, ich kann weiter diverse Termine berechnen, versuchen herauszufinden, wer eher infrage kommt, Leonardo oder Santiago, weinen, bis ich einschlafe, oder beim Karaoke mitmachen. Ich entscheide mich für Letzteres. Ich dusche und gehe in den Speisesaal hinunter. Ich habe das einzige Kleid an, das ich mitgenommen habe, und um den Hals trage ich die violette Federboa. Die blaue Perücke halte ich in der Hand. Alle sind verkleidet und total aufgedreht. Es läuft Musik von einer deutschen Rockband, die ich nicht kenne. Shanice nimmt mich am Arm und führt mich in eine Ecke, wo sie mir die Perücke aufsetzt, zurechtzieht und sagt, sie stehe mir großartig. Ein Typ mit Sturmhaube und Pfeife fordert mich zum Tanzen auf, er stellt sich vor als »Subcomandante Marcos«. Sein Akzent hört sich für mich zunächst russisch an. Er tanzt sehr schlecht, es sieht aber lustig aus. Er fragt, als was ich mich verkleidet habe.
»Als Weltraumprinzessin.«
»So was gibt’s, glaube ich, nur in deinem Heimatland.«
»Genau.«
»An deiner Stelle hätte ich mich als Evita verkleidet.«
»Woher weißt du, dass ich aus Argentinien bin?«
»Ich beobachte dich, seit du hier bist.«
»Ah, dann bist du also so eine Art Zapatistenspion, stimmt’s?«
»Nein, ich bin ein albanischer Don Juan.«
Auf einmal erkenne ich ihn, es ist der Rothaarige mit dem Bart, der am Nachmittag mit dem Tucumaner Schach gespielt hat. Da bricht die Musik ab. Shanice ergreift, sichtlich angetrunken, ein Mikrofon und sagt, wir sollen bitte mal still sein, sie möchte etwas mitteilen. So aufgeregt habe ich sie noch nicht erlebt, ihr hyperkorrektes Deutsch ist auf einmal wirr und voller Fehler.
»Guten Abend, alle zusammen! Herzlich willkommen, Karaokeabend, juhu! Viva Karaoke! Viva la musica! Heute singen und tanzen wir, und keiner traurig. Viele, viele Preise. Kusspreise für den Sieger! Mhmmm, wer wird Sieger? Du vielleicht, du mit Hasenmaske, wer küsst dich heute? Die mit Häsinnenmaske, klar! Ja, heute Fiesta, und alles erlaubt, okee? Keiner traurig. Viva Heidelberg! Jetzt mal sehen, was ist der erste Stück …« Sie nimmt einen Zettel aus einer Tüte und liest vor, was darauf steht. »Papa Don’t Preach, der alte Madonna-Hit. Wer möchte?«
Ein Mexikaner mit goldenem Bademantel und Marilyn-Monroe-Perücke schnappt sich das Mikrofon und führt eine groteske Madonna-Parodie vor. Nach ihm singt eine als Rotkäppchen verkleidete Französin ein Stück von Britney Spears, dann kommt der Tucumaner an die Reihe, er trägt ein GauchoKostüm und singt Matador von der argentinischen Band Fabulosos Cadillacs, begleitet von einem kleinen Chor aus Chinesen, die den Text einfach nach dem Gehör vortragen. Alles ist sehr lustig, und obwohl ich mich wirklich überwinden musste, zu dieser Party zu gehen, muss ich zugeben, dass Shanice recht hatte – eine ganze Weile vergesse ich das grässliche Telefonat mit Santiago, die Schwangerschaft, die furchtbare Ungewissheit. Außerdem gibt es superleckere Würstchen und großartiges Bier.
Der falsche Subcomandante Marcos sagt, ich soll mit ihm vor die Tür gehen, eine rauchen. Die Nacht ist jetzt vollkommen klar, und am Himmel steht ein riesiger Mond, wie in einem Liebesfilm oder einem Film mit einem Wolfsmann. Eine Zeitlang sprechen wir über unsere Heimatländer, über Politik und darüber, was uns an Deutschland gefällt oder nicht gefällt. Der Rothaarige erzählt, dass er an der Universität ein Seminar über den Peronismus besucht hat und dass er gern einmal nach Patagonien fahren würde, außerdem ist er Fan von Maradona. Schließlich zieht sich Subcomandante Marcos – wie er wirklich heißt, weiß ich immer noch nicht – die Sturmhaube vom Kopf und lächelt mich an. Dann wird aus dem Lächeln ein tief konzentrierter Ausdruck, während er den Blick langsam über meine Stirn, meinen Mund und meinen Hals gleiten lässt. Ich weiß, dass er irgendwann versuchen wird, mich zu küssen. Ich stelle fest, dass er noch sehr jung ist, wie der Tucumaner ist er nicht älter als fünfundzwanzig, vielleicht sechsundzwanzig. Er nähert sich mir, streicht mir die Tolle der Perücke aus der Stirn und sagt, meine Augen würden im Mond glänzen, oder etwas in der Art, genau verstehe ich ihn nicht. Ich erwidere, dass ich mindestens zehn Jahre älter bin als er und außerdem schwanger. Er sieht mich ungläubig an, merkt offenbar aber gleich, dass ich die Wahrheit sage. »Schwangere Frauen finde ich faszinierend«, erklärt er, drückt mich an die Wand und will mich auf den Mund küssen. Anfangs wehrt sich etwas in mir, doch dann gebe ich nach und mein Mund öffnet sich. Mir gefällt, was er mit mir macht. Ich schiebe meine Finger zwischen seine ziegelroten Barthaare, und wir küssen uns. Auf einmal steigt das Bild von dem ziegelroten Teppich in mir auf, den ich einmal mit Santiago in Salta kaufte und der so gut zu dem Sofa passte. Er wirkte ganz schlicht und einfach, war aber sehr teuer, und weitergeholfen hat er uns auch nicht, das war alles eine Lüge, gemeinsam ein Haus einrichten ist ein schönes Spiel, man kann aber jederzeit genauso gut etwas anderes spielen. Auf einmal wird mir etwas klar: Ich möchte nie wieder ein komplettes Service kaufen, nie wieder die Bilder an der Wand geraderücken oder darüber nachdenken, wohin ein Teppich am besten passt, der einfach und schlicht wirkt, das aber gar nicht ist. Und ich will nie mehr zur Gärtnerei gehen und fragen, welche Blumen Sonne brauchen und welche lieber im Schatten wachsen. Und ich will auch nie mehr Vorhangstoff aussuchen, Möbel polstern lassen, Regale ausmessen. Diese Teppiche, die alle von ihren Reisen in den Norden Argentiniens mitbringen, zeigen vor allem eins: Das ist alles bloß ausgedacht. Lieber lebe ich den Rest meines Lebens als Flüchtling, trinke Kaffee aus fremden Tassen, die ich nicht selbst ausgesucht habe und an denen mir nichts liegt, und erwache in Wohnungen, deren Adresse ich nicht angeben kann. Dafür genieße ich den überraschenden Ausblick, wenn ich am Morgen das Fenster öffne und mich frage, wie wohl das umliegende Viertel ist und wie es sich hier leben lässt, mit Teppichen ohne besondere Geschichte beziehungsweise mit der Geschichte anderer, die letztlich vielleicht gar nicht so anders ist. Der Rothaarige hört auf, mich zu küssen, und sieht mich schweigend an. Ich sage entschuldigend, dass ich gerade mit den Gedanken woanders war, dass mir etwas eingefallen ist. Da presst er sich noch fester an mich, und ich schließe ihn verzweifelt in die Arme. Er hakt mit einer Hand von außen, durch den Stoff hindurch, meinen BH auf, schiebt dann einen Träger meines Kleids zur Seite und küsst mich auf die Schulter. Bei der Vorstellung, jemand könnte uns sehen, befällt mich Panik, ich ziehe den Träger wieder hoch, lächle ihn an. Er umklammert meine Taille, und während wir uns wieder küssen, hebt er vorsichtig das Kleid an und lässt die Hände anschließend unter dem Stoff bis zu meinem Slip hinauf wandern. Da glaube ich zu hören, dass jemand im Speiseaal nach mir ruft. Reflexartig stoße ich den Rothaarigen zurück und ziehe mir das Kleid zurecht, er sagt etwas in seiner Sprache, was ich nicht verstehe. Dann entfernt er sich ein Stück, zündet sich eine Zigarette an und raucht schweigend, den Blick zur Straße gerichtet. Ich möchte etwas sagen, mir fällt aber nichts ein, und wir sind wieder zwei Unbekannte am Rand einer Party, die sich nicht besonders wohl miteinander fühlen.
Erneut höre ich den Ruf aus dem Speisesaal, es ist der Tucumaner, der durchs Mikrofon sagt: »Die Frau aus meinem Heimatland soll kommen und eine argentinische Chacarera mit mir singen!« Mehrmals wiederholt er schreiend meinen Namen. Ich will eigentlich nicht darauf eingehen, aber etwas an seiner Stimme erweckt mein Mitleid, vielleicht finde ich es auch nur peinlich, jedenfalls ist mir klar, dass er erst aufhören wird, wenn ich komme. Ich sage zu dem Rothaarigen, dass ich gleich wieder da bin, und gehe in den Saal. Der Tucumaner liegt mit dem Mikrofon in der Hand auf dem Boden, manche lachen ihn aus, andere versuchen, ihm auf die Beine zu helfen, aber er sagt bloß immer wieder auf Spanisch: »Die Frau aus meinem Heimatland soll kommen! Die schwangere Frau aus meinem Heimatland.« Ich nehme ihm das Mikrofon weg und sage, er ist ein Idiot. Da rappelt er sich hoch und erwidert, während er schwankend vor mir steht:
»Pass auf mit dem Jugoslawen da, das ist ein Schwätzer und überhaupt der letzte Wichser.«
»Ich glaub, du bist betrunken.«
»Und ich glaub, du bist wunderschön.«
Er fällt wieder zu Boden. Ich bringe ihm ein Glas Wasser, aber er rührt sich nicht. Shanice tanzt barfuß allein in der Mitte des Saals und bekommt von alldem nichts mit. Ein Chinese hilft mir, den Tucumaner auf einen Stuhl zu hieven, wo er in sich zusammensackt und anfängt, uns zu beschimpfen. Mehrere Studenten machen sich daran, die Tische abzuräumen. Es ist noch nicht spät, aber die Party geht offensichtlich ihrem Ende entgegen. Im Hintergrund sehe ich den falschen Subcomandante Marcos jetzt neben dem französischen Rotkäppchen sitzen, das das Stück von Britney Spears gesungen hat, sie unterhalten sich und sehen sich dabei in die Augen, zugleich streichelt er unermüdlich ihr Bein. Ich ärgere mich, irgendwie finde ich es aber auch witzig. Ich lasse den Blick weiter durch den Saal wandern, die anderen erleben gerade etwas, was sie später, in der Zukunft, als den besten Moment ihres Lebens erinnern werden, ihre Studentenzeit, ihr Auslandsabenteuer, fern von den Eltern. In zehn Jahren sind sie bestimmt längst verheiratet, haben Kinder und einen guten Job und denken voller Sehnsucht an die Tage in Heidelberg zurück, die nie wiederkehren werden. Ich aber gehöre nicht zu ihnen, ich gehöre nirgendwo hin. Ich kann noch so lange durch die Welt reisen, zu Hause werde ich mich an keinem Ort fühlen. »War schön, das Fest«, sage ich zu Shanice, die offensichtlich nicht zuhört. Dann gehe ich schlafen, ohne mich von irgendwem zu verabschieden.
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