Kitabı oku: «Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918», sayfa 5

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Kehren wir von der Branchenebene zurück zur Analyse sektoraler Arbeitsproduktivitätsunterschiede und wenden uns der Landwirtschaft zu. Um 1910 waren in Deutschland und den Vereinigten Staaten rund ein Drittel aller Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, in Großbritannien hingegen nur 12 Prozent. Die Arbeitsproduktivität der deutschen Landwirtschaft betrug lediglich zwei Drittel der Produktivität in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten. Ein Blick in sektorspezifische Produktivitätsstudien zeigt jedoch, dass die Angaben zur deutsch-britischen komparativen Arbeitsproduktivität stark davon abhängen, ob man die Bruttowertschöpfung oder die physische Produktionsmenge miteinander vergleicht. Nach dem ersten Konzept war die Arbeitsproduktivität in Großbritannien 28 Prozent höher als in Deutschland, nach dem zweiten Konzept jedoch 75 Prozent, sodass der oben genannte Wert von 49 Prozent etwa in der Mitte liegt.109 Des Weiteren hängt das relative Produktivitätsniveau sehr stark von der Definition des Arbeitseinsatzes ab. Dividiert man nämlich die in Deutschland und Großbritannien erzeugte Gütermenge bzw. die erzielte Bruttowertschöpfung durch die Anzahl der männlichen Arbeitskräfte anstatt durch die Anzahl aller Arbeitskräfte (Männer, Frauen und Kinder), dann zeigt sich, dass die deutsche Landwirtschaft um 1910 mindestens ebenso produktiv war wie die britische Landwirtschaft.110 Dieses engere Arbeitskräftekonzept gibt möglicherweise ein präziseres Bild über die tatsächlich geleistete landwirtschaftliche Arbeit, da Kinder und Frauen möglicherweise stärker anderen Tätigkeiten, beispielsweise in der Hausindustrie, nachgingen. Jedoch sind auch bei diesem Vergleich wieder erhebliche Datenprobleme anzutreffen. Insbesondere für Deutschland herrscht Unsicherheit über den Grad der weiblichen Beschäftigung im Agrarsektor, da sich, so die amtlichen Daten des Kaiserlichen Statistischen Amts, die Frauenerwerbsquote in ländlichen Regionen zwischen 1895 und 1907 |61◄ ►62| von unter 30 auf über 50 Prozent erhöht haben soll.111 Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass der Fragebogen des Zensus von 1907 – im Gegensatz zum 1895 verwendeten Fragebogen – weitaus präziser war, da er auch Angaben über Familienmitglieder, die durchgängig im Betrieb des Familienvorstandes beschäftigt waren, verlangte. Diese mithelfenden Familienangehörigen wurden in den vor 1907 durchgeführten Berufszählungen offensichtlich nur unzureichend erfasst. Andererseits bedeutet die Erfassung der durchgängig im Betrieb Beschäftigten auch, dass nur vorübergehend oder in Teilzeit Beschäftigte explizit ausgeschlossen wurden. Die Division der Wertschöpfung oder Produktionsmenge durch die Anzahl der männlichen Arbeitskräfte impliziert folglich eine falsche Darstellung des tatsächlichen Arbeitseinsatzes.

Wie bereits oben ausgeführt, war das niedrigere Verhältnis von bewirtschafteter Fläche je Arbeiter ein Grund für die niedrigere Arbeitsproduktivität in Deutschland. Ein deutscher Erwerbstätiger in der Landwirtschaft hatte um 1910 rund 6,6 Hektar zur Verfügung, ein britischer 11,4 Hektar und ein amerikanischer 44,1 Hektar. Die Produktivität je Hektar war in Deutschland außergewöhnlich hoch und betrug das 2,3-fache der britischen Bodenproduktivität.112 Gerade im Vergleich zu den Vereinigten Staaten kann somit die relativ niedrige Bodenintensität den Rückstand bei der Arbeitsproduktivität erklären. Betrachtet man die Entwicklung in diesen beiden Staaten zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg, so zeigt sich, dass in den Vereinigten Staaten 40 Prozent des Produktionswachstums in der Landwirtschaft auf zusätzlichen Arbeitseinsatz, 31 Prozent auf zusätzlichen Kapitaleinsatz und 29 Prozent auf eine höhere Gesamtfaktorproduktivität zurückgeführt werden können. In Deutschland hingegen können 59 Prozent des Produktionswachstums mit einer gesteigerte Gesamtfaktorproduktivität, allerdings nur 20 bzw. 21 Prozent mit erhöhtem Arbeits- bzw. Kapitaleinsatz begründet werden.113 In allen Länder kann man die gesteigerte Gesamtfaktorproduktivität wiederum mit den Erfolgen des technischen Fortschritts erklären: beispielsweise mit dem Einsatz verbesserter Pflüge oder der zunehmenden Mechanisierung von Sä-, Mäh- und Dreschvorgängen. Diese arbeitssparenden Erfindungen wurden zunächst in Nordamerika und Großbritannien eingesetzt, da dort Arbeitskräfte relativ knapp waren bzw. der gewerbliche Sektor stärker um sie konkurrierte. Besonders schnell stieg in Deutschland hingegen der Dünger- und Kunstdüngereinsatz, wodurch die Bodenproduktivität stieg. Der technische Fortschritt konzentrierte sich somit auch in Deutschland auf die Vermehrung des knappen Faktors Boden. Insbesondere |62◄ ►63| der verstärkte Anbau von Kartoffeln und Zuckerrüben veränderte die deutsche Landwirtschaft im internationalen Vergleich nachhaltig. Da die Saat- und Erntezeiten für diese Früchte später im Jahr liegen, überschnitten sie sich mit der Haltung von Tieren auf den Allmenden. Als Konsequenz wurden die Allmenden nach und nach abgeschafft und in effizienter genutztes Privateigentum überführt. Zudem benötigen Kartoffeln und Zuckerrüben andere Bodennährstoffe, weshalb die Fruchtfolge geändert und bisher nicht genutzte sandige Böden für die Landwirtschaft erschlossen werden konnten. Darüber hinaus wurden gerade Zuckerrüben oft durch Pilze und Insekten befallen und ihr zunehmender Anbau förderte daher den Ausbau der Pflanzenschutzforschung, der langfristig auch anderen Pflanzen zugute kam. Fernerhin wurden Kali, Nitrat und Ammoniumsulfat stärker als in anderen Ländern als Dünger eingesetzt. Insbesondere nachdem die Eisenindustrie verstärkt phosphorhaltige schwedische Eisenerze verwendete, stand zudem Phosphat in der Form von Thomasschlacke als Dünger zur Verfügung. Schließlich erlaubte der Kunstdüngereinsatz eine zunehmende Arbeitsteilung innerhalb der Landwirtschaft, da zuvor Art und Anzahl der gehaltenen Tiere die Düngermenge bestimmt hatte. Nun konnten tierische und pflanzliche landwirtschaftliche Produktion getrennt werden.114

Neben der Arbeits- und Gesamtfaktorproduktivität können auch Löhne international miteinander verglichen werden. Diese Art des Vergleichs ist bisher in der Forschungsliteratur wenig beachtet, kann jedoch aus methodischer Sicht ebenso wie der Produktivitätsvergleich vorgenommen werden: Die erzielten Arbeitseinkommen müssen zunächst mit Hilfe von Kaufkraftparitäten in eine einheitliche Währung umgerechnet und können dann zueinander in Beziehung gesetzt werden. Beim internationalen Vergleich von Reallöhnen ist zu beachten, dass die für die einbezogenen Länder verwendeten Lohnreihen eine identische Gruppe von Erwerbstätigen abbilden. Ferner ist darauf zu achten, dass die zur Umrechnung von Nominal- in Reallöhne benutzen Preisindizes die tatsächlich konsumierten Güter in den jeweiligen Ländern widerspiegeln. Ebenso gilt, dass, – zumindest wenn eine lange Periode untersucht wird – der zur Berechnung der Kaufkraftparitäten zwischen den Ländern und zur Ermittlung des Konsumentenpreisindex innerhalb der Länder zugrunde liegende Warenkorb an die aktuellen Ausgabenstrukturen der Lohnempfänger angepasst wird.115 Für einen internationalen Reallohnvergleich wurden Nominallöhne für vollzeitbeschäftigte Erwerbstätige in der Landwirtschaft, der Industrie und im Dienstleitungssektor erhoben und mit Hilfe von Kaufkraftparitäten in eine gemeinsame Währung transformiert.116 Die Kaufkraftparitäten beruhen auf deutschen und britischen |63◄ ►64| Haushaltsbudgets für das Jahr 1905, wobei der Warenkorb 18 Güter sowie deren Preise in den beiden Ländern und den Anteil dieser Güter an den Haushaltsausgaben umfasst. Beispielsweise gaben deutsche Haushalte 0,6 Prozent ihres Budgets für Tee und 5,5 Prozent für Kaffee aus. Britische Haushalte hingegen gaben vier Prozent ihres Budgets für Tee und 1,4 Prozent für Kaffee aus. Da Tee in Deutschland 2,31 Mark und in England 18 Pence kostete, betrug die Kaufkraftparität für Tee 30,80 Mark je Pfund. Kaffee hingegen kostete 93,6 Pfennige in Deutschland und 18,20 Pence in England, sodass die Kaufkraftparität 12,34 Mark je Pfund betrug. Gewichtet man die Kaufkraftparitäten für die beiden Güter mit dem geometrischen Mittel der Ausgabenanteile in den beiden Staaten, dann ergibt sich eine Kaufkraftparität für Genussmittel von 18,95 Mark pro Pfund. Für die anderen Konsumgüter geht man ebenso vor und schließlich ergibt sich für das gesamte Konsumgüterbündel eine Kaufkraftparität im Jahre 1905 von 20,62 Mark je Pfund. Diese liegt sowohl nahe an der oben vorgestellten Kaufkraftparität aus Sicht der Produzenten als auch am offiziellen Wechselkurs von 20,43 Mark je Pfund. Tabelle T8 präsentiert die deutschen und britischen Nominallöhne im Jahre 1905 für sieben Branchen und die gesamte Volkswirtschaft sowie die realen Kaufkraftverhältnisse der Löhne. Schließlich zeigt die rechte Spalte in Form der relativen Lohnstückkosten das Verhältnis zwischen Lohn und Leistung, d.h. das Verhältnis von relativen deutsch-britischen Reallöhnen zur relativen deutsch-britischen Arbeitsproduktivität.

Tabelle T8: Löhne in Deutschland und England


Quelle: Broadberry / Burhop, Real wages.

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In fast allen Branchen wurde in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger verdient als in Großbritannien. Ausnahmen von dieser Regel waren lediglich der öffentliche Dienst und der sich größtenteils im Staatsbesitz befindliche Verkehrs- und Kommunikationssektor mit Eisenbahnen und Post. Besonders niedrig waren die Löhne in der Landwirtschaft, im Handel, bei Banken und Versicherungen. Da dies jedoch Branchen mit vergleichsweise niedriger Arbeitsproduktivität waren, entsprachen Lohn und Leistung einander. Die Lohnstückkosten waren etwa gleichauf mit denen in England. Im deutschen Transportsektor war die Arbeitsproduktivität sehr hoch, weshalb die Lohnstückkosten sich hier als sehr niedrig erwiesen. Ebenfalls sehr niedrige Lohnstückkosten hatten das Baugewerbe und die Industrie. Die relativ hohe Arbeitsproduktivität der deutschen Industrie ging mit vergleichsweise niedrigen Löhnen einher. Ihre hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit kann also zumindest teilweise den niedrigen Löhnen zugeschrieben werden. Es ist allgemein anerkannt, dass Deutschland vor allem in der frühen Phase der Industrialisierung aufgrund von niedrigen Löhnen international konkurrenzfähig war,117 für die Zeit um die Jahrhundertwende wird die Wettbewerbsfähigkeit dagegen der deutschen Industrie vor allem mit der hohen Innovationskraft in der Chemie-, Elektro- und Maschinenbauindustrie begründet.118 Gleichwohl deuten die Ergebnisse in Tabelle T8 darauf hin, dass niedrige Industrielöhne bis zum Ersten Weltkrieg entscheidend zum Aufstieg Deutschlands auf dem Weltmarkt beitrugen.

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V. Die Konjunktur

Ebenso wie in der Gegenwart wuchs auch im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Wirtschaft nicht stetig, sondern unterlag temporären Schwankungen um den langfristigen Wachstumstrend. Dieser Trend wird in der Terminologie der modernen Volkswirtschaftslehre als Konjunktur bezeichnet. Bisher hat die Volkswirtschaftslehre weder eine generell anerkannte Theorie noch eine allgemeine akzeptierte Messmethode für Konjunkturschwankungen entwickelt. Daher muss die Konjunkturgeschichtsschreibung zunächst allgemein eine Entscheidung über Theorien treffen, da deren Gültigkeit sehr unsicher ist. Erst vor diesem Hintergrund kann sie den Konjunkturverlauf interpretieren. Drei Arten von Konjunkturtheorien können grundsätzlich unterschieden werden. Erstens ontologische Theorien, die der Feststellung des Erkenntnisobjekts dienen. Wenn man beispielsweise davon ausgeht, dass der private Sektor einer kapitalistischen Wirtschaft inhärent stabil ist, dann bietet sich eine stochastische Konjunkturtheorie an, denn die beobachteten Schwankungen entstehen zufällig und nicht aufgrund der der kapitalistischen Wirtschaft innewohnenden Charakteristika. Zweitens gibt es Kausaltheorien, die für die Erforschung der Ursachen und Wirkungen von Konjunkturzyklen entworfen wurden. Drittens sind methodologische Theorien anzuführen, die sich vor allem damit beschäftigen, welche Indikatoren zur Messung von Konjunkturzyklen verwendet werden sollten und wie die statistische Modellierung der Zyklen vorzunehmen sei.119 Die moderne Volkswirtschaftslehre benennt drei wesentliche stilisierte Fakten der Konjunktur. Erstens folgen die Zyklen keinem einfachen regulären Muster. Zweitens verhalten sich die Komponenten des Sozialprodukts sehr unterschiedlich während des Zyklus. Die Schwankung wird hauptsächlich von den Investitionen verursacht, der Konsum bleibt mehr oder weniger konstant. Drittens verlaufen Abschwünge schneller als Aufschwünge. Die Konjunktur ist, wie sich zeigt, ein schwer zu fassendes Phänomen; daher gibt es verschiedene theoretische Ansätze zu ihrer Erklärung. Die Theorie der realen Konjunkturzyklen schreibt in ihrer einfachsten Fassung Schwankungen der realwirtschaftlichen Aktivität vollständig zufälligen Variationen des technischen Wissens zu. Gemäß dieser Theorie befindet sich die Wirtschaft stets im Optimum, sodass eine staatliche Konjunkturpolitik nicht notwendig ist. Dem stehen keynesianische Konjunkturmodelle gegenüber, die Raum für aktive Konjunkturpolitik lassen, denn danach lassen sich Schwankungen der privat- und außenwirtschaftlichen Nachfragekomponenten des Sozialprodukts durch geld- und fiskalpolitische Maßnahmen beeinflussen. Darüber |67◄ ►68| hinaus gibt es deterministische Konjunkturtheorien, denen ein bestimmter, determinierter Prozess zugrunde liegt. Ein Beispiel sind Überinvestitionstheorien: Wenn die Investitionen zu hoch waren, dann sinkt die Kapazitätsauslastung und die Unternehmen versuchen den Absatz durch niedrigere Preise anzukurbeln. Die für die Niedrigpreispolitik notwendigen Kostenreduktionen gehen mit Entlassungen und Lohnsenkungen einher. Wenn die Kosten und Preise ausreichend gefallen sind, dann steigen Absatzmengen und Kapazitätsauslastung wieder an und die Investitionen nehmen zu. Ein neuer Zyklus beginnt. Ein Blick in die Literatur zur historischen Konjunkturforschung zeigt, dass älteren Darstellungen eine deterministische Konjunkturtheorie zugrunde liegt. Demgegenüber basieren neue Arbeiten auf der Theorie der realen Konjunkturzyklen. Daher fällt es schwer, die Ergebnisse der historischen Konjunkturforschung zusammenzuführen.

Die Probleme, die aus dieser vielschichtigen theoretischen Unsicherheit für die historische Interpretation von Konjunkturen resultieren, seien an einem Beispiel verdeutlicht. Wenn man die vier traditionellen Zeitreihen des deutschen Sozialprodukts für die Jahre 1851 bis 1913 mit vier verschiedenen statistischen Methoden in eine Wachstums- und eine Konjunkturkomponente zerlegt, dann ergeben sich 16 unterschiedliche Konjunkturverläufe, von denen nur einer mit der typischen historischen Interpretation übereinstimmt.120 Die Sozialproduktreihen wurden mit Hilfe von statistischen Methoden aufgesplittet in eine Trendkomponente, die das langfristige Normalwachstum der Wirtschaft abbildet, und in eine Konjunkturkomponente, die die Abweichung des Sozialprodukts in einem Jahr vom langfristig erwarteten Wert widerspiegelt. Der Untersuchungsgegenstand der Konjunkturforschung ist somit eine Restgröße, die von der zugrunde liegenden statistischen Annahme über den Verlauf des Wachstumsprozesses abhängt. Dieser Wachstumsprozess wird mit Hilfe von vier verschiedenen statistischen Modellen dargestellt.121 Im ersten Fall – und dies ist das traditionelle Verfahren – geht man davon aus, dass die Wirtschaft langfristig mit einer konstanten Rate wuchs (lineares Trendmodell). Im zweiten Fall wird vorausgesetzt, dass die Wirtschaft zwar prinzipiell mit einer konstanten Rate wuchs, sich diese Wachstumsrate aber einmal im Verlauf der Jahre 1851 bis 1913 änderte. Dabei verwendet man ein lineares Modell mit Strukturbruch. Dass auch das langfristige Wirtschaftswachstum Schwankungen unterliegt, die nicht zur Konjunkturkomponente gehören, ist der dritte Fall. Im vierten und letzten Fall wird angenommen, dass es neben den langfristigen Wachstumsschwankungen immer |68◄ ►69| auch kurzfristige stochastische Schwankungen gab, die nicht zur Konjunktur gehörten. Insbesondere nimmt man an, dass nur Schwankungen im Spektrum von zwei bis acht Jahren zur konjunkturellen Komponente zählen. Fraglich ist nun, ob die typische historische Interpretation dem tatsächlichen Konjunkturverlauf entspricht oder ob sich diese Interpretation durchgesetzt hat, weil sie auf einem besonders einfachen statistischen Verfahren beruht, denn die Daten- und Methodenwahl beeinflusst die historische Interpretation substanziell.122

Das sei an zwei in der allgemeinhistorischen Literatur diskutierten konjunkturellen Phänomenen verdeutlicht: der »Gründerzeit« (1870–1879) und der »Großen Depression« (1873–1896). Um die Zeit der Reichsgründung kam es, so die übliche Auffassung, zu einem starken wirtschaftlichen Aufschwung, der durch die positive Stimmung nach der Nationalstaatsgründung, durch die Liberalisierung des Aktienrechts wie auch durch den Zufluss einer erheblichen französischen Reparation nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich (1870/71) angetrieben wurde. Die Phase der Börsenspekulation mit gleichzeitig hohen Investitionen endete 1873 mit einem Börsenkrach und wurde von einer Phase der realwirtschaftlichen Stagnation mit fallenden Preisen und einer Phase langsamen Wachstums bis 1895 abgelöst.123 Tatsächlich findet man, unabhängig von der verwendeten Reihe des Sozialprodukts, eine lang anhaltende Rezession, die irgendwann in den 1870er Jahren begann und Mitte der 1890er Jahre endete, sofern man ein lineares Trendmodell für das langfristige Wirtschaftswachstum unterstellt. Für fast alle anderen Trend-Zyklus-Dekompositionen findet man die »Große Depression« jedoch nicht, weswegen diese Interpretation der Geschichte davon abhängt, ob das langfristige wirtschaftliche Wachstum einem stabilen Trend folgte. Lässt man beispielsweise einen Strukturbruch im langfristigen Wachstumsverlauf zu, dann zeigt sich, dass die deutsche Wirtschaft im Verlauf der 1870er Jahre auf einen höheren Wachstumspfad einschwenkte, was mit der These einer jahrzehntelangen Depression nur schwer in Einklang zu bringen ist.124 Auch eine eindeutige Datierung der »Gründerkrise« von 1873 fällt schwer, wenn man sich einzig auf die zyklische Komponente des Sozialprodukts stützt.125 Bereits ein einfacher Vergleich des aus verschiedenen Reihen berechneten realen Wachstums der deutschen Wirtschaft zwischen 1870 und 1874 zeigt, dass die zugrunde liegenden Daten für die historische Konjunkturforschung ungeeignet |69◄ ►70| sind: Einerseits weist die Verwendungsrechnung von Hoffmann ein reales Wachstum von 26 Prozent aus. Andererseits zeigt die Verteilungsrechnung von Hoffmann / Müller eine reale Schrumpfung von 5 Prozent. Unabhängig von der verwendeten Methode belegt die Verwendungsrechnung nach Hoffmann eine Prosperitätsphase von 1872 bis 1874. Diese Datierung entspricht der traditionellen Geschichtsschreibung. Verwendet man aber andere Daten oder Methoden, dann ergibt sich ein anderer Zyklus: Mal findet man einen Aufschwung in den Jahren 1873 und 1874, mal in den Jahren von 1873 bis 1876. Zusammenfassend kann man feststellen, dass mit Hilfe von gesamtwirtschaftlichen Daten und eindimensionalen statistischen Verfahren eine Konjunkturbeschreibung unmöglich ist.

Möglicherweise kann die moderne Konjunkturforschung bei der Auswahl der richtigen Zeitreihe des Sozialprodukts helfen.126 Als Auswahlkriterium dafür bietet sich die Frequenzkorrelation der zyklischen Komponente einer Reihe des Sozialprodukts mit der zyklischen Komponente eines Aktienindex an, da es aus der modernen Konjunkturforschung theoretische und empirische Evidenz dafür gibt, dass sich die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Entwicklung des Aktienmarktes sehr gut widerspiegelt.127 Wenn man annimmt, dass dieser Zusammenhang auch im Kaiserreich gegolten hat, dann kann man, da für die Aktienmarktentwicklung wesentlich zuverlässigere Daten vorliegen, anhand der Zyklen des Aktienmarktes auf die Zyklen der Gesamtwirtschaft zurück schließen. Tatsächlich zeigt sich, dass die zyklische Komponente der Verteilungsrechnung die höchste Frequenzkorrelation mit der zyklischen Komponente des historischen deutschen Aktienindex aufweist.128 Weiterhin ist die Frequenzkorrelation der Lohnzyklen mit den Aktienkurszyklen sehr hoch, sodass Schwankungen der nominalen Aktienkursentwicklung gemeinsam mit Schwankungen der Nominallöhne genutzt werden können, um die gesamtwirtschaftliche Konjunktur zu datieren. 129 Nach dieser Methode zeigt sich die Existenz eines Aufschwungs nach der Reichsgründung, der 1873 seinen Höhepunkt erreichte und dem eine Rezession bis 1878 folgte. Diese Rezession leitete jedoch keine »Große Depression« ein, da es auch in den folgenden Jahren zwei Konjunkturzyklen gab, nämlich |70◄ ►71| von 1878 bis 1887 und von 1887 bis 1894, mit Konjunkturspitzen in den Jahren 1882 und 1890. Bis zum Ersten Weltkrieg folgten zwei weitere Konjunkturzyklen, nämlich von 1894 bis 1902, mit der Konjunkturspitze im Jahre 1900, und von 1902 bis 1908, mit der Konjunkturspitze um die Jahreswende 1905/06. Der 1908 beginnende Aufschwung erreichte seinen Höhepunkt im Jahre 1911. Das Ende dieses Zyklus wurde vor Kriegsausbruch nicht mehr erreicht.130

Ein alternativer methodologischer Ansatz zur Konjunkturdatierung, der möglicherweise ein zutreffenderes, aber vor allem ein differenzierteres Bild der wirtschaftlichen Schwankungen zutage fördert, basiert auf Diffusionsindizes und verwandten Verfahren. Diese Verfahren verwenden nicht das Sozialprodukt als eindimensionales Maß für Konjunkturphänomene, sondern sie beruhen auf einer Vielzahl wirtschaftlicher und wirtschaftsbezogener Zeitreihen. Hierzu zählen beispielsweise die Anzahl der Konkurse, die Höhe des Privatdiskontsatzes für kurzfristige Wechselkredite, das Niveau der Großhandelspreise für Industrie-und Agrarrohstoffe, die Menge der Roheisenproduktion und die Menge der Baumwollgarnproduktion.131

Im einfachsten Fall wird für jede einbezogene Zeitreihe geprüft, ob sie während einer Periode eine positive oder negative Konjunkturentwicklung indiziert. So wird ein Anstieg der Roheisenproduktion als ein positives Zeichen, ein Anstieg der Konkurse hingegen als ein negatives Zeichen angesehen. Werden die positiven Signale mit dem Wert »1«, die negativen Signale mit dem Wert »–1« belegt und wird anschließend die Summe der Signale gebildet, dann kann ein sogenannter Diffusionsindex berechnet werden. Die Veränderung des Diffusionsindex zwischen zwei Zeitpunkten wird dann als Indikator für die konjunkturelle Entwicklung verwendet. Solange der Diffusionsindex steigt, befindet sich die Ökonomie in einer Prosperitätsphase, wenn der Diffusionsindex fällt, befindet sich die Wirtschaft in einer Depressionsphase.

Ein aus 16 Zeitreihen für die Jahre 1820 bis 1913 berechneter Diffusionsindex zeigt – wenn man die Betrachtung auf die Zeit des Kaiserreichs begrenzt – sechs Konjunkturzyklen.132 Der längste, aber im Jahresdurchschnitt mit schwacher Expansionskraft ausgestattete Aufschwung begann 1866 und endete 1879, mit Höhepunkt im Jahre 1872. Darauf folgte ein Konjunkturzyklus von 1879 bis 1886, der allerdings bereits 1880 seinen Höhepunkt erreichte. Auf diesen folgte von 1886 bis 1892 ein weiterer Zyklus mit dem oberen Wendepunkt im Jahre 1890. Nun folgte der lange und kräftige, die Jahre 1892 bis 1901 umfassende Konjunkturzyklus, der seinen Höhepunkt im Jahre 1896 hatte. Einen weiteren Zyklus |71◄ ►72| mit oberem Wendepunkt im Jahre 1907 bildeten die Jahre 1901 bis 1908. Der letzte Zyklus begann 1908, erreichte seinen oberen Wendepunkt 1912 und konnte aufgrund des Kriegsausbruchs im August 1914 seinen eigentlich zu erwartenden unteren Wendepunkt nicht mehr erreichen.

In methodologischer Hinsicht wurden Diffusionsindizes in zwei Richtungen weiterentwickelt: Erstens wurde die Frequenz der Daten soweit als möglich erhöht, sodass eine genauere Datierung von Konjunkturwendepunkten möglich wurde. Zweitens wurden die verhältnismäßig einfachen Berechnungsmethoden durch moderne zeitreihenökonometrische Verfahren ergänzt. Eine auf der Zeitachse präzisere Datierung konjunktureller Wendepunkte mit Hilfe monatlicher Daten wurde für den Zeitraum Januar 1895 bis Juni 1914 vorgenommen.133 Dazu wurden die Originalreihen zunächst um saisonale Effekte bereinigt, zu denen beispielsweise der witterungsbedingte Niedergang des Baugewerbes im Winter zu rechnen ist. Anschließend wurden sie standardisiert, d. h., alle Werte werden auf das durchschnittliche Niveau und die durchschnittliche Schwankungsstärke der zugrunde liegenden Variable korrigiert und abschließend aggregiert. Die Aggregation standardisierter Variablen zur Referenzkurve berücksichtigt insbesondere nicht nur das Vorzeichen – wie der herkömmliche Diffusionsindex –, sondern auch die Stärke der Bewegung. Mit der Referenzkurve kann somit nicht nur die Richtung, sondern auch die Intensität einer konjunkturellen Entwicklung erfasst werden.134 Die Referenzkurve aus 21 monatlich vorliegenden Zeitreihen, die hauptsächlich die Produktion oder den Transport von schwerindustriellen Gütern (sechs Reihen) und Finanzmarktdaten (sechs Reihen), die allgemeine Güterpreisbewegung, die gesamtwirtschaftliche Beschäftigungssituation sowie den Außenhandel umfassen, zeigt, dass es zwischen Anfang 1895 und Mitte 1914 drei Konjunkturzyklen in Deutschland gab:135 Der erste Zyklus begann spätestens Anfang 1895, endete im Frühjahr 1902 und hatte seinen oberen Wendepunkt im März 1900. Der zweite dauerte vom Frühjahr 1902 bis zum Jahresanfang 1909, wobei der Höhepunkt im Juli 1907 lag. Der dritte Zyklus schließlich begann Anfang 1909 und endete im Herbst 1913, mit seinem Höhepunkt im Februar 1913.136 Diese Ergebnisse zeigen, dass die Zyklen im Zeitablauf kürzer und schwächer wurden. Der erste Zyklus dauerte 87 Monate, der zweite 84 Monate und der dritte nur noch 60 Monate.137 Ferner sei darauf hingewiesen, dass sich insbesondere die Krise von 1901 durch eine besondere Schärfe und Tiefe auszeichnet: |72◄ ►73| Nach dem konjunkturellen Höhepunkt ging es besonders schnell und besonders tief ins Konjunkturtal.138

Der bisherige Schlusspunkt der deutschlandbezogenen Konjunkturforschung wertet im Wesentlichen die von Reinhard Spree während der 1970er Jahre zusammengetragenen, auf jährlicher Frequenz vorliegenden Datenreihen mit einer innovativen statistischen Methode, den sogenannten dynamischen Faktormodellen, erneut aus.139 Dynamische Faktormodelle gehen davon aus, dass die Bewegung wirtschaftlicher Zeitreihen durch individuelle, nur für einzelne Zeitreihen gültige Faktoren und einen gemeinsamen, für alle Zeitreihen gültigen Faktor modelliert werden kann. Dieser gemeinsame Faktor bildet, sofern die zugrunde liegenden Reihen um den langfristigen Wachstumstrend bereinigt und die Residuen standardisiert worden sind, den Konjunkturzyklus ab. Im Unterschied zur Berechnung von Diffusionsindizes, werden die Gewichte, die jeder Zeitreihe bei der Bestimmung der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur zukommen, endogen, aus dem Verlauf der Zeitreihen, bestimmt. Man gibt also kein Aggregationsschema vor, sondern ermittelt dieses aus den Daten selbst. Mit diesem Verfahren ergeben sich – von unterem Wendepunkt zu unterem Wendepunkt – fünf Konjunkturzyklen für den Zeitraum des Kaiserreichs: 1870–1879 mit dem Höhepunkt im Jahre 1873; 1879–1886 mit dem Höhepunkt im Jahre 1882; 1886–1895 mit dem Höhepunkt im Jahre 1890; 1895–1902 mit dem Höhepunkt im Jahre 1900; 1902–1911 mit dem Höhepunkt im Jahre 1907.140

Wenn man die drei auf breiter Datenbasis beruhenden, neueren konjunkturhistorischen Untersuchungen hinsichtlich der aus ihnen resultierenden Konjunkturdatierung nebeneinanderstellt (siehe Tabelle T9), dann offenbaren sich mehrere widersprüchliche Ergebnisse. Zwei wesentliche Probleme fallen ins Auge: Zunächst ist fraglich, ob der Aufschwung der Reichsgründungszeit bereits 1866 oder erst 1870 begann. Die erste Auffassung wird von Spree vertreten, die zweite vertreten auf gleicher Datenbasis, aber mit anderer Methode Saferaz / Uebele. Zusätzlich ist strittig, ob es einen lang anhaltenden Aufschwung von 1892 bis 1901 (Spree) oder nur einen kürzeren Aufschwung von 1895 bis 1902 (Saferaz / Uebele) gab. Die Arbeit von Grabas kann hinsichtlich des Anfangszeitpunkts nicht weiterhelfen, da ihre Datenbasis erst 1895 beginnt. Allerdings sieht auch Grabas ebenso wie Saferaz / Uebele den Konjunkturhöhepunkt im Jahre 1901 und nicht bereits 1896, wie von Spree vermutet.141

Zusammenfassend lässt sich immerhin feststellen, dass es im Kaiserreich sechs Konjunkturzyklen gab. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass die Frage nach der Datierung von Konjunkturzyklen die strukturelle Erklärung von Konjunkturschwankungen |73◄ ►74| in den Hintergrund gedrängt hat. Wir wissen zwar, dass es Anfang der 1870er Jahre einen starken Gründeraufschwung gab, ob dieser aber durch finanzielle Faktoren (Reparationszahlungen, Börsenkrach) eingeleitet und beendet wurde oder es sich um eine schwerindustriell dominierte Überinvestitionskrise handelte, ist nach wie vor offen. Auch der zweite starke Konjunktureinbruch im Jahre 1901 kann einerseits einer Finanzkrise, aber andererseits auch einer Überinvestitionskrise – diesmal in der Elektroindustrie – zugeschrieben werden.

Tabelle T9: Konjunkturzyklen im Kaiserreich


Neben der Datierung der gesamtwirtschaftlichen Zyklen werfen Diffusionsindizes auch Licht auf die sektorale Entwicklung. Beispielsweise stellt sich heraus, dass der Agrarsektor bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Konjunkturführerschaft verloren hatte. In Deutschland war in konjunktureller Hinsicht bereits eine moderne Industriewirtschaft entstanden.142 Allerdings ist zu bedenken, dass landwirtschaftliche Zyklen nach wie vor sehr gewichtig waren, auch wenn sie nicht mehr die gesamtwirtschaftlichen Zyklen beeinflussen konnten. Darüber hinaus können gerade in der Landwirtschaft zufällige Schwankungen der wirtschaftlichen Aktivität auftreten und sich von dort aus in die Gesamtwirtschaft fortpflanzen. In Deutschland wurden zwischen der Mitte des 19. und dem frühen 20. Jahrhundert rund ein Drittel der landwirtschaftlichen Produktionsschwankungen durch zufällige Variationen von Temperatur und Niederschlag verursacht. Deshalb können, da die Landwirtschaft einen großen, wenn auch fallenden Anteil an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung hatte, wesentliche Anteile der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsvariation auf das Wetter zurückgeführt werden. Vor 1890 verursachte das Wetter Wachstumsschwankungen von |74◄ ►75| rund einem Prozent des Sozialprodukts, nach 1890 von immerhin noch einem halben Prozent.143 Fernerhin kann man einzelne Konjunkturzyklen mit der Entwicklung bestimmter Wirtschaftszweige in Verbindung bringen. Aufschwung und Abschwung der 1870er Jahre können so mit Entwicklungen in der Schwerindustrie in Zusammenhang gebracht werden. Der Einfluss anderer Faktoren trat in den Hintergrund, in diesem Fall die immensen französischen Reparationszahlungen, da die Reparationen frühestens Ende 1872 in den Wirtschaftskreislauf gelangten.144 Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als der obere Wendepunkt der Konjunktur bereits erreicht war. Die Schwerindustrie hingegen befand sich seit 1868 in einem sich selbst verstärkenden Aufschwung, da die kapazitätserweiternden Investitionen in neue Produktionsanlagen zunächst die Nachfrage nach schwerindustriellen Produkten erhöhte. Nachdem die neuen Produktionsanlagen ihre Produktion aufgenommen hatten, verfielen jedoch die Preise und damit auch die Gewinne deutlich.145 Bei der Gründerkrise handelte es sich nach dieser Auffassung um eine klassische Überinvestitionskrise.

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