Kitabı oku: «Die Tränen der Rocky Mountain Eiche»

Yazı tipi:

Charles M. Shawin

Die Tränen der

Rocky Mountain Eiche

Ein glänzender Stein am Wegrand. So klein – und doch so schön.

Ich hob ihn auf. Er war so schön!

Ich legte ihn wieder zurück und ging weiter.

Calvin O. John

Gewidmet dem großen Volk der Neme

Die Tränen der

Rocky Mountain Eiche

Historischer Roman

von

Charles M. Shawin


Impressum

Die Tränen der Rocky Mountain Eiche, Charles M. Shawin

TraumFänger Verlag Hohenthann, 2019

eBook ISBN: 978-3-941485-94-5

Datenkonvertierung: digitalreprint gmbh

Lektorat: Michael Krämer

Satz und Layout: Janis Sonnberger, merkMal Verlag

Titelbild: Alfredo Rodriguez

1. Auflage Mai 2021

Copyright by TraumFänger Verlag GmbH & Co. Buchhandels KG, Hohenthann

Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Das Schiff

Dave

Cuthbert

Der Anlegesteg

Clarissa

Mr Blackmore

Orlando Bell

Die Mandanen

Yellowstone

Blackfeet

Boston

Geschäfte

Wölfe

Waicoh

Ein Geschenk

Massachusetts

Kaleb

Weihnachten

Das Blackfoot-Mädchen

Die Shoshonen

Wettspiele

Four Ravens

Das Ballrennenspiel

Cheyenne

Familie Borden

Büffel

Raub

Die Rocky Mountain Eiche

Trapper

Skohkooni

Flucht

Humphrey

Daisy

Bennry

Siedler

Christuskreuz

Die Siedlung

Der Reverend

Die Tränen der Eiche

Sioux

Mrs Hayden

Blackmore

Ein neues Haus

Tanz

Versuchung

Die Kuh

Samariter

Baxter

Notwehr

Der Prozess

Der Angriff

Freiheit

Das Schiff

Stöhnend und fauchend quälte sich das Dampfschiff den Mississippi hinauf. Die gewaltigen Schaufelräder schlugen klatschend ins Wasser und trieben den hölzernen Kiel wie ein Ungeheuer gegen die braun-gelbe Flut. Aus dem Schornstein quollen dichte Wolken; schrill und ohrenbetäubend rief das Typhon: „St. Louis, ich komme!”

Schon seit Wochen stand es in der Frontier News: St. Louis wird an die restliche Welt angeschlossen – zum ersten Mal wird es ein dampfbetriebenes Schiff ansteuern.

Ein Korbflechter, der weiter südlich am Fluss gewesen war, um Weiden zu schneiden, kam an jenem Tag aufgeregt in die Stadt zurück gerannt und rief voller Freude: „Das Dampfschiff! Es ist da!” Die, die ihn hörten, folgten seinem Ruf und rannten zum Fluss, und als dann in der St. Michaels Kirche die Glocken läuteten, wussten es alle und rannten hinaus aus der Stadt. Der Schmied verließ seine Esse, der Schneider warf das Nähzeug weg, Frauen ließen das Mittagessen anbrennen und die Kinder vergaßen ihr Spiel. Aufgeregt standen sie unten am Fluss in der Sommerhitze des Jahres 1817 und warteten auf das große Ereignis. Die Stadt hinter ihnen war wie leergefegt. Noch immer läutete die Glocke der St. Michaels Kirche die Zukunft ein. Ihr Klang verfing sich hohl in den einsamen Gassen.

Der fünfjährige David Heinrich Hofer war einer der Letzten, der unten am Pier ankamen. Sein schmächtiger Körper war den Leibern der Erwachsenen gegenüber nicht gewappnet; immer wieder wurde er beiseite gedrängt oder geschubst. Verzweifelt versuchte er,

einen Blick auf den Mississippi zu erhaschen, aber vergeblich. Endlich erblickte ihn Hastings Blackmore. Die riesigen Hände des Zimmermanns packten den Knaben und hoben ihn auf die breiten Schultern. „Sollst es nicht verpassen, mein Junge, wenn der Fortschritt in St. Louis Einzug hält!”, rief er vergnügt, und seine Augen funkelten erwartungsvoll.

David lächelte zufrieden. Seine kleinen Hände pressten sich an Mr Blackmores Stirn, auf der dicke Schweißperlen standen. Der riesenhafte, korpulente Mann schwitzte ohnehin leicht, doch heute trieb ihm die fiebrige Erwartung den Schweiß in Bächen aus den Poren.„Wie geht es deiner Mum?”, fragte Mr Blackmore, ohne den Blick vom Fluss zu wenden.

„Ich glaube, gut”, antwortete der Junge artig.

Noch war das Schiff nicht zu sehen. Nur die Rauchfontäne war zu erkennen, die hinter der letzten Flussbiegung senkrecht in den Himmel stieg. Und die Sirene war zu hören, deren Tuten den Wartenden begeisterte Jubelrufe entlockte.

Abseits der weiß getünchten Häuser von St. Louis standen einige, die von Schmutz strotzten und die teils zerschlissen und mit schäbigen Bretterabfällen notdürftig geflickt waren. Die Besitzer dieser armseligen Behausungen – man nahm an, es handle sich um Caddo-Indianer – Genaues wusste niemand zu sagen und wollte auch niemand wissen – lagerten wie Bettler vor der Stadt und lebten von dem, was ihnen die Eroberer ihres Landes in Anflügen von Barmherzigkeit zukommen ließen.

Die Neugier trieb auch sie aus ihren Zelten. In schmutzigen Kleidern, mit verlausten Haaren, viele angetrunken, kamen sie zum Fluss. Mit stoischem Gesichtsausdruck, in verfilzte Decken gehüllt, ließen sie sich abseits der Weißen nieder und warteten.

„Wie Tiere”, knurrte Hastings Blackmore. Er zupfte David am

Hemdsärmel. „Schau sie dir an, Dave! Arme Wichte sind das. Kommen hierher und glotzen den Fluss hinab. Und haben dabei keinen Schimmer, was dort gleich kommen wird.”

„Vielleicht wissen sie es doch, Mr Blackmore”, widersprach Dave

leise.

Hastings Blackmore drehte schmunzelnd den Kopf und sah ihn über die Schulter hinweg mitleidig an.

„Ich sagte dir doch, sie sind wie Tiere. Wie dumme, störrische Tiere. Und sie sind Diebe und Gotteslästerer. Allesamt. Aber sie sind auch arme Wichte.”

Cuthbert kam angerannt und forderte Dave auf, mit ihm und den anderen Kindern dem Schiff entgegenzulaufen. Er war Mr Blackmores Sohn. Er war neun, also vier Jahre älter als Dave, aber sein Körper zeigte schon gute Ansätze von Muskeln. Dave beneidete ihn deswegen, aber auch wegen der Art, wie Cuthbert sich selbst gegenüber älteren Kindern durchsetzte. Außerdem hatte Cuthbert schon Whiskey getrunken. Dave hatte ihn hinter Mr Blackmores Haus erwischt, aber er hatte es niemandem verraten.

Nachdem ihn Mr Blackmore auf dem Boden gesetzt hatte, folgte Dave dem älteren Jungen ohne ein Wort des Widerspruchs. Viel

lieber wäre er auf Mr Blackmores breiten Schultern sitzengeblieben, weil er sich dort oben geborgener fühlte.

Endlich tauchte das Schiff auf. Der breite Rumpf lag flach in den Fluten; wie eine riesige rote Zigarre steckte der Schornstein in der Mitte und spie Feuerfunken und Rauch aus; an beiden Seiten lagen die Räder – sie waren fast so groß wie das ganze Schiff. Enorme Kräfte mussten sie antreiben, denn tosend gruben sie sich in das schlammige Wasser und wühlten es auf. Nichts schien die Gewalt dieses Monsters aufhalten zu können. Und dabei fuhr es ohne ein einziges Segel, wie einer der St. Louiser erstaunt bemerkte.

Jetzt konnten sich selbst die Erwachsenen nicht mehr halten. Jubelnd rannten sie dem Ungeheuer entgegen. Die, die ihre Pferde dabei-

hatten, ritten am Ufer entlang, schwangen ihre Hüte und waren schneller bei dem Schiff als die Kinder, die vorausgeeilt waren.

Die Indianer liefen in die entgegengesetzte Richtung. Die imposante Erscheinung dieses Zauberkanus und der Lärm der Sirene versetzte sie dermaßen in Angst und Schrecken, dass sie in ihre Zelte rannten und sich dort versteckten.

Am Bug des Schiffes stand der Kapitän. Nicht ohne Stolz nahm er die triumphale Begrüßung entgegen. Als er in Louisville aufgebrochen war, wusste er, dass das Schiff in St. Louis Aufsehen erregen würde, denn die meisten dort hatten noch nie ein Dampfschiff gesehen. Was ihm aber jetzt geboten wurde, übertraf seine Erwartungen.

Winkend, lachend und Glückwünsche rufend säumten die Menschen den Fluss. Sie hielten Schritt mit dem Schiff und begleiteten es zum Pier. Ein paar Musiker hatten ihre Posaunen dabei und begannen, Amazing Grace zu spielen. Clara Gardner, die hübsche Frau des Reverends, stimmte mit kraftvollem Sopran ein, und dann sangen alle und huldigten der Zukunft, die mit diesem Schiff in St. Louis einzog.

„Welch ein Fortschritt!”, rief Hastings Blackmore, als das Lied verstummte und das Dampfschiff die Turbinen abstellte. „Wenn wir Menschen so etwas bauen können, dann steht uns die Welt offen. Wer wollte uns aufhalten?”

Reverend Al Gardner begrüßte den Kapitän im Namen der Stadt, indem er ihm lange Zeit kräftig die Hände schüttelte und immer wieder seinen Dank und seine Freude zum Ausdruck brachte. Schließlich wandte er sich an die jubelnde Gemeinde und forderte sie auf, Gott, dem Allmächtigen, und Jesus, dem Erlöser, zu danken.

Der junge Reverend war ein gewandter Redner; seine kräftige Stimme übertönte das Rauschen des Mississippi und war lauter als der Südwestwind, der unablässig den Duft von Gras aus der Prärie in die Stadt trug. Gardner brachte die Geschichte von St. Louis in lebendigen Bildern in Erinnerung. Vor nahezu sechzig Jahren war dieses Land unberührt und leer gewesen. Nichts gab es, nur den Wilden, der barfüßig die Prärie betrat, um mit Speer und Pfeil den Bison zu jagen. Das Land hieß Louisiana und gehörte den Franzosen. 1764 war es, als der französische Pelzhändler Pierre Liguste la Clède hier an dieser günstigen Stelle – am Zusammenfluss von Mississippi und Missouri – einen Handelsstützpunkt errichtete, ihn St. Louis nannte und mit Palisaden vor Indianern schützte. Viele Jahre schlief die kleine Ansiedlung einen ruhigen Dornröschenschlaf. Pelzjäger und Händler brachen von hier aus in den Westen auf, doch St. Louis blieb nie mehr als ein Stützpunkt. Der Zuwachs war nicht nennenswert. Um die Jahrhundertwende zählte man nur etwa 925 Einwohner, die in 150 primitiven Hütten wohnten. Dies änderte sich erst ab dem Jahr 1803, als Louisiana an die Vereinigten Staaten von Amerika fiel.

„Dem amerikanischen Pioniergeist ist es zu danken”, schloss Gardner seine Rede, „dass St. Louis zu dem wurde, was es heute ist: eine blühende, dem Fortschritt aufgeschlossene Stadt. Über dreitausend gottesfürchtige Menschen leben heute hier. Und es werden täglich mehr. Mr Blackmore hat alle Hände voll zu tun, um Häuser für die Neuankömmlinge zu errichten. Gottes Wort findet hier im entlegenen Westen seine Verwirklichung: Machet euch die Erde untertan, heißt es im 1. Buch Mose. Dieses Schiff, liebe Gemeinde, das ohne Segel und ohne Ruder den Fluss befährt, ist ein Geschenk Gottes. Mit ihm wird es uns möglich sein, tonnenweise Fracht in die Wildnis zu schaffen, neue Städte zu errichten und Gottes Wort zu verbreiten. Und St. Louis wird das Tor in diese neue Welt sein.”

Der Reverend wurde mit anhaltendem Applaus bedacht. Seine Rede verstärkte bei den Zuhörern das Bewusstsein, einer Nation anzugehören, die – allen Gefahren trotzend – einer glorreichen Zukunft entgegensah.

An diesem Tag ruhte die Arbeit. Man holte Tische und Bänke, Wein, Kuchen und Rosinenbrot. Und als es Abend wurde und die Sonne mit der scheinbar endlosen Prärie verschmolz, saßen sie singend an Feuern und brieten Rindersteaks.

Die Indianer waren nach ihrem ersten Schrecken wieder vorsichtig aus ihren Behausungen gekrochen. Langsam fanden sie Zutrauen, einige Mutige wagten sich sogar auf das mächtige Zauberkanu und befühlten es mit heiligem Schaudern. Nach und nach kamen sie alle auf das Schiff. Schließlich nahmen die neugierigen Indianer so überhand, dass sich der Kapitän nicht anders zu helfen wusste und lachend die Sirene mit lautem Hupen ertönen ließ. Im Nu war das Deck wieder leer.

David Hofer war nicht lange geblieben. Schon bald nach der Rede des Reverend machte er sich auf den Heimweg. Er ließ den Lärm, die Unruhe und Cuthberts dauernde Bevormundung hinter sich und lief die breite Hauptstraße entlang durch die verlassene Stadt. Die Stille hier tat ihm gut.

Neue und alte Häuser säumten die Straße, aber alle waren in Ordnung, mit weißer Farbe bestrichen und sauber gearbeitet. Links befand sich die Werkstatt des Büchsenmachers Hawken. Dave drückte seine Nase an das Fensterglas und blickte in das Innere der Werkstatt. Messer, Schraubenzieher und Feilen lagen im Halbdunkel auf einem niedrigen Tisch. An der Wand hingen Büchsen und Flinten. Eine Weile betrachtete er die kunstvoll verzierten Waffen mit sehnsüchtigem Blick, dann wandte er sich ab und lief rasch weiter.

Vor der St. Michaels Kirche – sie war erst vor wenigen Jahren hier errichtet worden – bog er rechts in eine schmale Gasse ein. Schon nach wenigen Schritten weitete sich der Weg, und Dave trat in einen geräumigen Hof. Bretter und Balken stapelten sich hier zu einer hohen Mauer. Ihr frischer Duft erfüllte den Hof. Dave sog ihn begierig ein. Rechts von ihm befanden sich der Pferdestall und die klobigen Wagen, auf denen die Hölzer von der Sägemühle zu den Baustellen transportiert wurden. Die Hinterseite des Hofes begrenzte Hastings Blackmores Haus, das mit dem Stall einen Winkel bildete. Das Haus war von perfekter Handwerkskunst, hatte ein Pultdach und sogar eine breite Gaube. Die Veranda zur offenen Westseite hin war mit fein geschnitzten Stützbalken versehen. Das Portal schmückte ein Holzrelief. Schon von weitem zeichnete das Haus seinen Erbauer als hervorragenden Zimmermann aus, wie man ihn wohl kein zweites Mal so weit im Westen fand.

Dave betrat das Haus nicht, sondern nahm seinen Weg durch den Stall, verließ ihn durch die Hintertür und gelangte so zur Rück-

seite von Blackmores Haus. Hier lag der Gemüsegarten, das umzäunte Gehege der Gänse und Hühner – und dahinter stand eine einfache, aber sauber gearbeitete Hütte. Dave trat in den einzigen Raum. Durch ein winziges Fenster fielen die Sonnenstrahlen schräg auf das karge Mobiliar: auf den gusseisernen Herd, den schmalen Tisch und die Bank dahinter – und auf die zwei Betten.

In einem der Betten lag Daves Mutter. Sie war nicht zugedeckt, sondern hatte sich nur niedergelegt, um etwas auszuruhen. Einst war sie eine hübsche Frau gewesen, doch jetzt zeichneten sie Kummer, Armut und Krankheit. Obwohl sie erst zweiunddreißig war, umgaben dunkle Ränder die Augen. Seit zwei Jahren quälte sie eine heimtückische Krankheit, die selbst Mr Finn, der Arzt, nicht erkennen konnte. Der Medizin waren hier im entlegenen Westen bittere Grenzen gesetzt.

Seine Mutter hieß Mary Hofer. Vor sechs Jahren war sie zusammen mit Heinrich Bennet in St. Louis eingetroffen – voller Sehnsüchte und Hoffnungen. Sie wollten heiraten, Kinder bekommen und hier ihre Zukunft aufbauen. Mary war bald schwanger geworden. Die Hochzeit war bereits angesetzt, als Heinrich Bennet nach einem Sturz vom Dach – er arbeitete für Blackmore – unerwartet starb. Als dann Dave zur Welt kam, war er ein uneheliches Kind und Mary eine sündige Frau, die plötzlich mittellos dastand. Die Bewohner von St. Louis lebten einen modernen christlichen Glauben. Vieles wurde von den starren europäischen Richtlinien nicht unbedingt übernommen, wenn aber etwas vom Glauben mit hinüber in die Neue Welt getragen wurde, dann war es das heilige Sakrament der Ehe, und außerehelicher Verkehr war hier wie dort noch immer eine Todsünde. Und ginge es nach Mrs Clara Gardner, stünde auf dieses Vergehen, das ihrer Meinung nach nur vom Teufel kommen konnte, der Kirchenbann. Also ließen die St. Louiser Mary Hofer – und auch Dave – ihr Verschulden deutlich spüren. Sie wurden zu keinen Gesellschaften eingeladen, und auch sonst mied man sie. Und wenn man mit ihnen verkehrte, tat man es in herablassender, strafender Art.

Mary litt sehr darunter. Aber auch Dave spürte die Abneigung. Er wusste nicht, weshalb er anders behandelt wurde als andere Kinder; er selbst sah keinen Unterschied, und die Mutter redete ihm ein, dass es keinen gab. Und doch musste etwas an ihm sein, was das Verhalten der Mitmenschen rechtfertigte. Cuthbert hatte zwar verschiedene Andeutungen gemacht, Dave war aber nicht schlau daraus geworden. Noch war er zu jung und unbewandert, um die Gesetze der Gesellschaft und das versteinerte Denken zu durchschauen. Nur eines wusste er: Sobald es ihm möglich sein würde, wollte er mit seiner Mutter weg von hier, weit weg, irgendwohin, wo man in Frieden und Freiheit leben konnte.

Nur einen gab es in der Stadt, der von Anfang an zu Mary und Dave stand: Mr Hastings Blackmore. Er baute die Hütte, gab ihnen kostenloses Feuerholz, Cuthberts ausgetragene Hosen für Dave, ab und zu einen viertel Laib Brot oder einen geräucherten Schinken, allerdings nur, wenn es Mrs Blackmore nicht bemerkte. Mr Blackmore war es auch, der bei Reverend Gardner vorsprach und erreichte, dass Mary gegen ein kleines Entgelt – mehr als ein Taschengeld war es nicht – die St. Michaels Kirche putzen durfte. Zwar fanden sich danach noch zwei reiche Haushalte, bei denen Mary putzte und Wäsche wusch, zum Leben langte es aber allemal nicht. Ohne die gelegentlichen Zubrote von Mr Blackmore wären Mary und Dave wohl schon längst verhungert. Mary wusste das nur zu gut und war Mr Blackmore deshalb sehr dankbar dafür.

Als Dave ins Zimmer trat, richtete sich Mary Hofer langsam auf ihrem Bett auf, zupfte ihr Leinenkleid zurecht, das farblos vom vielen Waschen war, und fuhr sich verlegen über das zu einem Dutt gebundene Haar. Sie lächelte mild. ‚Er sieht verwahrlost aus‘, dachte sie mit Bedauern. Sein Hemd war an den Ärmeln zu lang und schon mehrfach geflickt, die Hose speckig und abgewetzt, die nackten Füße aufgeschunden.

„Hast du das Schiff gesehen, Dave?”, fragte sie. Sanft strich ihre Hand über sein blondes Haar, das er vom Vater geerbt hatte. Als sie Daves Blick auf ihre rissigen, abgearbeiteten Hände bemerkte, verbarg sie sie rasch in einer Falte ihres Kleides.

„Ja, Mum”, antwortete Dave ohne besondere Begeisterung. „Mr Blackmore hat mich auf seine Schultern gesetzt, aber Cuthbert hat mich mitgenommen und wir sind den Fluss entlanggelaufen.” Nach einer Weile fragte er: „Kann dieses Schiff überall hinfahren, Mum?”

Mary Hofer schmunzelte. „Überall, wo es Flüsse gibt.”

„Kostet die Fahrt mit dem Schiff sehr viel Geld?”, fragte er weiter.

Sie sah ihn traurig an, denn sie wusste, worauf er anspielte. Der Traum seines Vaters war eine Farm weit im Westen gewesen, sie hatte ihrem Sohn manchmal davon erzählt. Dieser Traum lebte in Dave weiter.

„Mehr, als wir je besitzen werden”, sagte sie. Auch sie würde lieber heute als morgen aus dieser Stadt weggehen, aber es war unmöglich.

Als sie sich jetzt erhob und zum Tisch ging, fühlte sie wieder den Druck in ihrem Bauch. Es war kein stechender Schmerz, mehr ein unangenehmes Empfinden, als ob ein großer, schwerer Stein im Magen lag. Ihr war dann jedesmal übel und schwindelig. Leichte Linderung verschaffte sie sich mit sanftem Balsamtee. Manchmal aber war es so schlimm, dass ihr die Arbeit sehr schwer fiel; dann wieder waren die Symptome tagelang verschwunden. Bis jetzt hatte sie die Krankheit, was auch immer in ihrem Bauch heranwuchs, vor Dave verheimlichen können.

Sie schnitt eine Scheibe Brot ab und reichte sie Dave.

„Hast du keinen Hunger?”, fragte er.

„Ich habe schon gegessen”, log sie, wie so oft, wenn sie nicht wusste, was es am nächsten Tag auf den Tisch geben würde.

Die Zeit verging, und es kam, wie Reverend Al Gardner es vorhergesagt hatte: Hastings Blackmore hatte alle Hände voll zu tun. Er musste sogar zwei Männer einstellen, um die anfallende Arbeit bewältigen zu können. Der Strom Menschen, der vom Osten in die Stadt kam, schien unerschöpflich. Die meisten blieben, viele aber nutzten St. Louis nur als Zwischenstation auf ihrem langen Weg in den fernen Westen.

Der Zuwachs und der Bedarf an neuen Häusern machte Blackmore reich. Trotz seines Reichtums vergaß er aber die kleine Hütte hinter seinem Garten nicht. Die kommenden Jahre hatten Dave und seine Mutter so viel zu essen wie lange nicht mehr. Nur manchmal blieben die großzügigen Zuwendungen für zwei oder drei Tage aus. Dann hatte es wieder Streit mit Mrs Ashley Blackmore gegeben. Ihr war die fremde Frau in ihrer Nähe lange schon ein Dorn im Auge. Nicht nur, dass ihr Mann für sie eine Hütte baute – das duldete sie noch – nein, er trug auch fast täglich Essen zu ihr, und dann kam es vor, dass er stundenlang im Innern der Hütte verweilte.

Hastings Blackmore, der zupacken konnte wie ein Stier, war gegen die Anfeindungen seiner Frau hilflos wie ein Kind. Einen Mann niederzuboxen, davor hatte er keine Skrupel, aber gegen seine Frau anzukommen, hatte er nie geschafft. Er war ein sehr verständiger Mann und schrieb ihre gereizte Unzufriedenheit der Tatsache zu, dass Ashley keine Kinder mehr bekommen konnte. Vielleicht deshalb lehnte er sich nicht gegen sie auf. So wartete er jedesmal geduldig, bis sich das Gewitter verzog, um dann von neuem Mary und Dave mit dem Nötigsten zu versorgen.

Trotz ihrer schleichenden Krankheit versah Mary ihre Arbeit ordentlich und pünktlich. Niemand bemerkte, wie langsam, aber beständig die Energie ihres Lebens wich, wie der Wuchs in ihrem Bauch sie aushöhlte und aussaugte. Und dennoch fand die zierliche Frau Kraft, abends im dürftigen Schein der Öllampe Dave Lesen, Schreiben und Rechnen zu lehren. Zum Lesen nahm sie die Bibel oder alte Ausgaben der Frontier News, die Blackmore gelegentlich brachte. Für die Schule fehlte das Geld, aber ihr Sohn sollte einen anständigen Beruf erlernen können, sollte erfolgreich werden und nie den würgenden Arm des Hungers spüren.

Am 4. April 1822, einem verregneten, ungemütlichen Tag – Daves zehntem Geburtstag – kam Mr Blackmore in die Hütte und übergab Dave ein Buch. Es hieß Robinson Crusoe, und es war sein erstes eigenes Buch. Es habe Cuthbert gehört, sagte Mr Blackmore bitter, sein Sohn zeige aber weder am Lesen noch am Rechnen Interesse. An Mary gewandt fügte er seufzend hinzu: „Und die Arbeit ist ihm auch ein Gräuel. Ich weiß nicht, was aus dem Jungen werden soll.”

Dave dagegen versank förmlich in dem Buch und fieberte mit Robinson Crusoe mit. Sein Lesen war noch holprig und langsam, doch als er das Buch zu Ende gelesen hatte, begann er wieder von vorne.

Crusoe wurde zum Helden seiner Fantasie. Und wenn er nicht las, saß er irgendwo außerhalb der Stadt unter einem Baum, ließ sich vom nach Gras duftenden Präriewind das Gesicht streicheln, sah in die Ferne und träumte von einer anderen Welt. Einer Welt, die nur in seinem Kopf existierte und in der nur er bestimmte. Nicht Cuthbert, nicht der Reverend oder dessen Frau oder sonstwer sagte, was wann und wie zu tun sei, nein, nur er allein war Herr seiner Welt.

Einen Hauch dieser Welt vermittelten ihm die Fallensteller, die sich jedes Frühjahr hier in St. Louis sammelten. In großen Booten schifften sie sich auf dem Missouri ein oder zogen mit Mulikarawanen westwärts, um dann Monate oder gar Jahre in der Wildnis zu verbringen. Dave wusste nicht viel von diesen nomadisierenden Menschen. Mr Blackmore hatte nur einmal bemerkt, dass es besser sei, sich wegen ihrer Rauflust nicht mit ihnen anzulegen.

Aber auch in Mr Blackmore steckte jener Ur-Instinkt, der die Fallensteller hinaus trieb. Wenn es ihm die Zeit erlaubte, nahm er seine Kentucky-Büchse vom Haken und ritt in die Prärie. Manchmal blieb er Tage weg und kehrte dann mit einem Gabelbock oder einem Truthahn zurück.

Einmal durften auch Cuthbert und Dave mit. Sein kleines Herz pochte, als er den blühenden Teppich der Prärie erblickte, den Duft der Blumen und Gräser in sich aufnahm, den Wind in seinem Haar spürte und die riesigen Herden Büffel dahinziehen sah: eine Erfahrung, die er nie vergessen sollte.

Als er zurückkam, schwärmte er seiner Mutter vor und fragte sie, ob sie nicht hinausziehen könnten in die Prärie. Er könnte eine Hütte bauen, und für Wild würde er auch sorgen. Und Geld bräuchten sie dort keines, fügte er schnell hinzu, um eventuelle Einwände im Vornherein abzuwehren.

Mary Hofer schmunzelte. Dave hatte wahrlich selten Grund, sich so herzhaft zu erfreuen, deshalb wollte Mary seine Illusionen nicht mit einem Hammerschlag zerstören und sagte nur: „Das werden wir, Dave. Später werden wir das.”

Leider blieb es bei diesem einen Jagdausflug. So oft aber Dave die Blackmores besuchte, betrachtete er die Büchse, die in der Küche über der Essecke ihren Platz hatte und die ihn stets an das einzigartige Erlebnis erinnerte. Es war keine wertvolle Waffe, und sie war bei weitem nicht so elegant wie die Büchsen in Hawken‘s Werkstatt, aber für Dave war es das schönste Gewehr der Welt.

Später ritt er manchmal auf Bessie, Mr Blackmores gutmütiger Stute, in der näheren Umgebung aus, das Gewehr bekam er aber nie mit. Mr Blackmore wollte es niemandem geben.

Mit großer Befriedigung stellte Dave in jenen Tagen fest, dass sein Wachstum anscheinend erst jetzt begann. Zwar war er noch nicht ganz so groß wie Cuthbert, der Unterschied hatte sich aber deutlich verringert. Und auch die Muskeln begannen zu schwellen. Seine Mum bemerkte einmal, als er draußen vor der Hütte in einem Holztrog badete, er gleiche von Tag zu Tag mehr seinem Vater. Dave war sehr stolz darauf. Sie musste ihm jetzt viel von seinem Vater erzählen, den er nie kennengelernt hatte.

„Er war sehr groß”, sagte Mary und blickte versonnen in die Ferne, so, als sähe sie ihn wirklich vor sich. „Er war ein sehr gutmütiger Mann und ein geschickter Handwerker. Und er war immer sehr lieb und anständig zu mir.”

„Aber er hat doch etwas Böses getan.” Dave sah mit großen Augen zu seiner Mutter empor.

Mary hatte es ihrem Sohn eigentlich noch eine Zeit lang verheimlichen wollen, da er aber anscheinend schon das eine oder andere davon gehört hatte, wollte sie ihm die Wahrheit sagen. Lieber wollte sie es tun, als dass ein anderer es tat, der vielleicht Unschönes dazu-

dichtete. „Weißt du”, sagte sie und kniete sich neben ihm nieder, „Gott gab uns Gesetze, die wir Menschen befolgen müssen. Eines dieser Gesetze verlangt, dass ein Mann und eine Frau erst ein Kind haben dürfen, wenn sie miteinander verheiratet sind.”

„Und ihr wart nicht verheiratet, als ich geboren wurde? Warum nicht, Mum?”

„Weil dein Dad starb, bevor wir heiraten konnten.”

Dave sah lange vor sich ins Badewasser. Er überlegte. Schließlich fragte er: „Und deshalb seid ihr Sünder?”

Mary nickte. „Ja.”

„Das macht nichts”, sagte Dave gleichgültig. „Ich hab dich trotzdem lieb, Mum. Und Dad auch.”

Mary war froh, dass es ihr Sohn so gelassen aufnahm. Er war noch ein Kind und sah die Welt mit anderen Augen. Was ihr Sorgen machte, war, dass Dave wegen ihr zum Außenseiter abgestempelt wurde.

Wieder, wie schon so oft, versank sie in schweren Gedanken, wie die Zukunft wohl für ihn ausshen würde.

Dave dachte längst nicht mehr darüber nach, wer welche Sünde beging. So oder so, sie waren sein Dad und seine Mum. Das war ihm genug. „War Dad sehr stark?”, wollte Dave nun wissen.

„Ja, er war sehr stark.”

„So stark wie Mr Blackmore?”

„Gewiss”, sagte sie. Und nachdem sie sich umgesehen hatte, fügte sie kichernd hinzu: „Dein Vater war aber nicht so dick.”

Beide lachten herzhaft.

Es war das letzte Mal, dass Dave seine Mutter so lachen sah. Die Krankheit ließ sich nun nicht länger verbergen. Der Bauchdruck nahm zu, und Mary musste häufig erbrechen. Oft war Blut dabei. Als Folgeerscheinung verlor sie enorm an Gewicht, und ihre Haut wurde aschfahl.

Doktor Finn, den Mr Blackmore durch Dave holen ließ und bezahlte, war machtlos. Er gab ihr ein schmerzstillendes Mittel, mehr konnte er nicht tun.

Die Arbeit bei den zwei Familien musste Mary aufgeben, in der Kirche aber wollte sie unbedingt weiter arbeiten, wenn es ihr auch hart ankam. Gerade jetzt suchte sie die Nähe Gottes, der sie nie verlassen hatte, dessen war sie sich trotz ihres schweren Schicksals sicher. In der Hausarbeit wure sie von Dave unterstützt, der Holz hackte, Wasser holte und alles tat, um ihr das Leben etwas zu erleichtern. Mr Blackmore kam so oft wie möglich, und Weihnachten 1822 lud er Mary und Dave zu sich ins Haus ein. Mrs Blackmore war einverstanden und briet eine fette Gans, zu der sie weißen Wein servierte. Die Gans vertrug Mary nicht, ließ sich aber ein Glas Wein einschenken. Das sei der erste Wein, sagte sie, und wohl auch der letzte. Sie sagte es mit einem bekümmerten Blick auf ihren Jungen.

Als der Frühling kam, trat unerwartet Besserung ein. Mary hatte das Gefühl, als beseele neue Kraft ihren abgemagerten Körper. Sie nutzte jetzt mehr als früher die Zeit zu einem Spaziergang in der aufblühenden Natur – noch nie empfand sie sie so voller Wunder –, genoss die lauwarme Prärieluft und dankte ihrem Schöpfer. Schon aus diesem Grund wollte sie unbedingt in die Kirche.

Viele waren zum Gottesdienst erschienen; die meisten wussten von Mary Hofers Krankheit und sahen in ihr die gerechte Strafe für ihre begangene Tat, wenngleich jetzt der eine oder andere Mitleid mit ihr empfand.

Mary und Dave gingen die Reihen entlang und hofften, dass jemand rutschte und ihnen Platz bot. In der vordersten Reihe saß Mrs Clara Gardner, die Frau des Reverend. Ihr, die nur „die Sittenwächterin” genannt wurde, war es maßgeblich zuzuschreiben, wie die anderen Frauen Mary behandelten. Das Seltsame war, dass Mary ihr es nicht verübelte, wusste sie doch selbst, dass sie sich der Sünde schuldig gemacht hatte. Und als Frau eines Priesters hatte Mrs Gardner wohl auch die Pflicht, auf Sitte und Moral zu achten.

Neben Mrs Gardner war noch Platz frei, sie aber hob nur den Kopf und sah in kühler Abweisung weg.