Kitabı oku: «Klein-Doritt», sayfa 2

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»Hier bin ich. Seht mich an! Aus dem Würfelbecher des Schicksals in die Gesellschaft eines bloßen Schmugglers geschleudert; – eingeschlossen mit einem armen kleinen Schmuggler, dessen Papiere nicht in Ordnung, und den die Polizei packte, weil er sein Boot (als Mittel, über die Grenze zu kommen) andern kleinen Leuten zur Verfügung stellte, deren Papiere nicht besser sind; und dieser Mensch erkennt meine Stellung an, selbst bei dieser Beleuchtung und an diesem Ort. Gut! Beim Himmel, ich gewinne, wie das Spiel auch fällt.«

Wiederum bäumte sich der Schnurrbart, und die Nase senkte sich.

»Was ist jetzt die Uhr?« fragte er mit einer trocken-heißen Blässe auf den Wangen, zu der der scherzende Ton wenig paßte.

»Eine kleine halbe Stunde nach Mittag.«

»Gut! Der Präsident wird bald einen Kavalier vor sich haben. Wohlan! Soll ich Euch sagen, wessen ich beschuldigt bin? Ich müßte es jetzt tun, sonst wäre es zu spät, denn ich komme nicht mehr hierher zurück. Entweder werde ich freigesprochen oder ich muß mich zum Rasieren vorbereiten. Ihr wißt, wo sie das Rasiermesser verborgen halten?«

Signor Cavaletto nahm seine Zigarre aus dem Munde und zeigte sich für den Augenblick verdrießlicher, als man hätte erwarten sollen.

»Ich bin ein« – Monsieur Rigaud stand auf, um es zu sagen – »ich bin ein Kavalier und Kosmopolit. Ich gehöre keinem Lande an. Mein Vater war Schweizer – aus dem Waadtland. Meine Mutter war Französin dem Blute, Engländerin der Geburt nach. Ich selbst bin in Belgien geboren. Ich bin ein Weltbürger.«

Seine theatralische Haltung, wie er so dastand, den einen Arm an der Hüfte in den Falten seines Mantels, und seine Art, den Mitgefangenen unbeachtet zu lassen, während er seine Worte an die gegenüberstehende Mauer richtete, schienen weit eher zu erkennen zu geben, daß er seine Rolle für den Präsidenten studierte, dessen Verhör er sich demnächst unterziehen sollte, als daß er sich die Mühe nehme, eine so unbedeutende Persönlichkeit wie Johann Baptist Cavaletto über den Stand der Dinge aufzuklären.

»Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Ich habe die Welt gesehen. Ich habe hier gelebt und dort gelebt und überall wie ein Kavalier gelebt. Ich bin von aller Welt als Kavalier behandelt und geehrt worden. Wenn Sie mich dadurch benachteiligen wollen, daß Sie herausbringen, ich habe durch meinen Esprit mir den Lebensunterhalt erworben – so frage ich, wodurch leben denn Ihre Advokaten – Ihre Staatsmänner – Ihre Intriganten – Ihre Börsenmänner?«

Er hielt seine kleine weiche Hand ständig in Bereitschaft, als wenn sie ein Zeuge seiner Vornehmheit wäre, der ihm oft schon gute Dienste geleistet.

»Vor zwei Jahren kam ich nach Marseille. Ich gebe zu, daß ich arm war; ich war krank gewesen. Wenn Ihre Anwälte, Ihre Staatsmänner, Ihre Intriganten, Ihre Börsenmänner krank werden und nicht vorher Geld zusammengescharrt haben, so werden auch sie arm. Ich mietete mich im goldenen Kreuz ein – damals im Besitz des Herrn Henri Barronneau –, der wenigstens sechsundfünfzig Jahr alt und noch dazu von sehr schwacher Gesundheit war. Ich hatte vier Monate in dem Hause gewohnt, als Herr Henri Barronneau das Unglück hatte zu sterben: jedenfalls kein seltenes Unglück! Es geschieht häufig, sehr häufig, ohne mein Zutun.«

Da Johann Baptist seine Zigarette bis an die Finger geraucht, hatte Monsieur Rigaud die Großmut, ihm eine zweite zu geben. Er zündete die letztere an der Asche der ersteren an und rauchte fort, indem er seitwärts nach seinem Mitgefangenen blickte, der, nur mit seiner Sache beschäftigt, ihn kaum ansah.

»Monsieur Barronneau hinterließ eine Witwe. Sie war vierundzwanzig Jahre alt. Sie galt für schön und (was oft ein ganz anderer Fall) war schön. Ich blieb im goldenen Kreuz wohnen. Ich heiratete Madame Barronneau. Es ist nicht meine Sache zu entscheiden, ob diese Verbindung glücklich war. Hier stehe ich mit der Schmach des Gefängnisses auf mir; es ist jedoch möglich, daß sie mich besser für sie taugend gefunden als ihren früheren Mann.

Er hatte, obenhin betrachtet, das Aussehen eines schönen Mannes – war es aber in Wirklichkeit nicht; und trug das oberflächliche Gepräge eines vornehmen Mannes – was er gleichfalls nicht war. Es war bloße Prahlerei und Anmaßung. Aber darin wie in manchen andern Dingen ersetzt die polternde Behauptung den Beweis – und das in der halben Welt!

Sei dem, wie ihm wolle, Madame Barronneau fand an mir Gefallen. Das wird mir hoffentlich nicht zum Nachteil gereichen?"

Sein Auge fiel zufällig bei dieser Frage auf Johann Baptist, der verneinend den Kopf schüttelte und unzählige Male mit seinem bündigen altro, altro, altro diese Ansicht bekräftigte.

»Nun kamen die Schwierigkeiten unserer gegenseitigen Stellung. Ich bin stolz. Ich sage nichts zur Verteidigung des Stolzes, aber ich bin stolz. Auch liegt es in meinem Charakter, zu herrschen. Ich kann nicht gehorchen; ich muß herrschen. Unglücklicherweise ruhte das Vermögen von Madame Rigaud in ihren Händen. Das war die wahnsinnige Verfügung ihres verstorbenen Mannes. Noch unglücklichererweise hatte sie Verwandte. Wenn die Verwandten einer Frau sich gegen einen Gatten ins Mittel legen, der ein Kavalier, der stolz ist und der herrschen muß, so sind die Folgen für den Frieden immer sehr gefährlich. Madame Rigaud war unglücklicherweise etwas gewöhnlich. Ich suchte ihren Formen einen feinen Schliff zu geben und ihren Ton im allgemeinen etwas zu verbessern; sie nahm (auch darin von ihren Verwandten unterstützt) meine Bemühungen übel auf. Es entstanden Streitigkeiten zwischen uns; die Nachbarn bekamen durch die verleumderischen Zungen der Verwandten von Madame Rigaud übertriebene Kunde davon. Man sagte, ich behandle Madame Rigaud grausam. Man wollte gesehen haben, wie ich ihr ins Gesicht geschlagen – nichts weiter. Ich habe eine leichte Hand, und wenn man mich Madame Rigaud in dieser Weise zurechtweisen sah, so konnte es ihr wenigstens nicht sehr weh tun: denn es geschah ja nur auf scherzhafte Art.«

Wenn die scherzhafte Art des Herrn Rigaud in seinem Lächeln bei diesen Worten einen entsprechenden Ausdruck fand, so würden die Verwandten von Madame Rigaud ohne Zweifel es weit vorgezogen haben, wenn er die unglückliche Frau ernsthaft zurechtgewiesen.

»Ich bin feinfühlig und mutig. Ich will es nicht für ein Verdienst ausgeben, feinfühlig und mutig zu sein, aber es ist mal mein Charakter. Wären die männlichen Verwandten von Madame Rigaud offen gegen mich aufgetreten, würde ich gewußt haben, was mit ihnen anzufangen ist. Sie merkten das und setzten ihre Wühlereien im stillen fort, dadurch gerieten Madame Rigaud und ich häufig in die unglückseligste Kollision. Selbst wenn ich einer kleinen Summe Geldes zu meinen persönlichen Ausgaben bedurfte, konnte ich sie nicht ohne Streit bekommen – und das ich, ein Mann, in dessen Charakter es liegt, zu herrschen? Eines Abends gingen Madame Rigaud und ich freundschaftlich – ich darf sagen wie Liebende – auf einem über die See hinaushängenden Felsenweg spazieren. Ein Unstern ließ Madame Rigaud das Gespräch auf ihre Verwandten bringen. Ich sprach verständig mit ihr über diesen Gegenstand, machte ihr Vorhaltungen über den Mangel an Pflichtgefühl und Hingebung, den sie dadurch an den Tag lege, daß sie sich von der eifersüchtigen Gesinnung ihrer Verwandten gegen den Gatten beeinflussen lasse. Madame Rigaud antwortete etwas derb, ich nicht minder. Madame Rigaud wurde warm, ich wurde gleichfalls warm und reizte sie. Ich gestehe es zu. Offenheit ist eine Seite meines Charakters. Endlich warf sich Madame Rigaud in einem Anfall von Wut, den ich ewig beklagen werde, mit leidenschaftlichem Geschrei auf mich, ohne Zweifel dasselbe Geschrei, das man in der Ferne gehört, zerriß meine Kleider, zerraufte mein Haar, zerkratzte mir die Hände, stampfte mit den Füßen, daß der Staub hoch aufflog, und sprang zuletzt über den Felsen hinab, wo sie sich an den Riffen unten zerschmetterte. Das ist die Kette von Ereignissen, durch die die Bosheit mich zuerst dazu gebracht, von Madame Rigaud das Aufgeben ihrer Rechte gebieterisch zu verlangen und, als sie darein zu willigen sich standhaft weigerte, handgemein mit ihr zu werden – sie zu ermorden!«

Er trat an den Fenstervorsprung, wo das Weinlaub noch herumlag, nahm zwei oder drei Blätter und wischte, mit dem Rücken gegen das Licht gekehrt, sich die Hände daran ab.

»Nun«, fragte er nach einer Pause, »habt Ihr auf alles das nichts zu sagen?«

»Es ist schändlich«, entgegnete der kleine Mann, der aufgestanden war und sein Messer an dem Schuh wetzte, während er sich mit einem Arm gegen die Wand stemmte. »Was soll das?«

Johann Baptist wetzte schweigend weiter.

»Glaubt Ihr, daß ich die Sachlage nicht streng nach der Wahrheit dargestellt?«

»Altro!« entgegnete Johann Baptist. Das Wort war diesmal eine Rechtfertigung und sollte soviel bedeuten als: »O, durchaus nicht.«

»Was denn?«

»Präsident und Tribunal haben gewöhnlich ihre vorgefaßte Meinung.«

»Wohlan!« rief der andere, nicht ohne Unruhe und mit einem Fluch den Zipfel seines Mantels über die Schulter werfend, »so mögen sie ihr Schlimmstes tun!«

»Das werden sie sicher auch«, murmelte Johann Baptist vor sich hin, während er sich bückte, um sein Messer in die Binde zu stecken.

Man sprach von keiner Seite mehr, obgleich beide auf und ab zu gehen begannen und sich natürlich bei jedem Umdrehen begegnen mußten. Monsieur Rigaud blieb bisweilen einen Augenblick stehen, als ob er seine Sache in ein neues Licht stellen oder eine gereizte Entgegnung machen wollte. Da aber Signor Cavaletto seinen Spaziergang in einem wunderlich aussehenden stoßweisen Trott gemächlich fortsetzte und die Augen beständig zu Boden senkte, so blieb es auf der andern Seite bei der Absicht.

Kurz darauf veranlaßte das Klirren eines Schlüssels im Schlosse, daß die beiden stehenblieben. Man hörte ein Geräusch von Stimmen und Tritten. Die Tür rasselte auf; die Stimmen und die Tritte kamen näher, und der Gefängniswärter stieg in Begleitung von einer Wache Soldaten die Treppe herauf.

»Nun, Monsieur Rigaud«, sagte er, indem er mit den Schlüsseln in der Hand vor dem Gitter stehenblieb, »haben Sie die Güte herauszukommen.«

»Ich soll, wie ich sehe, in feierlichem Zuge abgeholt werden?«

»Wenn das nicht der Fall wäre«, entgegnete der Gefängniswärter, »so dürften Sie in vielen Stücken Ihren Kerker verlassen, daß es schwer wäre, sie wieder zusammenzulesen. Draußen steht eine Volksmasse, Monsieur Rigaud, die Ihnen nicht besonders gewogen zu sein scheint.« Mit diesen Worten verschwand er und schloß und riegelte eine kleine Tür in der Ecke des Kerkers auf. »Nun kommen Sie«, sagte er, während er öffnete und eintrat.

Es gibt keine Art von Weiß zwischen allen Farben unter der Sonne, die im entferntesten Ähnlichkeit mit dem Weiß von Monsieur Rigauds Gesicht in diesem Augenblick gehabt. So gibt es auch entfernt keinen Ausdruck im menschlichen Antlitz, der diesem Ausdruck ähnlich gewesen, in dessen kleinstem Zug man das furchterfüllte Herz pochen sah. Man vergleicht beide gewöhnlich mit dem Tod. Aber der Unterschied ist so groß, wie die tiefe Kluft zwischen dem ausgerungenen Kampf und dem Streit in seiner verzweifeltsten Wut. Er zündete eine zweite Zigarette an der seines Mitgefangenen an, steckte sie zwischen die verbissenen Zähne, bedeckte den Kopf mit einem weichen, über die Augen hängenden Hut, warf den Zipfel seines Mantels wieder über die Schulter und trat auf die Seitengalerie hinaus, zu der die Tür führte, ohne weitere Notiz von Signor Cavaletto zu nehmen. Was den kleinen Mann selbst betrifft, so war sein ganzes Bestreben nur darauf gerichtet, der Tür nahe zu kommen und hinauszusehen. Ganz wie ein wildes Tier sich der geöffneten Tür seines Käfigs nähern und gierig nach der Freiheit draußen blicken würde, so verbrachte er die wenigen Augenblicke mit lauerndem Hinausschauen, bis die Tür sich vor ihm schloß.

Die Soldaten kommandierte ein Offizier, ein stämmiger, dienstgeübter und ungemein ruhiger Mann, der mit dem gezogenen Degen in der Hand eine Zigarre rauchte. Er befahl in kurzem Ton, daß Monsieur Rigaud in der Mitte der Soldaten gehe, stellte sich mit vollendeter Gleichgültigkeit an ihre Spitze, kommandierte »Marsch!«, und nun ging's klirrend die Treppe hinunter. Die Tür fiel ins Schloß – der Schlüssel wurde umgedreht –, aber ein Strahl ungewohnten Lichtes und ein Hauch ungewohnter Luft schien den Kerker durchzogen zu haben und sich in den dünnen Rauchwölkchen der Zigarre zu verflüchtigen.

Der einsam zurückgelassene Gefangene war wie ein Tier niederer Art – wie ein ungeduldiger Affe oder ein gereizter Bär der kleineren Gattung – auf die Fensterbank des Gefängnisses gesprungen, um keinen Blick auf den Scheidenden zu verlieren. Wie er noch so dastand, das Gitter mit beiden Händen haltend, drang ein Aufruhr an sein Ohr. Heulen, Schreien, Fluchen, Drohungen, Verwünschungen, alles durcheinander gemischt, obgleich man (wie bei einem Sturm) nichts als ein wildes Brausen hören konnte.

Durch seine Gier, mehr zu erfahren, einem eingesperrten wilden Tier noch ähnlicher gemacht, sprang der Gefangene rasch herunter, lief in dem Kerker herum, faßte das Gitter und suchte daran zu rütteln; sprang dann wieder herunter, lief hin und her und horchte und ruhte nicht eher, bis das Geräusch, sich immer mehr entfernend, endlich erstarb. Wie manchem besseren Gefangenen ist sein edles Herz auf diese Weise gebrochen. Niemand dachte daran; nicht einmal die Geliebten ihrer Seele hatten volle Kunde davon; während große Könige und Statthalter, die sie gefangen hielten, heiter im Sonnenlichte umherfuhren und das Volk sich schmeichelnd um sie drängte. Diese großen Herren dagegen starben, ein erhabenes Beispiel, mit herrlichen Reden in ihrem Bette, und die höfliche Geschichte, die noch knechtischer als ihre Werkzeuge, balsamiert sie ein!

Johann Baptist, der nun imstande war, sich den geeignetsten Ort im Umkreis der vier Mauern zur Ausübung seines Talents, zu schlafen, wann er wollte, auszuwählen, legte sich, mit dem Gesicht auf den gekreuzten Armen ruhend, auf die Bank nieder und schlummerte ein, – in seiner Unterwürfigkeit, seinem leichten Blute, seinem guten Humor, seiner rasch wechselnden Leidenschaft, seiner Zufriedenheit mit hartem Brot und harten Steinen, seinem leichten Schlaf, seinem Aufbrausen und seinen Zornausbrüchen ein echter Sohn des Landes, das ihn geboren.

Das grelle Licht wurde endlich trübe, die Sonne ging in roter, grüner, goldener Pracht unter, die Sterne traten am Himmel hervor, und die Leuchtkäfer äfften sie in der niederen Atmosphäre nach, wie die Menschen in ihrer Schwäche die Güte einer bessern Klasse von Geschöpfen nachahmen. Die langen staubigen Wege und die endlosen Ebenen lagen ruhig da – und auf dem Meer herrschte so tiefe Stille, daß es kaum von der Stunde flüsterte, wo es seine Toten wieder herausgeben wird.

Zweites Kapitel. Reisegenossen

»Hört man heute nichts mehr von dem gestrigen Geheul da drüben, Sir?«

»Ich habe nichts gehört.«

»Dann können Sie sicher sein, daß auch keines mehr ist. Wenn diese Leute heulen, so heulen sie, daß man es hören soll.«

»Das tun die meisten Menschen, glaube ich.«

»Aber diese Leute heulen in einem fort. Sie sind sonst nicht glücklich.«

»Meinen Sie die Marseiller?«

»Ich meine die Franzosen. Sie können es keinen Augenblick lassen. Was Marseille betrifft, so wissen wir, was Marseille ist. Es hat die aufrührerischste Melodie1, die jemals komponiert wurde, in die Welt geschickt. Es könnte nicht existieren, ohne zu irgend etwas zu demonstrieren oder marschieren – zum Sieg oder Tod, zum Aufruhr oder zu sonst etwas.«

Der Sprecher, dessen Gesicht von wunderlich guter Laune zeugte, sah mit der größten Geringschätzung über die Brustwehr auf Marseille nieder, und dann eine entschlossene Haltung annehmend, indem er seine Hände in die Taschen steckte und mit seinem Geld rasselte, redete er die Stadt mit kurzem Lachen an:

»Allons, marschons, jawohl.2 Es wäre anständiger für dich, meine ich, wenn du andre Leute in ihrem rechtmäßigen Geschäfte alliieren und marschieren ließest, statt sie in die Quarantäne zu sperren!«

»Langweilig genug ist's«, sagte der andere. »Aber wir werden heute entlassen.«

»Heute entlassen!« wiederholte der erste. »Es ist beinahe eine Erschwerung des Frevels, daß wir heute entlassen werden. Entlassen! Warum waren wir überhaupt eingesperrt?«

»Ich muß zugestehen, aus keinem triftigen Grunde! Da wir jedoch aus dem Orient kommen und der Orient die Heimat der Pest ist –«

»Der Pest!« wiederholte der andere. »Das ist eben mein Kummer. Ich habe beständig die Pest gehabt, seitdem ich hier bin. Mir ist wie einem Vernünftigen, den man in ein Irrenhaus sperrt; ich kann den Verdacht nicht ertragen. Ich kam so wohl und gesund hierher, wie ich je in meinem Leben gewesen, aber mich im Verdacht der Pest haben, heißt mir die Pest in den Leib jagen. Und ich hatte sie – und ich habe sie noch.«

»Sie sehen gut dabei aus, Mr. Meagles«, sagte der Teilnehmer an dem Gespräch lächelnd.

»Nein. Wenn Sie die wirkliche Sachlage kennten, so würde es Ihnen nicht in den Sinn kommen, die letztere Bemerkung zu machen. Ich bin eine Nacht um die andere aufgewacht und habe zu mir gesagt: jetzt habe ich sie, jetzt hat sie sich entwickelt, jetzt hat sie mich gepackt, jetzt haben die Burschen die Sache ausfindig gemacht und treffen ihre Vorsichtsmaßregeln. Wahrhaftig, ich möchte ebenso gern mit einer Nadel durch den Leib in einer Käfersammlung auf eine Papiertafel gesteckt sein, als das Leben führen, das ich hier geführt habe.«

»Nun, Mr. Meagles, sprechen wir nicht weiter davon, da es jetzt vorüber ist«, bat eine freundliche weibliche Stimme.

»Vorüber!« wiederholte Mr. Meagles, der, ohne alle Bösartigkeit, in jener eigentümlichen Stimmung zu sein schien, in der es uns immer wie eine neue Beleidigung vorkommt, wenn ein anderer das letzte Wort behält. »Vorüber! Und weshalb sollte ich nichts mehr darüber sagen, wenn es vorüber ist!«

Es war Mrs. Meagles, die Mr. Meagles angeredet hatte; und Mrs. Meagles war wie Mr. Meagles wohl und gesund; sie hatte ein angenehmes englisches Gesicht, das fünfundvierzig Jahre und mehr auf ein schlichtes einfaches Dasein geblickt und einen heiteren hellen Glanz über alles gegossen.

»Nun! Denke nicht mehr daran, Vater, denke nicht mehr daran!« sagte Mrs. Meagles. »Um der Güte willen, sei zufrieden mit Pet.«

»Mit Pet?" erwiderte Mr. Meagles, und die Stirnader schwoll ihm. Pet aber, die dicht hinter ihm stand, tätschelte ihm auf die Schulter, und Mr. Meagles verzieh auf der Stelle Marseille vom Grund seines Herzens.

Pet war ungefähr zwanzig Jahre alt. Ein hübsches Mädchen mit reichem braunen Haar, das in natürlichen Locken um ihr Gesicht fiel. Ein liebliches Wesen, mit offenem Antlitz und wundervollen Augen, so groß, so sanft, so glänzend, so vollkommen mit ihrem anmutigen, freundlichen Gesicht harmonierend. Sie war rund und frisch, voll Grübchen; freilich etwas verzogen, aber sie besaß dabei doch in ihrem Wesen etwas Schüchternes und Abhängiges, was die beste Schwäche von der Welt war und ihr den einzigen höheren Reiz verlieh, den ein so hübsches und angenehmes Wesen entbehren konnte.

»Nun frage ich Sie«, sagte Mr. Meagles mit der schmeichelhaftesten Vertraulichkeit, indem er einen Schritt zurücktrat und seine Tochter einen Schritt vorschob, um seine Frage zu flüstern: »Ich frage Sie einfach, wie ein vernünftiger Mann den andern, haben Sie je von einem so verdammten Unsinn gehört wie der, Pet in die Quarantäne zu sperren?«

»Es hatte wenigstens die gute Folge, daß selbst die Quarantäne dadurch erfreulich wurde.«

»So!« sagte Mr. Meagles, »das ist allerdings etwas. Ich bin Ihnen für diese Bemerkung dankbar. Aber Pet, mein liebes Kind, du würdest jetzt besser tun, wenn du mit der Mutter gingest und dich für das Boot fertig machtest. Der Gesundheitsbeamte und eine Menge von Narren mit aufgekrempten Hüten werden kommen, um uns endlich hier herauszulassen. Wir gefangenen Vögel alle werden zusammen wieder in annähernd christlicher Weise frühstücken, ehe jeder nach seinem Bestimmungsort von dannen flieht. Tattycoram, gehe deiner jungen Herrin nicht von der Seite.«

Er richtete diese letzten Worte an ein hübsches Mädchen mit glänzend dunklem Haar und Augen, das sehr nett angezogen war und mit flüchtiger Verbeugung antwortete, während es im Gefolge von Mrs. Meagles und Pet vorüberging. Sie schritten alle drei über die kahle, sengend heiße Terrasse und verschwanden in einem grellweißen Torweg. Mr. Meagles' Reisegenosse, ein großer gebräunter Mann von vierzig Jahren, stand noch immer nach dem Torweg blickend da, als sie bereits längst verschwunden waren, bis ihn endlich Mr. Meagles auf den Arm klopfte.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er und erwachte aus seinen Träumereien.

»Keine Ursache«, sagte Mr. Meagles.

Sie gingen im Schatten an der Mauer schweigend auf und nieder und genossen auf der Höhe, wo die Quarantänebaracken liegen, die kühle Frische der Seeluft, soweit solche morgens um sieben Uhr vorhanden war. Mr. Meagles' Reisegenosse nahm das Gespräch wieder auf.

»Darf ich Sie fragen«, sagte er, »was bedeutet der Name –«

»Tattycoram?« fiel Mr. Meagles ein. »Ich habe nicht die mindeste Idee –«

»Ich meinte«, sagte der andere, »daß –«

»Tattycoram«, ergänzte Mr. Meagles abermals.

»Danke – daß Tattycoram ein Name sei; und ich habe mich häufig über seine Seltsamkeit gewundert.«

»Nun, die Sache ist die«, sagte Mr. Meagles, »Mrs. Meagles und ich, müssen Sie wissen, sind praktische Leute.«

»Das haben Sie des öfteren im Lauf unserer angenehmen und interessanten Gespräche während der Spaziergänge auf diesem Pflaster erwähnt«, sagte der andere, indem ein flüchtiges Lächeln durch den Ernst seines braunen Gesichts brach.

»Praktische Leute! Als wir nun eines Tages, vor ungefähr fünf oder sechs Jahren, Pet mit in die Kirche des Findelspitals in London nahmen – Sie hörten doch schon von dem Findelspital in London? Es ist dem Findelhaus in Paris ähnlich.«

»Ich habe es gesehen.«

»Nun gut! Als wir Pet einst mit in jene Kirche nahmen, um dort Musik zu hören – weil wir es als praktische Leute für unsere Aufgabe halten, ihr alles zu zeigen, was ihr Freude machen kann –, fing die Mutter (mein gewöhnlicher Name für Mrs. Meagles) so zu weinen an, daß ich sie hinausbringen mußte. ›Was gibt es, Mutter?‹ sagte ich, als wir etwas mit ihr gegangen waren, ›du erschreckst Pet, meine Liebe‹ – ›Ich weiß es wohl, Vater‹, sagte die Mutter, ›aber ich glaube, gerade weil ich sie so innig liebe, ist es mir in den Sinn gekommen‹ – ›Was kam dir denn in den Sinn, Mutter?‹ – ›O Gott!‹ rief die Mutter, wiederum in Tränen ausbrechend, ›als ich all diese Kinder in Reihen übereinander sitzen und von dem Vater auf Erden, den keines von ihnen je gesehen, sich an den größeren Vater von uns allen im Himmel wenden sah, da dachte ich: Kommt wohl auch einmal eine unglückliche Mutter hierher und sieht sich unter diesen jungen Gesichtern um, neugierig, welches das arme Kind sein möchte, das sie in diese verlassene Welt gebracht, damit es niemals in seinem ganzen Leben ihre Liebe, ihren Kuß, ihr Gesicht, ihre Stimme, ja nicht einmal ihren Namen kennenlernen soll?‹ Das war doch sehr praktisch von der Mutter, und ich sagte ihr es. Ich sagte nämlich: ›Mutter, das nenne ich praktisch!‹

Der andere stimmte ihm nicht ohne Rührung bei.

»So sagte ich am nächsten Tag: Ich habe dir einen Vorschlag zu machen, Mutter, den du sicher billigen wirst. Laß uns eins von den Kindern zu uns nehmen: es kann Pet Gesellschaft leisten. Wir sind praktische Leute. Wenn wir deshalb ihr Temperament etwas mangelhaft oder in irgendeiner Weise ihre Gewohnheiten von den unsern abweichend finden, so werden wir wissen, was wir in dieser Richtung in Rechnung zu stellen haben. Wir wissen, wie ungeheuer viel von all den Einflüssen und Erfahrungen, die persönlichkeitsbildend für uns waren, abgezogen werden muß – keine Eltern, kein Brüderchen oder Schwesterchen, keine wirkliche Heimat, kein gläserner Pantoffel oder keine Feenpatin!3 Und auf diese Weise kamen wir zu Tattycoram.«

»Und der Name selbst –«

»Bei St. Georg!« sagte Mr. Meagles, »ich vergaß den Namen. Nun, sie hieß in der Anstalt Harriet Beadle – natürlich ein willkürlich erfundener Name. Nun änderten wir Harriet in Hatty ab und dann in Tatty, weil wir als praktische Leute dachten, ein scherzhafter Name sei etwas Neues für sie und müsse einen wohltuenden und gewinnbringenden Eindruck auf sie machen, nicht wahr? Was nun den Namen Beadle betrifft, so brauche ich kaum zu sagen, daß er ganz außer dem Spiele blieb. Wenn es etwas gibt, was unter keiner Form zu ertragen ist, etwas, was der Typus amtswichtiger Anmaßung und Abgeschmacktheit ist, etwas, was in Röcken und Westen und dicken Stöcken unser englisches Festhalten am Unsinn, über den jedermann sonst hinaus ist, repräsentiert, so ist es ein Beadle (Kirchendiener). Haben Sie in letzter Zeit keinen Kirchendiener gesehen?«

»Als ein Engländer, der mehr als zwanzig Jahre in China war, nein!«

»Dann«, sagte Mr. Meagles, indem er seinen Zeigefinger mit großer Lebhaftigkeit auf seines Reisegenossen Brust legte, »dann weichen Sie jedem Kirchendiener, wo Sie nur können, aus. Wenn ich Sonntags einen Kirchendiener in vollem Staat an der Spitze einer Armenschule die Straße entlang kommen sehe, so muß ich umkehren und Reißaus nehmen; sonst würde ich ihm sicher eins versetzen. Da, wie gesagt, der Name Beadle ganz aus dem Spiele blieb und der Gründer der Anstalt für die armen Findlinge ein segensreicher Mann mit Namen Coram war, so gaben wir Pets kleiner Gespielin diesen Namen. Bald hieß sie nun Tatty, bald Coram, bis wir endlich beide Namen verbanden, und nun heißt sie immer Tattycoram.«

»Ihre Tochter«, sagte der andere, als sie wieder schweigend auf und ab gegangen und, nachdem sie einen Augenblick über der Mauer nach der See hinabgeblickt, ihren Spaziergang wieder begonnen: »Ihre Tochter ist Ihr einziges Kind, nicht wahr, Mr. Meagles? Darf ich wohl fragen – nicht aus unzarter Neugier, sondern weil es mir in Ihrer Gesellschaft so wohl gefallen, ich vielleicht nie wieder in diesem Labyrinth der Welt ein ruhiges Wort mit Ihnen sprechen kann und mir eine klare Erinnerung von Ihnen und den Ihren zu bewahren wünsche –, darf ich Sie fragen, habe ich nicht mit Recht aus den Worten Ihrer guten Frau geschlossen, daß sie noch andere Kinder gehabt?«

»Nein, nein«, sagte Mr. Meagles. »Nicht gerade andere Kinder. Nur ein anderes Kind.«

»Ich fürchte, ich habe unabsichtlich ein zu zartes Thema berührt.« »Es hat nichts zu sagen«, versetzte Nr. Meagles. »Wenn es mich ernst macht, so verursacht es mir doch nicht gerade Schmerzen. Ich werde vielleicht für einen Augenblick still, aber es macht mich nicht unglücklich. Pet hatte eine Zwillingsschwester, die starb, als wir gerade ihre Augen – ganz Pets Augen – über dem Tische sehen konnten, wenn sie auf den Zehen stand und sich an der Tischkante festhielt.«

»Wirklich? O, in der Tat?«

»Ja, und da wir praktische Leute sind, bildete sich nach und nach eine Vorstellung in Mrs. Meagles und mir, die Sie vielleicht verstehen werden – vielleicht auch nicht. Pet und ihre Zwillingsschwester sahen sich so außerordentlich ähnlich und waren so vollkommen eins, daß wir sie seitdem nicht mehr in unsern Gedanken trennen konnten. Es hätte fortan nichts genützt, wenn wir uns auch gesagt, unser totes Kind sei ein bloßes Kind geblieben. Dies Kind hat sich mit den Veränderungen des uns gebliebenen Kindes verändert und war uns immer nahe. Wie Pet wuchs, so wuchs auch dieses Kind; wie Pet verständiger und jungfräulicher wurde, so wurde auch ihre Schwester verständiger und jungfräulicher – alles in denselben Abstufungen. Man würde mich ebenso schwer überzeugen können, daß, wenn ich morgen in die andere Welt käme, ich nicht durch die Gnade Gottes von einer Tochter geradeso wie Pet empfangen werden sollte, wie man mich davon überzeugen könnte, daß Pet neben mir keine reelle Existenz sei.«

»Ich verstehe Sie«, sagte der andere freundlich.

»Was meine Tochter betrifft«, fuhr ihr Vater fort, »so hat der plötzliche Verlust ihres kleinen Ebenbildes und Gespielin und ihre frühzeitige Berührung mit jenem Mysterium, an dem wir alle unsern gleichen Teil haben, das aber nicht immer einem Kind so schroff entgegentritt, notwendigerweise einigen Einfluß auf ihren Charakter gehabt. Dann waren ihre Mutter und ich nicht mehr jung, als wir heirateten, und Pet führte immer das Leben von Erwachsenen mit uns, obgleich wir uns bemühten, uns ihrem kindlichen Ideenkreis anzuschmiegen. Da sie etwas kränklich war, so gab man uns mehr als einmal den Rat, sie sooft wie möglich in ein anderes Klima und in eine andere Luft zu bringen – namentlich in dem Alter, in dem sie jetzt steht – und ihr viel Zerstreuung zu schaffen. Und da ich es nun nicht mehr nötig habe, hinter dem Kontorpult zu stehen (obgleich ich früher sehr arm war, sonst hätte ich wahrhaftig Mrs. Meagles weit früher geheiratet), so reisen wir jetzt in der Welt umher. Aus diesem Grunde fanden Sie uns am Nil und bei den Pyramiden, bei den Sphinxen und in der Wüste und so weiter und so weiter; deshalb wird Tattycoram auch mit der Zeit eine größere Reisende als Kapitän Cook sein.«

»Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Vertrauen«, sagte der andere.

»Bitte sehr«, entgegnete Mr. Meagles, »es ist gerne geschehen. Und nun, Mr. Clennam, darf ich Sie wohl fragen, ob Sie schon zu einem Entschluß über Ihr nächstes Reiseziel gekommen sind?«

»Wahrhaftig, nein. Ich bin ein so herren- und willenloser Weltfahrer, daß ich mich von jeder Strömung forttreiben lasse.«

»Es kommt mir seltsam vor – entschuldigen Sie meine Freiheit, mit der ich das sage –, daß Sie nicht direkt nach London gehen«, sagte Mr. Meagles in dem Ton vertraulichen Rates.

»Vielleicht werde ich es doch wohl tun.«

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