Kitabı oku: «David Copperfield», sayfa 11
Der Schullehrer von Salemhaus öffnete den Drücker einer der kleinen schwarzen Türen, die alle einander ganz gleich waren, und neben denen sich ein paar kleine bleigefaßte Fenster von geripptem Glas befanden, und wir traten in das kleine Haus einer dieser armen Personen, die soeben ein Feuer anblies, auf dem sie einen kleinen Tiegel zum Kochen bringen wollte. Als sie den Schullehrer eintreten sah, ließ die Alte, die auf der Diele kniete, den Blasebalg in den Schoß sinken und sagte etwas, das wie: Mein Charley! klang, als sie aber auch mich erblickte, stand sie auf, wischte sich die Hände ab und knickste mit einiger Verlegenheit.
»Kannst du vielleicht das Frühstück für diesen jungen Herrn kochen?« sagte der Schullehrer von Salemhaus.
»Ob ich kann?« sagte die Alte. »Natürlich kann ich.«
»Was macht Mrs. Fibbitson heute?« sagte der Schullehrer, und sah eine andere alte Frau an, die in einem großen Stuhl am Feuer saß und so in Kleider gehüllt war, daß ich heute noch froh bin, mich nicht aus Versehen auf sie gesetzt zu haben.
»Ach, sie befindet sich nur so so«, sagte die erste alte Frau, »'s ist einer ihrer schlimmen Tage. Wenn das Feuer durch Zufall ausginge, glaube ich wahrhaftig, sie würde auch ausgehen und nicht wieder zu sich kommen.«
Da die beiden sie ansahen, blickte ich auch hin. Obwohl es ein warmer Tag war, schien sie an nichts als an das Feuer zu denken, und mir schien, sie sei auf den Tiegel mitten darin neidisch. Auch nahm sie es übel, daß es mißbraucht wurde, mein Ei und meinen Schinken zu braten, denn ich sah mit meinen eigenen erschrockenen Augen, daß sie mir, als es niemand bemerkte, mit der Faust drohte, wie diese Kochkünste ausgeführt wurden.
Die Sonne schien in das kleine Fenster, aber sie kehrte ihr den Rücken und den Rücken des Stuhls zu, und saß so dicht am Feuer, als müsse sie es warm halten, statt daß es sie wärmte, und dabei behielt sie es stets mit mißtrauischen Blicken im Auge. Als die Vorbereitungen für das Frühstück fertig waren, und das Feuer nicht mehr beansprucht wurde, war sie so außerordentlich froh, daß sie laut lachte. – Freilich muß ich gestehen, daß ihr Lachen sehr unmelodisch klang.
Ich setzte mich hin zu meinem Schwarzbrot, dem Ei und dem Speck und einem Napf mit Milch, und hatte ein ganz köstliches Mahl. Während ich noch im vollen Genuß damit beschäftigt war, sagte die Alte zum Schullehrer: »Hast du deine Flöte bei dir?«
»Ja«, antwortete er.
»Blase ein bißchen«, bat ihn die Alte. »Bitte!«
Der Schulmeister steckte bei dieser Aufforderung die Hände unter den Rockschoß und brachte eine Flöte in drei Stücken hervor, die er zusammensetzte und auf der er sogleich zu blasen anfing. Nach vieljähriger Überlegung muß ich immer noch wie damals der Meinung sein, daß auf der ganzen Welt kein Mensch sein konnte, der schlechter blies. Er brachte die allerjämmerlichsten Klänge hervor, die ich jemals erzeugen gehört habe, sei es auf natürlichem oder mechanischem Wege. Ich weiß nicht, was er für Melodien spielte – wenn er überhaupt Melodien spielte, woran ich sehr zweifle; aber der Einfluß seines Spiels auf mich war erstlich der, daß mir alle meine Kümmernisse einfielen, so daß ich kaum die Tränen zurückhalten konnte, ferner, daß es mir die Eßlust benahm, und mich schließlich so schläfrig machte, daß ich kaum die Augen offen halten konnte. Sie fangen jetzt schon wieder an sich zu schließen und ich einzunicken, wo die Erinnerung daran frisch in mir auflebt. Wieder entschwindet meinen müden Blicken das kleine Zimmer mit dem offenen Eckschrank, den steifen Stühlen, der winkligen kleinen Treppe, die in das Oberstübchen führt, und den drei Pfauenfedern auf dem Kaminsims (ich weiß, ich dachte beim Eintreten, wie sich der Pfau gewundert hätte, wüßte er, wohin sein Schmuck gekommen wäre) und ich nicke ein und schlafe. Die Flöte verstummt, ich höre Räder knarren – wir sind unterwegs. Der Wagen schüttelt, ich fahre im Schlaf auf, und wieder ist die Flöte da und der Lehrer sitzt mit gekreuzten Beinen mir gegenüber und bläst winselnde Töne, während ihm die Alte begeistert zuhört. Auch sie erblaßt vor meinen Augen, er und die ganze Umgebung: es gibt keine Flöte mehr, keinen Lehrer, kein Salem House, keinen David Copperfield, nichts als tiefen Schlaf.
Ich glaube, ich träumte einmal, während er die kläglichen Töne hervorblies, daß die alte Frau in ihrer entzückten Bewunderung dem Schüler nahe und immer näher kam, dicht hinter den Stuhl getreten war und den Arm zärtlich um des Schullehrers Hals geschlungen hatte, was dem Spielen für den Augenblick ein Ende machte. Damals, unmittelbar darauf, war ich in einem Mittelzustand zwischen Schlafen und Wachen, denn als er wieder anfing, – er unterbrach einmal das Spielen – hörte ich die alte Frau Mrs. Fibbitson fragen, ob es nicht köstlich sei (sie meinte das Flötenspiel), worauf Mrs. Fibbitson antwortete: »Ei ja, ei ja«, und dem Feuer zunickte, dem sie, wie ich nicht zweifle, das Hauptverdienst an dieser Kunstleistung zuschrieb.
Ich muß meiner Ansicht nach lange Zeit geschlummert haben, als der Schulmeister von Salemhaus seine Flöte in drei Stücke auseinanderschraubte, sie einsteckte und mich mit sich fortnahm. Die Landkutsche war nicht weit, und wir stiegen oben auf das Dach; aber ich war so schläfrig, daß, als sie mich, wie wir einmal unterwegs anhielten, hineinsetzen ließen, um einen neuen Passagier aufzunehmen, ich so fest schlief, daß ich nicht eher wach wurde, bis die Kutsche unter einem grünen Laubdach im Schritt einen steilen Hügel hinauffuhr. Gleich darauf hielt sie an und hatte ihr Ziel erreicht.
Wenige Schritte brachten uns, nämlich den Schullehrer und mich, nach Salemhaus, das von einer hohen Ziegelmauer umschlossen war und sehr unwirsch aussah. Über einer Tür in dieser Mauer stand auf einem Brette die Inschrift: Salemhaus, und durch ein Gitterfenster in dieser Tür musterte uns erst, nachdem wir geklingelt hatten, ein mürrisches Gesicht, das, wie ich nach dem Öffnen der Tür bemerkte, einem dicken Manne mit einem Stiernacken, einem hölzernen Beine, hervorstehenden kantigen Schläfen und gleichmäßig um den ganzen Kopf verschnittenen Haaren, angehörte.
»Der neue Schüler«, sagte der Lehrer.
Der Mann mit dem hölzernen Beine musterte mich mit kritischen Augen vom Kopf bis zur Zehe, wozu er nicht lange brauchte, weil ich sehr klein war, schloß die Tür hinter uns zu und zog den Schlüssel ab. Wir gingen unter ein paar großen, mit den Zweigen tief zur Erde hängenden Bäumen nach dem Hause hin, als er meinem Führer zurief.
»Heda!«
Wir sahen uns um; er stand in der Türe des Pförtnerhäuschens, ein Paar Stiefel in der Hand haltend.
»Hier, Mr. Mell! Der Schuhflicker ist dagewesen,« sagte er, »und der meinte, er könne sie nicht mehr flicken. Er sagte, es wäre kein Stück mehr vom ursprünglichen Stiefel übrig, und er wunderte sich überhaupt, daß Sie so etwas verlangen könnten.«
Mit diesen Worten warf er die Stiefel dem Mr. Mell (so hieß der Lehrer) vor die Füße, und dieser kehrte die Paar Schritte um, hob sie auf, und betrachtete sie mit betrübtem Blick, als wir weiter gingen. Ich bemerkte jetzt zum ersten Male, daß auch die Stiefel, die er trug, in einem sehr schlechten Zustande waren, und daß an einer Stelle der Strumpf eben hervorbrach, wie die Blüte aus ihrer Knospe.
Salemhaus war ein viereckiger Hauskasten aus roten Ziegeln, mit einem Flügel auf jeder Seite, und sah sehr kahl und unwohnlich aus. Überall war es so still, daß ich zu Mr. Mell sagte, die Schüler müßten wohl spazieren gegangen sein, aber er schien sich zu wundern, daß ich nicht wußte, daß Ferien waren, und die Schüler alle nach Hause gereist wären, daß sich Mr. Creakle, der Eigentümer, nebst Frau und Tochter im Seebade befand, und daß man mich zur Strafe für meine Missetat während der Ferien hierher geschickt hatte. Dies alles setzte er mir unterwegs auseinander.
Die Schulstube erschien mir als der ungemütlichste, ödeste, traurigste Platz, den ich jemals auf, Gottes Erdboden gesehen hatte. Es war ein langes Zimmer mit drei Reihen von Pulten und sechs Reihen von Bänken, ringsum starrend von Kleiderhaken und Nägeln zum Aufhängen der Schiefertafeln. Fetzen von Schreib- und Übungsheften bedeckten den schmutzigen Fußboden. Schächtelchen aus demselben Material für Seidenwürmer lagen auf den Pulten umher. Zwei erbärmliche, kleine weiße Mäuse, die ihr Besitzer zurückgelassen hatte, rannten in einem aus Draht und Pappe gefertigten, stinkig riechenden Häuschen rastlos auf und ab und spähten mit ihren roten Augen in allen Winkeln nach Futter. Ein Vogel in einem Käfig, nur wenig größer als er selbst, macht ein trauriges Gerassel, wenn er auf sein zwei Zoll hohes Stängelchen hinauf- und von da wieder hinabhüpft, singt aber weder, noch zwitschert er. Ein eigentümlicher, ungesunder Geruch erfüllt die Stube, wie von schimmligem Juchtenleder, faulenden Äpfeln, denen die frische Luft fehlt, und nassen, stockigen Büchern. Und Tinte überall umhergespritzt in solchen Massen, daß es nicht ärger sein könnte, wenn das Zimmer von Stunde seines Baues an nie eine Decke gehabt und es Tinte zu allen Jahreszeiten hereingeregnet, -geschneit, -gehagelt hätte.
Mr. Mell hatte mich allein gelassen, während er seine unflickbaren Stiefel hinauftrug, und ich ging unterdessen leise nach dem obern Ende des Zimmers. Als ich an den Tisch des Lehrers kam, fand ich eine Pappe mit der schön geschriebenen Inschrift: »Achtung! Er beißt.« Ich kletterte sofort auf das Pult hinauf, denn ich fürchtete, es sei unten ein großer Hund versteckt. Aber obgleich ich mich überall besorgt umsah, konnte ich doch nichts entdecken. Ich forschte immer noch, als Mr. Mell zurückkehrte und mich fragte, was ich da oben täte.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir,« sagte ich, »ich suche den Hund.«
»Hund?« sagte er. »Welchen Hund?«
»Ist's kein Hund, Sir?«
»Was soll ein Hund sein?«
»Vor dem man sich in acht nehmen soll, der beißt.« »Nein, Copperfield,« sagte er ernst, »das ist kein Hund, das ist ein Knabe. Ich habe Befehl, Copperfield, diesen Zettel auf deinen Rücken zu heften. Es tut mir leid, daß ich so mit dir anfangen muß, aber ich muß es tun.«
Bei diesen Worten hob er mich vom Pulte herunter und band mir die Pappe, die zu diesem Zwecke sinnreich vorgerichtet war, wie eine Buckelmappe auf den Rücken, und von nun an hatte ich den Trost, sie überall, wo ich hinging, mitzunehmen.
Was ich von dieser Warnungstafel zu leiden hatte, kann sich niemand vorstellen. Ob mich Leute sehen konnten oder nicht, immer bildete ich mir ein, jemand läse es. Es war für mich keine Beruhigung, wenn ich mich umdrehte und niemand erblickte; ich konnte den Gedanken nicht loswerden, daß stets jemand hinter meinem Rücken stehe. Der niederträchtige Kerl mit dem hölzernen Beine verschlimmerte noch mein Leiden. Er hatte Amtsgewalt, und wenn er sah, daß ich mich an einen Baum, an eine Wand oder an das Haus lehnte, so schrie er mir aus seinem Häuschen mit fürchterlich lauter Stimme zu: »Heda, Copperfield! verstecke die Tafel nicht, sonst zeige ich dich an!«
Der Spielplatz war ein kahler, mit Kies bestreuter Hof, von den Fenstern der Küche und Gesindestube und der ganzen Rückseite des Hauses aus zu überblicken, und ich wußte, daß die Dienerschaft, der Fleischer und der Bäcker den Zettel lasen, mit einem Worte, daß jeder, der früh, wenn ich auf dem Spielplatz spazieren gehen mußte, im Hause ab und zu ging, las, daß man sich vor mir in acht nehmen müsse, weil ich beiße. Ich erinnere mich, daß ich mich vor mir selbst zu fürchten anfing, als vor einem jungen Menschenfresser, der beißt. An jenem Spielplatz befand sich eine alte Tür, darin die Knaben ihre Namen zu schneiden pflegten. Sie war mit solchen Inschriften über und über bedeckt. In meiner Furcht vor dem Ende der Ferien und der Rückkehr der Zöglinge konnte ich keinen dieser Namen sehen, ohne mir vorzustellen, in welchem Ton und mit welchem Ausdruck der Eigentümer laut lesen würde: »Achtung! Er beißt.« Da war ein Knabe, ein gewisser J. Steerforth, der seinen Namen sehr häufig und sehr tief eingeschnitten hatte, und von dem ich mir dachte, er würde es mit recht kräftiger Stimme lesen und mir dann das Haar zerzausen. Ferner gab es einen andern, einen Tommy Traddles, von dem ich besorgte, er würde sich lustig darüber machen, und so tun, als fürchte er sich entsetzlich vor mir. Bei einem dritten, George Demple, ängstigte ich mich, daß er ihn singen würde. Ich kleiner, zitternder Wicht habe die Tür angesehen, bis ich meinte, die Besitzer aller dieser Namen – (fünfundvierzig Zöglinge waren jetzt in der Anstalt, sagte Mr. Mell) – wollten mich unter allgemeiner Zustimmung fortjagen und jeder rief in seinem eigentümlichen Sprachton: »Achtung! Er beißt!«
Ebenso war es mit den Plätzen an den Pulten und auf den Schulbänken. Ebenso zwischen den Reihen leerer Bettstellen, nach denen ich auf dem Wege in mein eigenes Bett scheu hinblickte. Ich träumte eine Nacht nach der andern, daß ich bei meiner Mutter wäre, so wie früher, oder zu einer Gesellschaft zu Mr. Peggotty ginge, oder oben auf der Landkutsche führe, oder wieder in Gemeinschaft mit meinem unglücklichen Freunde, dem Kellner, zu Mittag speiste, und bei jeder dieser Gelegenheit fingen die Leute an zu gaffen und laut zu kreischen, denn sie machten die traurige Entdeckung, daß ich nichts anhatte, als mein Nachthemdchen und die Warnungstafel.
In der Einförmigkeit meines Lebens und in der beständigen Furcht vor der Wiedereröffnung der Schule war dies für mich ein unerträgliches Leiden! Ich hatte jeden Tag lange Lektionen bei Mr. Mell, und da Mr. und Miß Murdstone nicht anwesend waren, bewältigte ich sie glücklich, ohne in Strafe zu verfallen. Vor und nach den Lehrstunden ging ich spazieren, überwacht von dem Mann mit dem hölzernen Beine. Wie lebhaft erinnere ich mich noch der Nässe in der Nähe des Hauses, der grünbemoosten zersprungenen Steinfliesen im Hof, der alten undichten Wassertonne, der fahlen Stämme von einigen alten Bäumen, die viel mehr Regen und viel weniger Sonne als andere Bäume erhalten zu haben schienen.
Um ein Uhr pünktlich speisten Mr. Mell und ich am obern Ende des langen, kahlen Eßsaals, der voll kienerne Tische stand und nach altem Fett roch. Dann haben wir wieder zu arbeiten bis zum Tee, den Mr. Mell aus einer blauen Teetasse und ich aus einem zinnernen Kruge trank. Den ganzen Tag lang, bis sieben oder acht Uhr abends, hatte Mr. Mell an seinem alleinstehenden Pult im Klassenzimmer zu arbeiten; der wirkte unablässig mit Feder, Tinte, Lineal, in Büchern und auf Schreibpapier, denn (wie ich herausbekam), setzte er die Rechnungen für das verflossene halbe Jahr auf. Hatte er seine Arbeit für die Nacht beiseite gelegt, nahm er die Flöte heraus und blies, daß ich schier meinte, er würde sich selbst in das große Loch an der Spitze hineinblasen und durch die Klappen verduften.
Ich stelle mir meine kleine Gestalt in der schwacherleuchteten Stube vor, den Kopf auf die Hand gestützt, Mr. Mells klagenden Flötentönen zuhörend und mir dabei die Aufgaben für den nächsten Tag einprägend. Ich stelle mich mir vor, mit schon zugeklappten Büchern immer noch Mr. Mell zuhörend, und in den Klängen Erinnerungen an meine Heimat suchend, wie sie früher war, und an das Pfeifen des Windes über den Strand von Yarmouth, wobei ich mich recht betrübt und einsam fühlte. Ich sehe mich allein zu Bett gehen, oben in den fremden Zimmern, und weinend auf meiner Bettkante sitzen, voller Sehnsucht nach einem herzlichen Wort von Peggotty. Dann komme ich morgens herunter und sehe durch das lange unheimliche, tiefeingeschnittene Treppenfenster nach der Schulglocke, die oben auf einem Nebengebäude angebracht ist, mit einem Wetterhahn darüber, und fürchte mich vor der Zeit, in der sie J. Steerforth und die andern zur Arbeit rufen wird: und doch steht diese Besorgnis noch jenem ahnungsvollen Schauer nach, vor der Stunde, in der der Stelzfuß das verrostete Gitter aufschließt, um den gefürchteten Mr. Creakle zu empfangen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich unter diesen Umständen ein sehr gefährliches Subjekt war, aber ich trug beständig dieselbe Warnungstafel auf dem Rücken.
Mr. Mell sprach niemals viel mit mir, war aber auch nie unfreundlich gegen mich. Ich glaube, wir leisteten uns gute Gesellschaft, ohne viel miteinander zu sprechen. Ich vergaß übrigens, noch zu erwähnen, daß er manchmal mit sich selbst sprach und vor sich hin lachte, Gesichter schnitt, die Faust ballte, mit den Zähnen knirschte und sich aus mir unbekannten Gründen die Haare raufte. Das waren Eigentümlichkeiten, die mir zuerst Furcht einflößten, obwohl ich mich bald daran gewöhnte.
Sechstes Kapitel. Ich erweitere den Kreis meiner Bekanntschaften.
So hatte ich ungefähr einen Monat gelebt, als der Mann mit dem hölzernen Beine, mit dem Besen und dem Wassereimer herumzuspazieren begann, woraus ich schloß, daß man sich auf den Empfang Mr. Creakles und der Schüler vorbereitete. Ich irrte mich nicht; denn es dauerte nicht lange, so kam der Besen in die Schulstube und verdrängte Mr. Mell und mich. Ein paar Tage lang mußten wir uns im Hause herumdrücken, wo wir gerade Ruhe vor ihm fanden, und waren dabei doch beständig zwei oder drei Mädchen, die ich vorher nie gesehen hatte, im Wege, und fortwährend so in Staub eingehüllt, daß ich fast soviel nieste, als ob Salemhaus eine große Schnupftabaksdose gewesen wäre.
Eines Tages benachrichtigte mich Mr. Mell, daß Mr. Creakle diesen Abend kommen werde, und abends nach dem Tee hörte ich, daß er nun wirklich da war. Noch vor dem Schlafengehen holte mich der Mann mit dem hölzernen Beine zu ihm, damit ich ihm vorgestellt werde.
Der Teil des Hauses, wo Mr. Creakle wohnte, war bedeutend angenehmer als der unsere; er hatte einen kleinen Garten vor sich, der sich sehr hübsch ausnahm im Vergleich zu dem staubigen Spielplatze, der so sehr eine Wüste in Miniatur war, daß ich glaube, nur ein Kamel oder ein Dromedar konnte sich darin zu Hause fühlen. Es schien mir sehr dreist, daß ich überhaupt diese Wahrnehmung machte, während ich dem Führer zitternd nach Mr. Creakles Zimmer folgte und so verlegen eintrat, daß ich kaum Mrs. Creakle oder Miß Creakle, die beide anwesend waren, oder überhaupt etwas anderes sah, als Mr. Creakle, einen dicken Herrn mit einer großen Uhrkette mit Berlocken, der in einem Lehnstuhle saß und Glas und Flasche neben sich hatte.
»So!« sagte Creakle, »das ist also der junge Mann, dem die Zähne gestutzt werden müssen! Drehe Er ihn um!«
Der Mann mit dem hölzernen Beine drehte mich um, daß die Tafel sichtbar wurde, und nachdem der Schullehrer ihren vollen Anblick genossen hatte, drehte er wieder mein Gesicht Mr. Creakle zu und stellte sich neben diesen. Mr. Creakles Gesicht war rot und seine Augen waren klein und lagen tief im Kopfe; er hatte dicke Adern auf der Stirn, eine kleine Nase und ein großes Kinn. Auf dem Kopfe hatte er eine Platte, und das noch übrige dünne, feuchte Haar, das oben grau wurde, war von den Schlafen nach vorn gebürstet, so daß sich die Spitzen auf der Stirne begegneten. Was aber den meisten Eindruck auf mich machte, war, daß er mit einer halb flüsternden, tonlosen Stimme sprach. Die Anstrengung, die ihm dies kostete, oder das Bewußtsein, so unmännlich heiser zu sprechen, machten sein zorniges Gesicht noch zorniger und die dicken Adern noch dicker, wenn er sprach, so daß ich mich nicht wundere, wenn mir dieser Zug seines Äußern am lebhaftesten in der Erinnerung blieb.
»Nun, was ist von dem Knaben zu melden?« fragte Mr. Creakle.
»Es ist nichts gegen ihn vorzubringen«, erwiderte der Mann mit dem hölzernen Beine. »Es ist noch keine Gelegenheit gewesen.« Ich glaube, Mr. Creakle fühlte sich durch diesen Bericht enttäuscht. Mit Mrs. und Miß Creakle (die ich jetzt zum erstenmal ansah und in denen ich zwei stille und dünne Personen erkannte) schien mir das Gegenteil der Fall zu sein.
»Tritt näher!« sagte Mr. Creakle und winkte mir.
»Tritt näher!« sagte der Mann mit dem hölzernen Beine, und wiederholte die Gebärde.
»Ich habe die Ehre, deinen Stiefvater zu kennen,« krähte Mr. Creakle heiser und nahm mich beim Ohre; »er ist ein würdiger Mann und ein Mann von starkem Charakter. Er kennt mich und ich kenne ihn. Kennst du mich? Heh!« sagte Mr. Creakle und zwickte dabei mein Ohr mit grausamer Scherzhaftigkeit. .
»Noch nicht, Sir«, sagte ich, und zuckte vor Schmerz zusammen.
»Noch nicht? Heh!« wiederholte Mr. Creakle. »Aber du wirst mich bald kennen lernen. Heh?«
»Du wirst mich bald kennen lernen. Heh?« wiederholte der Mann mit dem hölzernen Beine. Ich merkte später, daß er mit seiner starken Stimme als Dolmetscher zwischen dem heisern Mr. Creakle und den Knaben auftrat.
Ich war sehr eingeschüchtert und sagte, ich hoffte das, wenn es ihm so beliebte. Während dieser ganzen Zeit fühlte ich mein Ohr wie Feuer brennen; so derb kniff er es.
»Ich will dir sagen, was ich bin«, krächzte Mr. Creakle wieder und kniff mich noch einmal zum Abschied, daß mir das Wasser in die Augen kam. »Ich bin ein Barbar.«
»Ein Barbar«, echote der Mann mit dem hölzernen Beine.
»Wenn ich sage, ich will etwas tun, so tue ich es,« sagte Mr. Creakle, »und wenn ich sage, es soll etwas geschehen, so muß es geschehen.«
»Soll etwas geschehen, so muß es geschehen«, dolmetschte der Mann mit dem hölzernen Beine.
»Ich bin ein entschlossener Charakter,« fuhr der heisere Mr. Creakle fort; »ja, das bin ich. Ich tue meine Pflicht. Die tue ich immer. Wenn sich mein Fleisch und Blut« – er sah dabei Mrs. Creakle an – »mir widersetzt, so ist es nicht mehr mein Fleisch und Blut. Ich verstoße es. – Ist der Kerl wieder dagewesen?« sagte er zu dem Mann mit dem hölzernen Beine.
»Nein«, war die Antwort.
»Nein«, krächzte Mr. Creakle. »Er weiß, was er tut. Er kennt mich. Er mag sich vor mir hüten. Ich sage, er mag sich vor mir hüten,« sagte Mr. Creakle, schlug mit der Hand auf den Tisch und sah Mrs. Creakle an, »denn er kennt mich. Jetzt hast du angefangen, mich kennen zu lernen, junger Freund, und du kannst nun gehen. Führe Er ihn fort.«
Ich war sehr froh, daß ich fortgehen konnte, denn Mrs. und Miß Creakle wischten sich beide die Augen: sie taten mir leid und ich fühlte mich ihretwegen noch unbehaglicher als meinetwegen, aber ich hatte eine Bitte auf dem Herzen, die mir so nahe lag, daß ich nicht umhin konnte sie auszusprechen, obgleich ich mich selbst über meinen Mut wunderte:
»Verzeihen Sie, Sir –«
Mr. Creakle krähte: »He? was ist das?« und sah mich mit seinen Augen so scharf an, als ob er mich damit durchbohren wollte.
»Verzeihen Sie, Sir,« stammelte ich, »wenn Sie mir erlauben wollten (denn ich bereue recht sehr, was ich getan habe, Sir) die Tafel abzulegen, ehe die andern Schüler zurückkehren –«
Ob es Mr. Creakle Ernst war, oder ob er es nur tat, um mich zu erschrecken, weiß ich nicht, aber er sprang mit solcher Heftigkeit von seinem Stuhle auf, daß ich eilig den Rückzug antrat, ohne die Begleitung des Mannes mit dem hölzernen Beine abzuwarten, fortlief und erst wieder in meinem Schlafzimmer stillstand. Als ich sah, daß ich nicht verfolgt wurde und da es Schlafenszeit war, ging ich zu Bett und lag zitternd und schlaflos ein paar Stunden da.
Nächsten Morgen kehrte Mr. Sharp zurück. Mr. Sharp war der erste Lehrer und Vorgesetzte von Mr. Mell. Mr. Mell aß mit den Schülern, aber Mr. Sharp speiste mittags und abends an Mr. Creakles Tisch. Es war ein schmächtiger, zart aussehender Herr mit einer übergroßen Nase und einer Art, den Kopf auf die eine Seite geneigt zu tragen, als ob er ein wenig zu schwer für ihn wäre. Sein Haar war sehr weich und etwas gelockt; aber der erste Schüler, der zurückkam, sagte, es sei eine Perücke (aber eine abgelegte, d. h. getragen gekauft), und Mr. Sharp gehe jeden Sonnabend Nachmittag aus, um sie brennen zu lassen.
Diese Nachricht erhielt ich von keinem andern, als von Tommy Traddles. Er war der erste Knabe, der zurückkehrte. Er führte sich dadurch bei mir ein, daß er mir sagte, sein Name stehe in der rechten Ecke des Tores über dem obersten Querbalken, worauf ich sagte: »Traddles?« und er erwiderte: »Der nämliche«, und dann verlangte er von mir volle Auskunft über mich und meine Familie.
Es war ein glücklicher Umstand für mich, daß Traddles zuerst zurückkehrte. Ihm machte die Warnungstafel so viel Spaß, daß er mich aus einer großen Verlegenheit rettete, indem er mich jedem einzelnen Knaben bei seiner Rückkehr mit den Worten vorstellte: »Sieh mal, welch guter Witz!« Ein anderes Glück war, daß die meisten Schüler ziemlich niedergedrückt zurückkehrten und auf meine Kosten nicht so viel Lärm machten, als ich gefürchtet hatte. Einige tanzten allerdings um mich her wie wilde Indianer, und die meisten konnten der Versuchung nicht widerstehen, zu tun, als ob ich ein Hund wäre und mich zu streicheln und zu besänftigen, damit ich nicht beiße, und zu sagen: »Kusch dich, Sir«, und mich Bullenbeißer zu nennen. Das war natürlich unter so vielen Fremden nicht gerade angenehm und kostete einige Tränen, aber im ganzen ging alles viel besser vorüber, als ich mir vorgestellt hatte.
Als förmlich aufgenommen in die Schulgemeinschaft galt ich jedoch nicht eher, als bis J. Steerforth da war. Vor diesen Schüler, der für sehr gelehrt galt und sehr hübsch aussah, und mindestens ein halbes Dutzend Jahre älter war als ich, führte man mich wie vor einen Vorgesetzten oder Richter. Unter einem Schutzdach auf dem Spielplatz befragte er mich über die Einzelheiten meiner Strafe, und geruhte seine Meinung dahin auszusprechen, daß es ein » schändlicher Witz« sei, wofür ich ihm ewig dankbar wurde.
»Wieviel Geld hast du bei dir, Copperfield?« fragte er, als er meine Angelegenheit mit diesen Worten abgetan hatte und dann mit mir beiseite ging.
Ich sagte ihm, ich hätte 7 Schillinge.
»Es ist besser, du gibst sie mir zum Aufheben«, sagte er. »Wenigstens kannst du das tun, wenn du willst. Du brauchst's auch nicht zu tun, wenn du nicht willst.«
Ich beeilte mich, diesem freundlichen Rate nachzukommen, öffnete Peggottys Börse und schüttete sie in seine Hand aus.
»Willst du jetzt etwas davon verwenden?« fragte er.
»Nein, ich danke«, entgegnete ich.
»Du kannst aber, wenn du Lust hast,« sagte Steerforth, »du brauchst es nur zu sagen.«
»Nein, ich danke Sir«, wiederholte ich. ,
»Vielleicht möchtest du ein paar Schillinge anwenden für eine Flasche Johannisbeerwein, oben für unser Schlafzimmer?« sagte Steerforth. »Du bist nämlich mit in meinem Schlafzimmer.«
Gewiß war mir dies vorher nicht eingefallen, aber ich sagte, ja, das würde mir schon recht sein.
»Sehr gut«, sagte Steerforth. »Und vielleicht einen Schilling für Mandelkuchen?«
Ich bestätigte, daß mir auch dies recht wäre.
»Und einen Schilling für Biskuit und einen für Obst, nicht wahr?« sagte Steerforth. »Wahrhaftig, kleiner Copperfield! du bringst dein Geld großartig durch!«
Ich lachte, weil er lächelte, aber ich war doch innerlich ein wenig beunruhigt. »Na!« sagte Steerforth, »wir müssen sehen, wie weit es reicht! das ist alles. Ich will mein Möglichstes für dich tun. Ich kann ausgehen, wenn ich will, ich werde die ganze Geschichte hereinschmuggeln.« Mit diesen Worten steckte er das Geld in seine Tasche und sagte mir, ich sollte mir keine Sorge machen, er wollte schon zusehen, das alles in Ordnung sei.
Er hielt Wort (wenn man das für »in Ordnung« nennen konnte, was eine innere Stimme in mir ein Unrecht nannte), denn mir schien es, daß ich meiner Mutter beide halbe Kronen unnützerweise verschwendete – obgleich ich das Stück Papier, in das sie gewickelt gewesen waren, sorgfältig und wie einen kostbaren Schatz aufbewahrte. Als wir zu Bett gingen, breitete er seine Einkäufe im Mondscheine auf dem Bette aus und sagte:
»So, junger Copperfield, das nenn' ich mir eine famose Bescherung, ein königliches Mahl!«
Solange er anwesend war, konnte ich in meinem Alter nicht daran denken, die Honneurs des Festes zu machen; meine Hand zitterte bei dem bloßen Gedanken daran. Ich bat ihn daher um die Gefälligkeit, den Vorsitz zu führen; und da mein Wunsch von den übrigen Schülern, die in diesem Schlafzimmer waren, unterstützt wurde, so gab er nach und nahm auf meinem Kopfkissen Platz. Hier teilte er die Lebensmittel aus – ich muß gestehen mit vollkommener Unparteilichkeit – und schenkte den Johannisbeerwein in einem kleinen Stehauf-Glase ohne Fuß, das ihm gehörte, Reihe um, aus. Ich saß an seiner linken Seite, und die übrigen hatten sich auf die nächsten Betten und auf den Fußboden um uns gruppiert.
Wie deutlich erinnere ich mich noch, wie wir zusammen dasaßen und flüsternd miteinander sprachen; oder ich sollte vielmehr sagen, wie sie miteinander sprachen und wie ich ehrerbietig zuhörte! Das Mondlicht schien ein Stück ins Zimmer hinein und malte ein blasses Fenster auf den Fußboden, während der übrige Teil mit der Mehrzahl der Knaben im Dunkeln blieb, außer wenn Steerforth, um etwas auf dem Tisch zu suchen, einen Zünder in die Phosphorbüchse tauchte und einen blauen Schein über uns verbreitete, der sogleich wieder verschwunden war. Ein Gefühl des Geheimnisvollen infolge der Dunkelheit, der Heimlichkeit des Zusammenseins und des flüsternden Tones, in dem sich alle bei dieser Mahlzeit unterhielten, beschleicht mich wieder, und ich höre allen zu mit einem dunkeln Gefühl der Ehrfurcht und Beklemmung, so daß ich froh bin, daß mir alle so nahe sind, und mich fürchte (obgleich ich tue, als ob ich lachte), als Traddles ein Gespenst in der Ecke zu sehen behauptete.