Kitabı oku: «Beirut für wilde Mädchen»

Yazı tipi:

Chaza Charafeddine

BEIRUT FÜR WILDE MÄDCHEN

Aus dem Arabischen von Günther Orth

Zweiter Teil Original auf Deutsch

MIT EINEM NACHWORT

VON STEFAN WEIDNER


Für Lama, meine Schwester

»Er lief durch seine Erinnerungen

wie durch eine Ausstellung,

in der ihm nichts gehört.«

(Aus: Abbas Beydoun,

Zeit in großen Schlucken)

Inhalt

Prélude

Beirut 1970–75

Mademoiselle Najwa

Mein Vater

Der Katechismus

Häuser, die niemandem gehören

Islam versus Christentum

Fadia

Die jungen Leute 14. April 1975

Tyros — zurück ans Meer

Der vierte Umzug

»Millionen Chrysanthemen in Shayyah«

Khomeini — Ku alangu?

Firas, Nayla, Maya und Jihad

Marie-Rose und Aida

1982 — Die Invasion — »Der Personalausweis«

Liebe Mademoiselle Najwa

ZWEITER TEIL

Wäre ich ein Junge gewesen

Die Schweiz, der Schnee, Linda und ich

Deutschland. Schuld, Recht und das habe ich nicht so gemeint.

Die schönen Hauchlaute

Operation Sich-Niederlassen

DER UNBESTECHLICHE BLICK

Der Libanon und die literarischen Erinnerungen von Chaza Charafeddine

Biographisches

Prélude

Irgendwo in Afrika saß unter einem Schilfdach auf einem Holzstuhl ein hagerer Mann mit schwarzem Gesicht und dichtem weißem Haar. Auf seinem Schoß hatte er ein kleines Mädchen, das seine weißen Haare betrachtete und ihn fragte, wie alt er denn sei. »Alt, sehr alt«, antwortete der Mann und erzählte ihr die Geschichte von einem Mann, der die Geschichte eines anderen Mannes erzählt. Und dieser Mann in der Geschichte fand eines Tages beim Pflügen seines Feldes eine mit Rubinen besetzte Holzkiste, und die war voller Gold.

Und mit einem Mal näherte sich ihm ein Rudel Wölfe, und der Mann kämpfte sie alle nieder. Dann waren da plötzlich auch noch Schlangen, die er allesamt tötete. Und als sich mehrere Tiger mit gefletschten Zähnen auf ihn stürzten, wehrte er sie ab. Schließlich stellten sich ihm Stammeskrieger in den Weg, die er einen um den anderen zu Boden rang und tötete.

Das Mädchen hörte zu, den Blick auf die krausen weißen Haarkringel des Mannes gerichtet, auf seine faltendurchfurchte Stirn, auf seine Augen, die mal weit aufgingen, sich dann verengten und von Zeit zu Zeit ganz schlossen. Verzaubert von dem Haar, das aussah wie kleine silberne Ringe, stellte es sich vor, wie jener Bauer zuerst die Wölfe und die Schlangen besiegte, dann die Tiger und schließlich die Stammeskrieger. Und wie er die Schatzkiste unter den Arm nahm und sie zu seiner Frau brachte, die beiden sie dann gemeinsam öffneten und all die Schätze darin fanden.

Das Mädchen freute sich, malte mit dem Finger einen Kreis in die Luft und lächelte.

Das Mädchen ging nach Hause zu den Eltern, wo es Schelte bekam, weil es so lange weggeblieben war.

Doch schon am nächsten Tag wollte es ganz bestimmt wieder zu dem schwarzen Mann mit dem weißen Haar laufen, um erneut die Geschichte von dem Bauern zu hören, der die Schatzkiste in der Erde fand.

Zu Hause hatte die Mittagshitze alle in die Betten getrieben, nur die ältere Schwester spielte in ihrer beider Zimmer. Das Mädchen entdeckte eine Tüte Karamellbonbons und riss sie auf.

Hastig wickelten sie ein Bonbon nach dem nächsten aus, steckten sie sich in den Mund und traten auf den Balkon, um die Bonbonpapiere auf die Straße zu werfen.

Entzückt sahen sie zu, wie das goldglitzernde Papier durch die Luft flatterte. »Gebt uns auch welche!«, riefen die Kinder von der Straße herauf. Das Mädchen nahm die Packung und schüttete die wenigen noch übriggebliebenen Bonbons über den Kindern aus, die sich auf sie stürzten und schrien: »Mehr, gebt uns noch mehr!«

»Nichts da mit noch mehr!«, ertönte es hinter dem Rücken der beiden. Erneut gab es Schelte für das Mädchen, und es weinte. Tröstend nahm die Schwester es in die Arme und blickte um sich, als suchte sie nach einer Antwort, warum es die Kleine und nicht sie getroffen hatte.


In den Weiten Afrikas lebten nur wenige Menschen. Die sandigen Straßen waren fast immer wie leergefegt, und der Sand war so heiß, dass er einem die Füße verbrannte. Doch genau das gefiel dem Mädchen. Es dachte, wenn die Erde mir die Füße verbrennt, dann will sie ihre Hitze mit mir teilen und hat mich lieb.

Vorsichtig setzte das Mädchen einen Fuß nach dem anderen auf die Sandstraße. Hin und wieder blieb es stehen, um sicherzugehen, dass keiner ihm folgte. Es malte eine Kiste und Kringel in den Sand, blickte noch einmal zurück und vergaß. Dann rannte es zur Hütte des alten Mannes mit dem schwarzen Gesicht und dem weißen Haar. Der öffnete sogleich seine Arme für das Mädchen, und es spürte die Wärme seiner mächtigen Hände. Er saß wie immer auf einem Stuhl und platzierte das Mädchen auf seinen Schoß. Da lehnte es den Kopf gegen den Arm des Alten, und seine Augen tauchten ein in die weißen Haarkringel. Dort sah sie die Frau des Bauern, der dabei war, die Schatzkiste zu öffnen. Mit einem Mal ringelte sich vom Fenster eine Schlange heran. Die Schlange spritzte Gift und sagte zu der Frau, dass sie den Schatz wieder zurückbringen müsse. Der Bauer nahm daraufhin einen dicken Stock und wollte auf die Schlange einschlagen, aber augenblicklich war sie im Staub verschwunden.

Der alte Mann öffnete seine breiten hellen Handflächen, und das Mädchen betrachtete die schwarzen Linien darin. Der Mann fragte, was es da denn sehe: »Schwarze Schlangen«, antwortete das Mädchen. Der Mann lachte, den Mund weit aufgesperrt, und das Mädchen sah eine große Höhle mit rotem glänzendem Grund, der zitterte und bebte. Das Mädchen lachte, sperrte den Mund ebenfalls weit auf, deutete hinein und fragte den Mann, ob ihre Höhle genauso aussehe wie seine. Der Mann spitzte seine dicken Lippen, hob die Augenbrauen und sagte: »Nein, deine Höhle ist viel schöner als meine. Bei dir sind weiße Perlen darin, während es in meiner nur ein paar vergilbte Stümpfe gibt.«

Der Name des Mädchens kam durch die Lüfte geflogen; jemand rief es nach Hause. »Beeil dich«, sagte der Mann und hob das Mädchen von seinem Schoß. Es rannte über den heißen Sand, spürte die Hitze aber nicht. Es drehte sich nach dem Mann um, winkte ihm mit seiner kleinen Hand zu und rannte weiter bis zum Haus der Eltern. Flugs verschwand das Mädchen in sein Zimmer, versteckte sich unter der Bettdecke und flüsterte der Frau des Bauern ins Ohr, sie solle die Schatzkiste doch in den weißen Locken des Geschichtenerzählers verstecken.


Im Haus gab es jetzt ein neues Geschöpf, es war am Vortag aus dem Bauch der Mutter gekommen. Alle freuten sich. Das lange schwarze Haar der Mutter hing ihr über die Brust. Sie sah erschöpft aus, lächelte aber, glücklich über das neue Wesen, das in ein weißes Tuch gewickelt von Hand zu Hand gereicht wurde. Alle sangen. Das Mädchen saß bei seiner großen Schwester, die mit unstetem Blick auf die festlich gestimmte Runde schaute. Die kleinere Schwester war nicht im Bild zu sehen, vielleicht hatte sie sich unter Mutters Bettdecke versteckt. Das Mädchen fragte sich, weshalb sich denn alle so freuten. Etwa wegen des Winzlings in dem Tuch da? Das Mädchen blieb neben der großen Schwester sitzen, und die sagte: »Das ist unser neuer Bruder.«

Der Vater lachte, die Mutter lächelte, und die anderen sangen immerzu. Das Mädchen, immer noch neben der großen Schwester sitzend, dachte, dass es dem Mann mit dem weißen Haar und dem schwarzen Gesicht unbedingt von dem kleinen Bruder erzählen musste. Es wusste seinen Namen nicht, und als sie ihn hörte, fand sie ihn doof.

Das Mädchen rannte über den heißen Sand, die Sonne sengte ihm auf Rücken und Kopf. Es lief und lief und hörte nicht auf die Rufe der großen Schwester, es wollte nicht zurück nach Hause. Sein Ziel war die Strohhütte, wo die weißen Haare, das schwarze Gesicht und die warmen Arme waren. Dort angekommen, setzte es sich auf den Schoß des Mannes und lauschte in die Haarkringel hinein. Unterdes hatte es zu regnen begonnen, laut schlugen die Tropfen auf das Dach der Hütte. Wenn es hier einmal regnet, will es nicht mehr aufhören. Der Mann mit dem schwarzen Gesicht hielt inne und deutete lächelnd auf den Regen. Das Mädchen erwiderte sein Lächeln. Es erinnerte sich an den neuen Menschen bei sich zu Hause, erzählte aber dem alten Mann nichts davon. Der gab der Kleinen ein weiches grünes Tuch und sagte, sie solle es sich um die Hüften binden und nie abnehmen. Das Tuch würde sie vor böser Magie und den Schlangen beschützen.

Das Mädchen lief zurück über den nassen Sand, der warm und fest war. Es betrachtete seine Fußabdrücke und stellte sich vor, es würde von ihnen verfolgt werden. Zum ersten Mal sah das Mädchen seine eigenen Spuren. Sein Körper mit allem, was er hervorbrachte, schien sonst nicht sein Eigenes, sondern immer auch den anderen zu gehören. Die Fußspuren da waren jedoch wirklich seine.

An diesem Tag beschlossen die Eltern, das Mädchen und ihre ältere Schwester zur Großmutter nach Tyros zu schicken.


Die Frau im Flugzeug hatte ein grünes Gesicht. Die Schwester musste sich übergeben, die Frau schimpfte sie, worauf sie weinen musste. Alle stiegen aus dem Flugzeug aus und begaben sich in ein Café, um sich zu stärken. Die Schwester wollte nichts, aber das Mädchen aß und forderte ihre große Schwester auf, doch auch einen Happen zu sich zu nehmen. Aber die weinte noch immer. Warum ist sie nur so traurig, dachte das Mädchen. Das Mädchen war selber traurig, sagte es aber der Schwester nicht.


Irgendwo am Meer stand die Großmutter. Sie lächelte und schien sich über die Ankunft der Enkelinnen zu freuen. Das Mädchen mochte seine Großmutter sehr. Die Schwester spielte mit ihrer Puppe mit dem brustlangen schwarzen Haar und dem lächelnden Mund. Das Mädchen dachte an den Mann mit dem schwarzen Gesicht, der ihm noch immer des Nachts im Traum erschien und Geschichten erzählte. Die erzählte es wiederum seiner blondhaarigen Puppe weiter, die auf dem Tischchen neben dem Bett thronte. Das Mädchen ging nicht gern zur Schule, aber die große Schwester zerrte es an der Hand: »Komm mit, sonst ärgert sich unsere Mutter.« Sie ging mit, aber nicht wegen der Mutter dort in der afrikanischen Ferne, sondern ihrer traurigen Schwester zuliebe.

Niemand in der Schule hatte je von dem schwarzen Mann gehört. Der Nonne wuchsen Haare am Kinn, und das Gesicht der Lehrerin war wie aus Blei. Die Schwester lernte emsig, das Mädchen lernte überhaupt nicht. Es beobachtete die Schwester und fragte sich immerzu, warum sie bloß so fleißig war.

Das schwarze Haar der Schwester war mittlerweile so lang wie das ihrer Puppe. Sie war eine Schönheit. Das Mädchen dagegen bekam Spitznamen, die ihre Pfunde aufs Korn nahmen, und es war darüber sehr unglücklich. Was konnte es schon tun? Es liebte nun mal Süßigkeiten und verschlang so viele, dass es schien, als suchte es darin etwas, das ihm verloren gegangen war. Es ernährte sich von Süßem, vielleicht um sicherzugehen, dass sein Körper ihm nicht abhandenkomme. Der mit Süßem angefüllte Körper war seiner.

Die Großmutter verwöhnte die Kleine. Alle liebten sie und überhäuften sie mit Küssen. »Man könnte die Kleine ungesalzen auffressen!«, sagten sie. Das Mädchen hasste die Küsserei, besonders die von Großmutters unersättlichen Freundinnen, die ihm ständig ihre Lippen auf die Wange pressten. Es reichte schon, dass es die Stimme einer von ihnen hörte, schon musste es an nasse Küsse und Nasen denken, die ihm den Geruch aus dem Gesicht saugten. Das Mädchen verstand einfach nicht, warum sie es auffressen wollten.

Sie fuhren mit dem Auto am Meeresufer entlang, die Luft wehte dem Mädchen über das Gesicht und durch die Haare. Es war heiter und vergnügt. Es nahm die goldenen Ohrringe ab, die man ihm vor einigen Tagen in die Ohren gestochen hatte. Sie hatten die Form von Weinblättern und waren angeblich aus dem Irak. Außerdem hatte man ihm einen weiß emaillierten Armreif übergestreift. Das Mädchen warf die Ohrringe aus dem Autofenster und blickte zur Großmutter, dann zum Großvater, dann zur Schwester. Keiner hatte mitbekommen, dass es den teuren Schmuck weggeworfen hatte.


Das Meer war so blau wie der Himmel. Die Eltern kamen zurück aus Afrika und hatten zwei Kinder dabei, die ihre Geschwister sein sollten. Ja, vielleicht waren sie das, die jüngste Schwester und der kleine Bruder. Das Mädchen und die große Schwester mussten in eine neue Wohnung umziehen. »Das ist unser neues Zuhause. Und das ist unsere Mutter, sie ist wieder da!«, sagte die Schwester. Mutter und Vater umarmten einander in ihrem neuen Zuhause. Sie hörten Musik im Nebenzimmer und lachten. Das Mädchen träumte in seinem Bett von Geistern, die, so hatte es gehört, in einem verlassenen Gebäude ganz in der Nähe hausten. In der Dunkelheit sah es die Augen einer grünen Djinnfrau, über deren Ohren zwei glänzende Zöpfe herabbaumelten. Von diesem Traum wurde das Mädchen mehrfach heimgesucht, und es musste ihn dem Mann mit dem schwarzen Gesicht und den weißen Haaren erzählen. Aber er konnte das Mädchen nicht hören, denn es hatte das grüne Tuch verloren.


Das Mädchen liebte es, einzutauchen ins salzige Meereswasser und sich die Haut von der Sonne verbrennen zu lassen. Es machte keinen Unterschied zwischen Wasser und Luft. Wenn es im salzigen Wasser war, glaubte es, durch die Luft zu fliegen. Wenn ihm langweilig wurde, rannte es über den heißen Sand und genoss es, wie der seine Haut verbrannte. Dann warf es sich mit dem ganzen Körper auf den Sand, blickte lange in die Sonne und bat, sie möge ihm die Wangen verbrennen. Es nahm eine Handvoll heißen Sand und ließ ihn durch die Finger auf seinen Körper rieseln. Es versenkte sich in den Sand, seine Oberarme wurden schon ganz rot. Sie wiederholte das Spiel wieder und wieder. Alle ringsum waren glücklich über das Wasser und die klebrige Luft. Als das Mädchen hungrig wurde, erinnerte es sich an zu Hause. Wären da der Hunger und die Angst vor der Dunkelheit nicht, würde es am liebsten für immer am Strand bleiben. Meer, Wellen, heiße Sonne. Den schwarzen Mann schien es nie gegeben zu haben. Und niemand hier rief das Mädchen nach Hause.

Beirut 1970–1975

Noch bevor es richtig hell ist, stehen die vier Geschwister auf dem Trottoir vor ihrem Haus und warten auf Monsieur Halim, den Fahrer mit seinem rot-weiß gestreiften Schulbus, der sie zur Notre-Dame-du-Liban-Schule bringen soll. Er kurvt durch die Nebenstraßen des Stadtteils Shayyah und sammelt andere Kinder ein, die ebenfalls auf dem Gehsteig warten. Schwerfällig steigen die Schüler ein und lassen sich auf einen freien Platz fallen, ohne Monsieur Halim auch nur einmal dankbar oder freundlich zuzunicken. Das Geruckel des Busses und die morgendliche Stille machen mich und meine Geschwister schläfrig. Von Zeit zu Zeit gucke ich aus dem Fenster, aber da ist nichts als graublauer Himmel. Streckenweise sind nicht einmal Autos, Gebäude, Bäume zu sehen. Die Straßenbeleuchtung brennt noch.

Als es heller wird, kommen wir in Ashrafiye vor dem riesigen Schulgebäude an. Ich steige aus dem Bus, stelle meine Tasche ab, setze mich trotz Kälte erst einmal auf die Treppe am Schuleingang und warte darauf, dass wir in die Klassen gerufen werden. Dabei beobachte ich Fadia, die wie jeden Tag Zwiesprache mit einer weißen Statue auf dem hellen Fels vor der Schulkapelle gegenüber hält.

Mit gefalteten Händen steht sie vor der Skulptur, hebt und senkt abwechselnd den Kopf, als würde sie eine Geschichte oder ein Erlebnis erzählen. Dann deutet sie auf mehrere Stellen ihres Körpers und beendet das Gespräch, wobei sie die Füße der Statue berührt. Schließlich führt sie die Hand, mit der sie die Berührung vollzogen hat, an den Mund.

Mir scheint, als schlucke sie etwas hinunter, das aus der Statue hervorgekommen ist. Danach betritt sie gesenkten Kopfs die Kapelle.

Eines Tages lief ich Fadia hinterher. Die Dunkelheit in der Kapelle und die weihrauchgeschwängerte Stille bemächtigten sich meiner Sinne. Zunächst war kaum etwas zu erkennen, nie zuvor hatte ich eine so vollkommene Geräuschlosigkeit erlebt. Ich lief durch die Bankreihen. An den Wänden zu beiden Seiten hingen zahllose Bilder von Frauen, Greisen und Kindern, die um irgendetwas bittend die Hände hoben. Manche hoben sie in Richtung des Hauptes eines alten Mannes mit weißem Rauschebart, der im Himmel zu hängen schien. Einer hatte ein Buch unter der Achsel, ein anderer umarmte ein Lamm, um sie herum kreisten weiße Flügelwesen. Ihre Körper waren die von Kindern, aber ihre Gesichter die von alten Menschen. Ich konnte nicht erraten, ob es gute oder böse Wesen waren. Die Stille war erdrückend, aber die Farben der Bilder strahlten Wärme aus. In einer Ecke erblickte ich das buntbemalte Standbild einer Frau, die ein Kind auf den Armen trägt. Um sie herum brannten kleine Kerzen.

Ich suchte Fadia und fand sie unter dem Bildnis eines Mannes mit blauen Augen und rosa Lippen knien, der nach oben blickte — wohin, gab das Bild nicht preis. Der Mann hatte langes blondes Haar, das im blauen Hintergrund des Gemäldes — offenbar der Himmel — auslief. Wegen der Farbigkeit des Bildes fragte ich mich, ob das wohl ein wahrhaftiges Abbild von Jesus Christus war.

Als Fadia vor dem Altar stand, setzte ich mich hinter sie auf eine Holzbank. Ich schloss die Augen und hörte meine Klassenkameradin unverständliche Gebete murmeln. Von Zeit zu Zeit öffnete ich verstohlen ein Auge, weil ich unter keinen Umständen etwas verpassen wollte. Aber ich sah nur den Weihrauch aufsteigen und sich im ganzen Raum ausbreiten. Der scharfe Geruch stieg mir zu Kopf.

Unversehens gerieten die Gestalten um mich herum in Bewegung, als wollten sie das weiterführen, was sie getan hatten, bevor sie auf Gemälden verewigt wurden. Sie begannen, miteinander zu sprechen; es war, als führten sie eine Diskussion. Währenddessen entglitt das kleine Schaf den Händen des bärtigen, schäbig gekleideten Alten und suchte blökend nach Gras. Halbnackte Kinder tollten umher, Gelehrte lasen in Büchern, Geigen erzitterten, Hymnen erklangen, die Himmel taten sich auf … und Frauen stießen Freudentriller aus, Vögelchen flatterten durch die Luft, es herrschte solch ein Lärm und Gewimmel um mich herum, dass ich die Augen nun wirklich öffnen musste. Fadia kam in ihrer gestrengen Art auf mich zu, den Zeigefinger nach oben, in Richtung des Lärms gerichtet: »Die Glocken läuten«, sagte sie.

Es war zehn vor acht — höchste Zeit, ins Klassenzimmer zu gehen.

Ich folgte Fadia. Wieder blieb sie vor der weißen Jesusstatue stehen und deutete auf dieselben Stellen an ihrem Körper wie zuvor, um sich dann schnell zu entfernen. Ich blieb vor der Statue stehen und sah zu ihr auf, als würde ich sie um Erlaubnis für etwas bitten. Die marmornen Augen des Heilands blickten nach unten, seine Lippen waren geschlossen und seine Handflächen waren zum Betrachter hin ausgestreckt, als würde er sagen: Komm herauf zu mir! Ich wusste nicht, was tun. Zaghaft, aus Furcht, von jemandem ertappt zu werden, berührte ich nun meinerseits seine weißen Füße. Die Zehen waren glatt und kalt, und es schien mir überhaupt nicht so, als könne etwas aus der Statue hervorkommen, das sich dann herunterschlucken ließe. Ich küsste allerdings nicht die Hand, mit der ich die Statue berührt hatte, sondern eilte ins Klassenzimmer. Mademoiselle Najwa sollte ja nicht mitbekommen, dass ich spät dran war.

Mademoiselle Najwa

Die Laune von Mademoiselle Najwa, unserer Klassenlehrerin, bei der wir Französisch hatten, war schwer einzuschätzen. Immer schien sie kurz davor, uns anzuschreien. Als zu Beginn des Schuljahres der Amtsarzt kam, um mit uns einen Sehtest durchzuführen, geschah etwas, das Mademoiselle gegen mich aufbrachte. Der Arzt hatte eine weiße Tafel bei sich, auf der in Schwarz die Buchstaben des lateinischen Alphabets in unterschiedlicher Größe standen. Als ich an der Reihe war, las ich sie nacheinander vor, doch beim Buchstaben Q angelangt, schämte ich mich, ihn vor dem Arzt auszusprechen. Denn das »Q« wird im Französischen genauso ausgesprochen wie das Wort cul, und ein paar Tage zuvor hatte ich von Faten El-Zein im Bus erfahren, dass dieses Wort den menschlichen Hintern bezeichnet. Als der Arzt nicht lockerließ und mich aufforderte, den Buchstaben auszusprechen, las ich stattdessen »qö« (was wiederum so klang wie das französische queue, also »Schwanz«). Daraufhin zerrte mich Mademoiselle Najwa aus dem Untersuchungsraum und schimpfte mich im Korridor mit bebendem Zeigefinger, ich sei eine stinkfaule Schülerin!

Am folgenden Tag kam sie ebenfalls mit einer Alphabettafel in die Klasse und trichterte uns ein: Q, Q, Q, Q (was klang wie cul, cul, cul), bis ihr weißer Schaum aus den Mundwinkeln tropfte. Ich sah, wie ein paar Spritzer auf den Wangen einer Schülerin in den vorderen Reihen landeten. Dann hieß sie mich an meinem Pult aufstehen und das französische Q mehrmals laut vor der Klasse aussprechen. Hitze stieg in mir hoch, breitete sich über meine Brust, meinen Kopf, meine Ohren und meine Zunge bis in meine Wangen aus, während ich tat wie geheißen und es peinlich vermied, zu meiner Mitschülerin Faten zu blicken, die mir das ganze Unglück eingebrockt hatte.

Und als wäre der Strafe noch nicht genug, hielt mich Mademoiselle Najwa beim Verlassen des Klassenzimmers zurück und gab mir einen Brief mit, den ich bitteschön meinem Vater vorlegen solle.

Mein Vater begab sich am folgenden Tag in die Schule, allerdings bekam ich ihn nicht zu Gesicht, und die Lehrerin erwähnte mir gegenüber auch nicht, dass er da gewesen war. Erst als ich nach Hause kam, erfuhr ich davon. Seine Bestrafung hinterließ Striemen auf meinem Schenkel, und obendrein erhielt ich eine volle Woche Fernsehverbot. Zwar sagte mein Vater nichts dazu, dass ich schon nach zwei Tagen wieder fernsah, aber ich war von nun an darauf bedacht, ja nicht mehr Mademoiselle Najwas Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Immer wenn ich sie sah, blitzte vor meinem inneren Auge das Wort cul auf.

Es verging nicht viel Zeit, bis sie mir einen weiteren Brief für den Vater mitgab, den ich ihm diesmal aber nicht aushändigte. Und als Mademoiselle Nawja mich zwei Tage später fragte, ob mein Vater den Brief denn auch bekommen hätte, behauptete ich, er habe überraschend verreisen müssen und könne deshalb nicht kommen. Von da an gab sie mir einen Brief nach dem anderen mit, und immer wieder fielen mir Gründe und Ausreden ein, weshalb mein Vater nicht kommen konnte: »Ganz sicher kommt er nächste Woche«, »Er hat sich das Bein gebrochen«, »Sein Auto ist kaputt«, »Meine Mutter hat ein Kind bekommen«, »Mein Großvater ist gestorben« und so weiter.

Als ich Faten eines Tages von all den unterschlagenen Briefen berichtete, warnte sie mich. Was denn wäre, wenn Mademoiselle Najwa auf die Idee käme, bei meinem Vater anzurufen, um ihn zu fragen, ob er die Briefe bekommen habe. Wir müssen eine Lösung finden, meinte sie, und schlug vor, die Briefe zu öffnen und ihren Inhalt zu verändern und sie erst dann meinem Vater zu übergeben.

Faten war viel erfahrener als ich. Hatte sie nicht schon einmal de Gaulle persönlich die Hand geschüttelt? Das hatte sie mir erzählt, als die Obernonne der Schule, Mère Marie Madeleine, uns vor dem Betreten der Klassenräume voller Trauer und Schmerz die Nachricht seines Todes überbrachte. Alle sprachen damals von de Gaulle, und mir schien, er sei nicht nur der Präsident Frankreichs, sondern auch des Libanons und somit auch der Präsident aller Nonnen und eigentlich von uns allen, und folglich war es für uns höchste Pflicht, um ihn zu trauern.

Beim Murmelspiel im Sandkasten hatte Faten mir erzählt, dass sie de Gaulle die Hand gegeben habe, als er einmal aus irgendeinem wichtigen Anlass unsere Schule besucht hatte. Er habe sie nach dem Handschlag sogar mit freundlichen Worten in die Wange gekniffen. Ich bedauerte, ihn damals nicht gesehen zu haben. Und auch, dass Faten immer mehr Glück hatte als ich, obgleich ich der Überzeugung war, dass der Verstorbene ein Freund meines Großvaters gewesen war. Der war nämlich Politiker und hatte viele Freunde, ganz im Gegensatz zu Fatens Opa, der immer nur in seinem Dorf hockte.

Jedenfalls öffneten wir den letzten Brief, verstanden aber beide nicht, was da geschrieben stand.

Nur der hocharabische Ausdruck farigh as-sabr (»mit der Geduld am Ende«) machte uns stutzig. Wir wussten, das farigh »leer« bedeutet, das hatten wir erst wenige Tage zuvor gelernt, aber in Verbindung mit dem Wort sabr, das sowohl für »Geduld« als auch für »Kaktusfeigen« stehen kann, ergab es für uns keinen rechten Sinn.

Wir waren ratlos. Wie sollten wir einen Brief inhaltlich abändern, dessen Bedeutung uns gar nicht klar war? So beschlossen wir, selbst einen Brief zu verfassen, und Faten schlug vor, ihren großen Bruder Fadi, der auf die Frères-Schule ging, darum zu bitten, einen solchen zu schreiben, damit wir nicht Gefahr liefen, durch unsere Handschrift aufzufliegen. Am nächsten Tag kam Faten mit einem von ihrem Bruder verfassten Brief, in dem in etwa stand, mein Vater solle mir doch bitte fünf Lira für eine Klassenfahrt ins Yasua-al-Malik-Kloster geben. Fadi ließ mir mitteilen, ich solle ihm von den fünf Lira etwas abgeben, falls mein Vater das Geld rausrückte.

Aber bevor ich den Brief zu Hause abgab, wollte ich erst einmal vorfühlen und sagte daher zu meiner Mutter, dass alle Schülerinnen meiner Klasse in der kommenden Woche fünf Lira mitbringen müssten, weil wir eine Klassenfahrt nach Yasua al-Malik machten. Verwundert sah meine Mutter mich an und bemerkte, dass wir doch erst im letzten Monat dort gewesen seien. »Wieso veranstalten die bei euch jeden zweiten Tag einen Ausflug?«, meinte sie und ließ mich dieses Mal nicht teilnehmen. Ich musste mir also etwas anderes einfallen lassen und ich beschloss, den Brief doch nicht meinem Vater zu übergeben und stattdessen weiterhin Mademoiselle Najwa anzulügen.

Als ich Mademoiselle Najwa am nächsten Morgen in die Schule kommen sah, tat ich rasch so, als würde ich etwas lesen, damit sie ja nicht zu mir käme und wieder mit den Briefen anfing. Aber die Frau Lehrerin interessierte sich nicht für meine vertiefte Lektüre und fragte mich unvermittelt, ob denn mein Vater noch immer nicht zurück sei von seiner Reise. Ich sagte, nein, das ist er nicht. Ob ich ihm den letzten Brief gegeben hätte? Ja, das habe ich, log ich. Und, kommt er bald in die Sprechstunde? Momentan ist er sehr beschäftigt, war meine Antwort. »Na gut!«, sagte sie mit spitzen Lippen und fügte dann mit weit offenem Mund hinzu, sodass ich das Weiße auf ihrer Zunge sehen konnte: »Lies nur schön weiter. Wir werden ja sehen, ob dir das bei der Abschlussklausur etwas nützt!« Und damit gab sie mir einen weißen Umschlag mit dem Hinweis, dass dies jetzt der letzte Brief sei. Als ich ihn zusammen mit Faten öffnete, lasen wir: »Ich erwarte dich am Donnerstag um 17 Uhr im Arlequin. Najwa.« Faten und ich wussten, dass das Arlequin ein Café war, aber wir begriffen nicht, warum sie ihn ausgerechnet dort treffen wollte. Es hatte noch nie eine Klassenfahrt dorthin gegeben. Faten meinte, diesmal würde die Sache bestimmt auffliegen. Denn was wäre, wenn Mademoiselle Najwa dort auf meinen Vater wartete und er nicht käme?

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