Kitabı oku: «Ändere deine Welt», sayfa 2
2. Mein erstes Mal
Ein Jahr später, im Frühjahr 2016. Diesmal sitze ich nicht auf dem Motorrad, sondern in meinem Kastenwagen C15; ich fahre dieselbe Strecke in umgekehrter Richtung, von Ventimiglia nach Breil-sur-Roya. Ich kenne die kurvenreiche Straße in- und auswendig und habe die schlechte Angewohnheit, die Kurven mit einem Bier in der einen und einer Zigarette in der anderen zu nehmen. Plötzlich tauchen in der Dunkelheit Gestalten vor mir auf, die die Straße entlanglaufen. Aus meinen Träumereien aufgeschreckt, reiße ich das Steuer herum, um ihnen auszuweichen. Mit einem Kloß im Hals drücke ich meine Kippe aus und fahre weiter.
Es ist Donnerstagabend; wie jede Woche habe ich meine Eier, meine Pasta und mein Olivenöl in Nizza ausgeliefert. Vor ein paar Jahren habe ich dort Kunden gefunden, die Achtung vor der Landwirtschaft haben, keine Massenkonsumhändler. Wenn es wegen des Wetters oder eines Fuchsüberfalls weniger Eier gibt, haben sie Verständnis; in der einen Woche bekommen sie kaum etwas, die nächste ist besser, das sind eben die Wechselfälle der Landwirtschaft.
Aber was tun diese Leute auf der Straße? Ich meine, Kinder gesehen zu haben … Die Nacht ist so dunkel, und sie haben keine Lampe – ich habe Angst, dass sie überfahren werden. Ich bin genervt. Kehre um. Auf ihrer Höhe angekommen, erkenne ich zwei Kinder und ihre Eltern. Es muss Mitternacht sein. Ihre Haut ist so dunkel wie die Nacht, die von meinen Scheinwerfern nur schwach erleuchtet ist. Ich schlage ihnen vor, hinten einzusteigen, sich zwischen die leeren Eierkartons zu setzen. Sie wollen zu einem Bahnhof. Aber zu dieser späten Stunde fährt kein Zug mehr. Ich lade sie zu mir ein und biete ihnen an, sie am nächsten Tag zu begleiten.
Unten an dem steilen Pfad, der zu meinem Haus führt, spüre ich, dass sie Angst bekommen. Weiter unten die etwas bedrohlichen Fluten der Roya. Gegenüber an der Gebirgsflanke steigt der Hang steil an, und man sieht praktisch nichts durch die dichte Vegetation. Dort hinauf sollen sie. Nicht sehr beruhigend. Dieser Bärtige mit der runden Brille könnte sie entführen, ausrauben oder Schlimmeres, wie das auf den Wegen des Exils oft genug passiert …
Nur die beiden Kinder scheinen vertrauensvoll; das ist das Gute mit Kindern: nicht nötig zu reden, Blicke genügen. Die Mutter wirkt erschöpft und hinkt; der Vater, ernst, bleibt stumm. Wir steigen im Gänsemarsch hinauf, einen Jungen habe ich auf dem Arm, der größere geht im Schein meiner Stirnlampe hinterher.
Ich habe dieses verwilderte Stückchen Land 2002 gekauft, wieder urbar gemacht und hergerichtet. Seit dem Krieg nicht mehr genutzt, war das weite Gelände am Hang ein Dschungel, das Haus fast eine Ruine. Ich habe mich um die Olivenbäume gekümmert und meine Hühner aufgezogen. Ich bin glücklich hier oben, weit weg von der Welt, die mir oft unerträglich ist. Jetzt holt sie mich ein.
Wir essen schnell eine Kleinigkeit. Der Mann legt sich aufs Sofa, die Frau mit den beiden Kindern auf eine Matratze auf dem Boden, unter ein paar Decken. Ich klettere in mein Zimmer auf der Galerie hinauf, direkt über ihnen, voller Unbehagen, aber beruhigt, sie nicht mehr am Straßenrand zu wissen. Nachdem ich selbst schon Tausende Kilometer per Anhalter gefahren bin, kann ich doch niemanden am Straßenrand stehen lassen.
Am Morgen weckt mich Kaffeeduft, die Matratze ist weggeräumt, die Decken zusammengefaltet, alle vier sind draußen auf der kleinen Terrasse. Ich radebreche die paar Brocken Arabisch, die ich während meiner Afrikareise gelernt habe, und sage, dass ich Brot kaufen gehe. Ein Vorwand, um fünf Minuten allein zu sein und nachzudenken.
3. Persona non grata
Auf dem Weg zur Bäckerei rufe ich eine Freundin an, Françoise Cotta, halb Punk, halb Bourgeoise, exzentrisch und anständig und eine angesehene Pariser Strafverteidigerin. Sie hat ein Haus in Breil, wo sie sich oft aufhält. Sie nimmt ab und erklärt mir ohne die geringste Verlegenheit, dass ich sie störe. Für diese Unverblümtheit ist sie bekannt. Sie geht ihr zufolge auf einen Herzanfall zurück, den sie vor ein paar Jahren hatte; seither nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Aber dann antwortet sie wie aus der Pistole geschossen: Sie wird mir helfen, die kleine Familie aus dem Tal zu bringen.
Sie könnten problemlos in Breil-sur-Roya den Zug nehmen, der Bahnhof liegt nur fünf Autominuten von mir entfernt. Aber da würden wir sie in die Falle laufen lassen, denn am nächsten Bahnhof, in Sospel, wird systematisch kontrolliert und sie würden wahrscheinlich verhaftet und nach Italien zurückgeschoben werden. Ich hatte auch an manche Aktivisten gedacht, die ich letztes Jahr bei den Buhnen in Menton gesehen hatte, Mitglieder der Bürgerinitiative Roya citoyenne, die die Talbewohner zu überzeugen versuchen, ebenfalls Essen an die in Ventimiglia festsitzenden Migranten zu verteilen oder diejenigen zu beherbergen, die sich ins Tal verirren. Aber die rief ich lieber nicht an aus Angst, sie würden mir auf den Wecker gehen und verlangen, dass ich mich an ihren Aktionen beteilige und mehr Leute bei mir aufnehme.
Der »autorisierte« Checkpoint
Das Royatal zu verlassen ist nicht einfach, denn seit ein paar Monaten sprießen Polizeisperren aus dem Boden. Die erste sah ich auf Höhe des Pont de Nice, wo die Straße nach Sospel abzweigt. Auf dem einsamen Fleckchen hoch oben, wo mein Bruder wohnt, machten wir uns manchmal einen Spaß daraus, die Gendarmen unten zu beobachten. Zwischen zwei Kontrollen langweilten sie sich und spielten mit ihren Maschinengewehren Krieg wie die Kinder. Sie stoppten jedes Auto und fragten nach den Papieren. Aber die Leute aus dem Tal, nicht von der disziplinierten Sorte, begannen einen anderen Weg zu nehmen, weiter unten, um sie zu umgehen. Als die Gendarmen das begriffen, verlegten sie die Sperre weiter in Richtung Sospel. Diese Checkpoints heißen unter uns PPA (point de passage autorisé); »autorisiert« ist natürlich Ironie. Die Kontrollen sind gezielt und aus ihrer Sicht pragmatisch: Man verlangt nur die Papiere von Personen, deren Aussehen auf eine ausländische Herkunft hinweist. Der Kofferraum wird geöffnet, nicht auf der Suche nach Waffen oder Drogen, nur »Migranten« interessieren sie.
Dann wurden weitere Sperren errichtet, an der alten Grenze in Menton an der Küste, an der Mautstelle der Autobahn A8 bei La Turbie zwischen Ventimiglia und Nizza, in den Bahnhöfen von Menton-Garavan, Breil und Sospel. Wir erlebten die »Wiedereinführung der Grenzkontrollen«; die theoretisch seit Jahrzehnten abgeschafften Sperren wurden wiedererrichtet. Derartige Kontrollen hatte es 2001 während des G-20-Gipfels in Genua schon gegeben, aber danach nicht mehr. Im Herbst 2015 glaubten wir, sie würden auch diesmal wieder verschwinden. Irrtum. Die Sperren sind nie mehr verschwunden. Und sie richteten sich gegen uns, die Bewohner des Royatals. Seither sind wir alle potenzielle Schleuser.
Die erste Polizeisperre tauchte um den 10. November 2015 auf, kurz vor der Pariser Klimakonferenz, auf der die großen Industrienationen des Planeten Maßnahmen gegen die Klimakrise beschließen sollten. Sie zielte auf mögliche Störenfriede unter den Aktivisten, vor allem den deutschen und italienischen. Doch nach den Attentaten im Bataclan und im Stade de France am 13. November wurde die Schließung der Grenzen, die nur während der Klimakonferenz gelten sollte, aufrechterhalten, offiziell, um die terroristische Bedrohung zu bekämpfen. In Wirklichkeit dienen diese Checkpoints dazu, Migranten fernzuhalten. Frankreich sieht sie lieber auf der anderen Seite festsitzen. Pech für Italien, das damals Hunderttausende aufnahm, die die Überfahrt übers Mittelmeer geschafft hatten, und diesen Zustrom nicht bewältigen konnte.
Das Gefühl, etwas nicht zu Ende gebracht zu haben
Ich kehre mit frischem Brot zu der kleinen Familie zurück, dann kümmere ich mich um die Hühner und den Gemüsegarten. Als ich gegen Mittag wiederkomme, wirkt die Frau glücklich, für ihre Kinder kochen zu können, ein Ratatouille auf sudanesische Art mit Reis. Lachend gebe ich ihr zu verstehen, dass wir dieselbe Diät befolgen. Die Kinder wirken entspannt, nur der Vater bleibt ernst und ängstlich. Die Mutter fühlt sich wohl, sie inspiziert lächelnd das kleine Bauernhaus. Sie hatte nicht geglaubt, dass Leute in Frankreich in solchen Behausungen leben: ein circa dreißig Quadratmeter großes altes Gemäuer, das nur auf einem schmalen Fußweg zu erreichen ist, weit weg von allem, gedeckt mit antiken Marseiller Tonziegeln. Der Boden hat neue Dielen aus Lärchenholz bekommen, der auf den Gipfeln hier vorherrschenden Baumart. Stromleitungen in den Zimmerecken speisen zwei Glühbirnen und eine Steckdose. Die Küche beschränkt sich auf einen Gasherd; das Bad, ausgestattet mit einem holzbeheizten Warmwasserboiler, ist durch einen Vorhang vom winzigen Wohnzimmer getrennt, das auch als Büro dient. Durch ein Fenster, dessen altes Holz sich wegen der Trockenheit verzogen hat, fällt Tageslicht herein.
Mit Françoise hatte ich ausgemacht, die Familie zwei Tage später wegzubringen. Die Strategie war einfach: Ein Wagen fährt voraus und sondiert, der zweite folgt mit der Familie. Wenn das Vorausfahrzeug auf eine Kontrolle stößt, warnt es das folgende, das dann einen anderen Weg nimmt. Am Tag der Abfahrt sind wir alle etwas gestresst, nur Françoise ist zuversichtlich und aufgeregt. Wir fahren durchs Tal der Bévéra, um nicht durch Italien zu müssen. Im Auto herrscht Schweigen. Sie haben Angst, und ich schäme mich der verstörenden Situation, Leute verstecken zu müssen, damit sie aus dem Tal fliehen können, in dem ich so gern lebe.
Wir bringen sie ohne Probleme zu einem Bahnhof hinter Nizza. Als sie in den Zug steigen, weint Françoise. Ihre Tränen zeigen ihre Verletzlichkeit, die sie von da an nicht mehr wird verbergen können. Mich bedrückt das Gefühl, etwas nicht zu Ende gebracht zu haben: so viel Stress und Logistik, um ihnen zu ermöglichen, weniger als hundert Kilometer weiterzukommen, aber nicht zu wissen, was aus ihnen werden wird? Ein neues Gefühl steigt in mir auf, etwas zwischen Angst und Abscheu, Mitgefühl und Widerstandsgeist. Ein Kloß im Hals hindert mich daran, es in Worte zu fassen. Mein Körper ertrinkt in ungeweinten Tränen.
4. Zweifeln
Ich war durcheinander, weil ich die kleine Familie beherbergt hatte, obwohl ich sie vermutlich nicht einmal angeschaut hätte, wenn ich sie bei den »Migranten« auf den Wellenbrechern von Menton gesehen hätte. Ich lebte mein Leben weiter wie gehabt. Wenn ich Leuten begegnete, die das Royatal hinaufliefen, hielt ich nicht an. Es war zu schwierig, ihnen zu helfen; ich hatte Angst, dass jene neuen Gefühle wieder hochkämen und ich mir womöglich verdammten Ärger einhandelte.
Dabei hatte meine Jugend mich das Gegenteil gelehrt. Ich bin in Nizza geboren, im Arianeviertel, das gern als populaire, »volkstümlich« bezeichnet wird. Aber dort leben nicht Menschen aus dem ganzen Volk, sondern Menschen am Rand der Gesellschaft, die aufgrund ihrer sozialen Klasse, Hautfarbe oder Herkunft dort zusammengepfercht sind. Volkstümlich nennt man es, um nicht Schwarzenghetto, Araberghetto oder Armenghetto zu sagen. Dort habe ich sehr früh gelernt, mich nicht um die Unterschiede zwischen den Menschen zu kümmern. Wir waren »wir«, die black-blanc-beur1. Es waren Töchter und Söhne von Einwanderern, ich war es auch. Und stolz auf meine Freunde, ihre Familien, ihre Wurzeln und ihre Geschichte.
Als ich sieben war, wurden wir eine Pflegefamilie. Meine Mutter arbeitete für den Kinderschutz. Meine Eltern nahmen Kinder auf, die nicht die ihren waren. Sie brachten uns bei, unser Spielzeug, unsere Süßigkeiten, unsere Zimmer, unsere Eltern, unser Leben zu teilen. Durch Teilen habe ich Brüderlichkeit gelernt. Ganz gleich, ob die Kinder von hier oder von anderswo waren, sie gehörten zu unserer Familie, eine Zeitlang oder für immer.
Hortense haben wir aus dem Säuglingsheim geholt, sie war erst ein paar Monate alt. Morgan und ich haben sie gleich freudig akzeptiert, als große Brüder. Sie blieb bei uns, bis sie zwanzig war, und meine Eltern boten ihr an, unseren Namen anzunehmen. Sie wurde meine Schwester. Ich bin mit Kindern aufgewachsen, die Sicherheit brauchten, die sie in ihrer Herkunftsfamilie nicht hatten. Meine Mutter hat mich gelehrt, dass Erwachsene ihnen gegenüber eine Schutzpflicht haben. Das war ihre Art, die Welt zu verändern.
Als Jugendlicher sah ich plötzlich, wie die Welt wirklich war: kaum zu ertragen. Um nicht an der Wut zu ersticken, habe ich mich schließlich fürs Exil in den Bergen entschieden. Weit weg von der Welt der »anderen«, der Welt der Gefühllosen und Gleichgültigen, die unbekümmert direkt neben dem Elend leben können und sich durch Stigmatisierung und Verachtung davor schützen.
Mein Zufluchtsort, das Royatal, hat mich von der Welt abgeschnitten. Ich musste versteckt, fernab der Wirklichkeit leben, um frei und glücklich zu sein. Ich bin in dieses Tal gezogen, um meine Kindheitsträume zu verwirklichen: in einer Hütte in den Bergen ein freier Mensch zu sein. Von da an lebte ich von meinem Stück Erde. Aber ich fragte mich immer noch, was tun, wenn ich diese hilflosen Leute am Straßenrand sah, und nahm sie trotzdem nicht mit, weil sie Flüchtlinge waren! Ich war ein Bündel von Widersprüchen.
Afrika
1999, mit neunzehn Jahren, war ich für mehrere Monate nach Afrika gefahren, zunächst ohne recht zu wissen, warum. Vielleicht wollte ich einfach fliehen, anderen Kulturen begegnen und herausfinden, ob sie sich mit meiner eigenen vertrugen. Dieser Trip wurde zu einem Entwicklungsschritt für mich, der mich befreite und mir Zugang zu einem vergessenen, mir abhanden gekommenen Teil meines Ich verschaffte. Denn in der Schule wird intuitives Erfassen nicht gefördert, sondern unterbunden. Ich bin weggefahren, um jene Intuition aus der Kindheit wiederzuentdecken, die mich die Leere, die emotionale Leere der Erwachsenenwelt hatte spüren lassen. Ich fuhr weg, um mir endlich selbst zu vertrauen, und akzeptierte, dass ich mich auch täuschen konnte. Um endlich selbst zu entscheiden, nicht nach dem Zufallsprinzip.
Manche sagen, man müsse »aufs Schicksal vertrauen«, aber das Schicksal kann mich mal! Daran glauben heißt an eine Allmacht glauben, und das ist nicht mein Fall. Das Einzige, was dem vielleicht nahekommt, ist die schöpferische und erfinderische Erde, aber sie ist zugleich so verletzlich, dass sie alles andere als allmächtig ist. Nur Bauern und Gärtner können die Faszination und die Achtung verstehen, die ich ihr entgegenbringe.
Der Glaube ans Schicksal macht passiv, da man es ja für vorgezeichnet hält. An eine Bestimmung und einen einzigen Weg zu glauben heißt, die eigene Intuition zu ignorieren, die Verantwortung abzugeben. Ich bin im Gegenteil überzeugt, dass es Tausende mögliche Wege gibt. Statt von Schicksal würde ich lieber von einem tiefen Verständnis sprechen. Auf seinen Instinkt zu hören, hat nicht zwangsläufig angenehme und einfache Dinge zur Folge. Es kann sein, dass man sich in große Schwierigkeiten bringt, wenn man blindlings handelt, wie ich es in meinem Leben allzu oft getan habe. Aber, wie mein Bruder Morgan sagen würde, »Bequemlichkeit schläfert ein«; sie verflacht das Leben.
Ich fuhr durch Marokko und Mauretanien bis nach Senegal. Eigentlich wollte ich noch weiter nach Ghana, aber ich war in einer prekären Situation und erschöpft; in Dakar hatte man mir mein Geld und meinen Pass geklaut, und in meiner Abwesenheit war meine Großmutter gestorben, an der ich sehr hing. So kehrte ich im Herbst 1999 überstürzt nach Frankreich zurück – ein Schock. Ich traf meine alten Freunde aus Levens wieder, einer kleinen Gemeinde nördlich von Nizza, wohin meine Eltern aus dem Arianeviertel gezogen waren. Nichts hatte sich geändert. Wir saßen auf den Bänken im Park, und ich stieg genau dort in die Gespräche wieder ein, wo ich zuvor ausgestiegen war. Für meine Freunde war die Zeit stehen geblieben, während für mich alles in Bewegung gekommen war.
Hüttenträume
Weil ich nicht in Frankreich bleiben wollte, kaufte ich in Deutschland einen Mercedes 300 Break. Mein Ziel: zurück nach Afrika. Bis es losgehen könnte, schlief ich in der Karre. Ich machte Party ohne Ende, verpulverte meine Ersparnisse für Feten und Hasch, suchte jeden Abend Spaß in Bars oder bei Kumpels. Dann knallte mein Auto in einer Regennacht gegen eine Brüstung, Frontscheibe zersprungen, Motorhaube kaputt – mein Afrikaprojekt war gefährdet. Ich schlief weiter in dem fahrbaren Wrack, am Ende eines Waldwegs, bei minus zehn Grad.
Um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete ich für eine Zeitarbeitsfirma als Automechaniker, wechselte aber immer wieder die Stelle, weil ich nach jeder abfälligen Bemerkung eines Chefs, ohne lang nachzudenken, kündigte. Ich ertrug weder autoritäres Auftreten noch Ungerechtigkeit, ich war nicht gemacht für ein Angestelltenleben. Ich versuchte mich als Saisonnier auf Segelschiffen (auf dem Deck, in der Takelage), aber die Arbeit auf Jachten war nichts für mich, weil man, um angeheuert zu werden, den Kumpel spielen musste. Ich hatte eine Menge verschiedener Jobs, von Drahtseilakrobatik – ein kompletter Bluff, ich hatte meinen Lebenslauf gefälscht – bis zum Beschneiden von Olivenbäumen in Schwarzarbeit.
Ich wusste nicht recht weiter und wünschte mir ein Stück Land, um meine Kinderträume zu verwirklichen: Hütten bauen, Hühner, Hunde, Katzen halten. Ich musste mich wieder auf diese Träume konzentrieren, mir meine kleine Welt schaffen. Aber wo sollte ich mich niederlassen? Wo immer ich hinkam, schaute ich mir noch das kleinste verlassene Stückchen Land daraufhin an, ob sich vielleicht ein heruntergekommenes Gebäude darauf versteckte. Eines Tages zeigte mir Yvan, ein Freund, der ein paar Kilometer von Breil-sur-Roya entfernt einen alten Olivenhain wieder nutzbar gemacht hatte, die andere Hangseite, wo er sich ursprünglich hatte niederlassen wollen. Ein abgelegenes Terrain, nicht zu steil, mit üppiger Vegetation und einigen daraus aufragenden vertrockneten Olivenbaumkronen, Überbleibsel einer früheren Bewirtschaftung.
Dschungel
Für nicht mal zehntausend Francs erwarb ich dieses kleine Stück undurchdringliches Dickicht: Eichen, Meerkirsche, Sumach, Buchs und Hunderte von Ginstersträuchern. Die Leute in Breil müssen über diesen 23-Jährigen gelacht haben, der ein völlig wertloses Stück Land kauft. Seit der Vorkriegszeit verwahrloste hier alles. Manche nutzten diesen Dschungel nach Gutdünken, wie die Jäger, die knapp an dem Zelt vorbeischossen, in dem meine Freundin Inger und ich schliefen, solange wir nichts Besseres hatten. Ich musste nur lauter sein als sie, das hatte ich im Arianeviertel gelernt und es funktionierte im Royatal wie in der Banlieue – nicht nötig, sich zu prügeln, du knurrst ein bisschen, um zu zeigen, dass du keine Angst hast, und die Lage entspannt sich.
Unter der Woche arbeitete ich als Automechaniker in Nizza, und jeden Freitagabend stiegen Inger und ich mit der Sichel in der Hand den Berg hinauf, um mit der Hilfe von Freunden und meinem Bruder bis Sonntagabend gegen das Dickicht anzukämpfen. In weniger als einem Jahr wurde das einen Hektar große Gelände von Gestrüpp befreit, die Olivenbäume gründlich beschnitten. Ich würde mich fünf bis zehn Jahre gedulden müssen, bis ich kräftige, Früchte tragende Bäume hätte. Aber woher sollte ich Wasser bekommen? Die Wasserrechte waren Bestandteil des Kaufvertrags, aber die Verbände, die die beiden Bewässerungskanäle betrieben, von denen einer so viel Wasser führte, dass niemand wusste, wohin damit, weigerten sich, mich anzuschließen. Ich warnte sie: »Eines Tages wird dieser Kanal nicht mehr funktionieren, wenn nicht junge Leute da sind, die euch helfen.« Aber sie wollten nicht. Heute ist einer der Kanäle außer Betrieb.
Da wir keinen Kanalanschluss hatten, trugen wir das Wasser in Kanistern auf dem Rücken hoch, bis ich eines Tages an die hundert Meter unterhalb meines Grundstücks eine Quelle entdeckte. Aber wie sollten wir das Wasser ohne Strom hochbefördern? Ein Freund erklärte mir das Pumpsystem des sogenannten hydraulischen Widders, das der Erfinder des Heißluftballons, Joseph Montgolfier, 1792 ersonnen hatte. Man leitet Wasser zu einer tiefer gelegenen Stelle und stoppt den Wasserlauf dann abrupt, wodurch ein Überdruck entsteht, der das Wasser um weit mehr als fünfzig Meter steigen lässt. Ohne Dieselöl, ohne Strom, einfach und magisch! Ich war begeistert.
Ein Jahr nach dem Kauf war ich endgültig auf diese grünen Hangterrassen umgesiedelt, die die Bewohner von Breil aufgegeben hatten, um ihren Kindern eine sicherere Zukunft bieten zu können. Es gab eine Zeit, da pflanzten die Eltern Olivenbäume für ihren Nachwuchs, jetzt aber war die Zeit, da sie sie verkauften, um die Zukunft ihrer Kinder zu finanzieren. In Breil ist ein Kind, das es geschafft hat, ein Kind, das weggegangen ist. Dann kreuzten die Hippies, die alternativ angehauchten Wohlstandsbürger und die Stadtflüchter in der Absicht auf, sich auf dem aufgegebenen Nutzland niederzulassen. Eine »Invasion«, die von den Ortsansässigen als Provokation, ja als Beleidigung empfunden wurde.
Dank biologischer Landwirtschaft und deren Aktivisten konnten sie sich als Kleinbauern im Royatal ansiedeln, sodass die Mehrheit der Landwirte hier inzwischen zugezogene Städter sind. Aber die Unterscheidung zwischen »Einheimischen« und »Aussteigern« besteht weiter. Ich wusste von Anfang an, dass ich nie wirklich integriert sein würde. Man muss nicht aus dem Sudan oder aus Eritrea kommen, um in Breil als Fremder angesehen zu werden. Und so zögerte ich, anderen »Fremden« zu helfen, die die Straße heraufkamen.
1 Der Ausdruck black, blanc, beur (»schwarz, weiß, arabisch«) entstand in den achtziger Jahren, und zwar in Anlehnung an das »Bleu, blanc, rouge« der Trikolore. Mit diesem Ausdruck sollte die Multiethnizität Frankreichs positiv hervorgehoben werden. (A. d. Ü.)