Kitabı oku: «Unterwegs geboren», sayfa 3

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ZWISCHENLAGER PRACHOWO

Von Kilia aus sollte die Fahrt die Donau aufwärts in den bulgarisch-jugoslawischen Grenzhafen Prachowo gehen. Dort war von der Umsiedlungskommission eine Zeltstadt aufgebaut worden. Es war das kleinere Lager und befand sich noch vor dem ›Eisernen Tor‹, dieser gefährlichen engen Schiffspassage.

Überall flatterten Deutschlandfahnen, am Aufgang hing ein Plakat mit der Aufschrift: ›Großdeutschland grüßt Euch!‹

Nun ging die Reise mit einem weißen Donauschiff weiter in Richtung Deutschland. Auf diesem großen Dampfer zu fahren, war ein völlig neues Erlebnis für viele.

Da es schon spät am Abend war, bis alle eingestiegen waren, suchten sich die meisten gleich einen Schlafplatz. Ein sehr anstrengender Tag lag hinter ihnen und die Müdigkeit überwältigte die Umsiedler. Jede Ecke auf dem Schiff war als Liegestätte oder Nachtlager vorbereitet und mit Matratzen und Strohsäcken ausgelegt. Auch hier wurden die schwangeren Frauen bevorzugt behandelt und erhielten einen guten Platz. Viele dachten sicher an ihre warmen und weichen Betten. Die kleinen Kinder quengelten und konnten nicht verstehen, warum sie nicht nach Hause in ihre vertrauten Zimmer durften, während die älteren Kinder voller Entdeckungslust das Schiff erkundeten.

Am nächsten Tag gab es auf dieser Strecke viel Neues zu sehen. Hin und wieder legten die Schiffe an und es dauerte lange, bis sie wieder weiterfuhren. Die Familien saßen zusammen. Einige Frauen hatten extra für die lange Reise eine süße Moccacreme zubereitet und in Dosen gefüllt, die sie nun mit heißem Wasser verdünnt tranken.

Ein herrlicher Kaffeeduft breitete sich aus. Fast so wie zu Hause, ist Alma O. in Erinnerung geblieben.

Interessiert betrachteten alle die vorbeiziehende Landschaft. So einen breiten Fluss mit den vielen großen Fischen hatten die wenigsten bislang gesehen. Die meisten hingen ihren Gedanken nach und dachten an ihr entferntes Zuhause.

Viele Donauschwaben waren einst auf den legendären ›Ulmer Schachteln‹ die Donau abwärts in diese damals noch unbekannte Welt ausgewandert. Hatten gelitten und gestritten, viele Tränen vergossen und sich aufgeopfert für eine bessere Zukunft. Es bestanden enge verwandtschaftliche Verknüpfungen zwischen der Zarenfamilie in Russland und dem Haus Württemberg in Stuttgart. In Deutschland herrschte damals eine große Hungersnot. Nicht nur deshalb, sondern auch wegen ihres Fleißes und der großen Zuverlässigkeit suchte der Zar dann in Deutschland, vor allem in Süddeutschland, Kolonisten. Sein Onkel, König Friedrich aus Württemberg (1754–1816), hatte notgedrungen die Erlaubnis zur Anwerbung gegeben. Es wurden viele Werber ausgeschickt, um tüchtige Bauern und Handwerker anzuwerben. Sie sollten im dünn besiedelten Bessarabien heimisch werden.

Und nun, nach fünf Generationen, ging es wieder zurück nach Deutschland! Sie mussten Hab und Gut einfach zurücklassen und wegziehen. Es war nicht zu fassen! Je weiter sie sich entfernten, umso mehr schmerzte sie der Verlust.

Die Verwandten saßen zusammen, viel sprachen sie nicht.

Anna ging es nicht gut. Sie war von der holprigen Fahrt nach Kilia gestresst und litt auf dem schwankenden Schiff. Ihre Mutter und die Geschwister trösteten und umsorgten sie. »Vertraue auf Gott, er wird es richten!«

Annas Mutter, Lydia Hermann, geb. Bantel, hatte in Gnadental oft Fremde bewirtet, wenn sie durch den Ort fuhren und einkehren wollten. Gaststätten gab es ja in den Dörfern nicht. Im weiteren Umkreis war dann schnell bekannt geworden, dass es bei Hermanns immer etwas zu essen und zu trinken gab. Wer würde jetzt die Fremden und Durchreisenden bewirten? An den guten Wein im Keller dachte sie, an die vielen Vorräte, die sie nicht mitnehmen konnte. Und die 22 Kühe im Stall – wer würde sie melken?

So hingen alle ihren Gedanken nach und wären nach dieser anstrengenden Nacht allzu gerne wieder zurück in ihre Häuser gefahren.

Als dann eine halbe Stunde vor Ankunft des Schiffes im stillen Lager die Alarmglocke ertönte, wurde es überall schnell lebendig. Die Männer vom Arbeitsdienst, die Sanitäter mit Krankenwagen, die Pfleger und Helferinnen vom Roten Kreuz waren da. Schwabenmädchen aus dem Banat zogen singend mit der Lagerkapelle zum Landeplatz. Dichtgedrängt standen die Frauen, Kinder, Halbwüchsige und Alte an Bord der großen weißen Schiffe, die rauschend näher kamen. Im Licht der Scheinwerfer schauten sie ihnen entgegen; es war ein ergreifender Augenblick.

Die Klänge der Lagerkapelle mischten sich in das Rauschen und Krachen der anlegenden Dampfer. Und dann nach einer unheimlichen, gespannten Stille, begrüßte der Lagerleiter vom Steg aus die Ankommenden.

Vorsichtig, ja, fast zaghaft kamen die ersten über den Landungssteg ans Ufer. Alle hatten eine sichtbar um den Hals gehängte Erkennungsmarke – ihr Pass für Deutschland. Die Mütter hatten ihr Jüngstes in buntgestreifte Tragetücher an den Leib gewickelt. In ihren Händen trugen sie übervolle, große Basttaschen. Die vielen Kinder drängten sich eng an sie, jedes von ihnen, selbst die Kleinen, schleppten ein Bündel. Am großen Anlegeplatz standen dann die einzelnen Familien dicht beisammen. Kinder wurden beaufsichtigt und Körbe wurden gezählt.

Das Lager Prahowo, wo zuerst meine Mutter und später dann auch mein Vater Zwischenstation machten, hatte eine Flächenausdehnung von 5 Hektar. 34 Zelte, dazu die notwendigen Verwaltungs- und Lagerbaracken, Funkturm, Küchenhallen und Waschräume standen dort bereit. Eine Bahnrampe wurde zur Abwicklung für den Transport der Umsiedler und ihres Gepäcks errichtet.

Viele alte Männer hatten hohe Pelzmützen und einen bis zum Boden reichenden zottigen Schafspelz an. Die Füße steckten in hohen Stiefeln. Sanitäter und Rotkreuzschwestern bemühten sich um die Alten und Gebrechlichen. Mit aufmunternden Worten wurden sie in die bereitstehenden Krankenwagen gehoben und ins Lager gefahren. Hinter den abfahrenden Sanitätsfahrzeugen stellten sich die Ankommenden in Reihen auf, und langsam bewegte sich dieser Zug dem Lager zu.

Viele deutsche Fahnen wehten auf hohen Masten, so fühlten sie sich geschützt und fast schon in Deutschland. Die Alten fragten immer wieder: »Sen mer scho in Deitschland?«

Im großen Lagerzelt ging alles schnell und reibungslos weiter. Der Zeltaufseher und seine Helferinnen wiesen ihnen die auf dem Boden liegenden Strohsäcke zu, immer familienweise eng einer neben dem anderen. Auf dem langen Tisch in der Mitte des Zeltes standen Tee, Milch und Brot zur Stärkung bereit.

Als Erstes wurden die müden Kinder für die Nacht versorgt. Dicht aneinander geschmiegt auf den Strohsäcken und unter warmen Decken schliefen sie schnell ein.

Unter diesen Ankommenden war auch meine Mutter. Sie war bestimmt erschöpft von der langen Reise. Ihr Kind wollte sie sicher nicht in diesem Lager gebären. Sie hoffte, dass es in Deutschland auf die Welt käme. Erzählt hat sie mir sehr wenig von diesem Lager. Ich habe nur an ihrer Reaktion gemerkt, dass es ihr dort nicht gut ging. Eine dumpfe Vorahnung all der kommenden belas­tenden Ereignisse hatte sie von Anfang an bedrückt.

Sie besaß die Fähigkeit, viele Dinge vorauszuahnen; auf ihren siebten Sinn konnte sie sich immer verlassen.

Nun machte sie sich große Sorgen. ›Hoffentlich lassen die Russen die Männer ausreisen!‹, bat sie in Gedanken und fragte sich: ›Kommt die Familie wieder zusammen?‹, und auch: ›Nehmen die Russen dem Robert die Nähmaschine weg?‹ Es war schließlich ihre geliebte Singer-Nähmaschine, extra aus Deutschland importiert. Zu Hause in Gnadental hatte sie geholfen, sie gut zu verpacken, sodass der weite Transport ihr nicht schaden würde.

Und sie, so denke ich mir, dachte sicher auch oft an die mit großem Geschick gefertigte Aussteuer, an all die gestickten Decken, die Babyausstattung, von der sie nur einen kleinen Teil mitnehmen konnte. Vom Schreiner nach eigenen Wünschen gefertigte Möbel in der guten Stube, im Schlafzimmer und in der Küche, der neu fertig gestellte Pferdestall im Hof.

Knapp zwei Jahre war sie verheiratet und seit etwa einem Jahr auf dem eigenen Hof. Ihr Schwiegervater hatte sich sehr darum bemüht, seinem ältesten Sohn eine Hofstelle zu besorgen, was nach den rumänischen Bestimmungen nicht einfach war. Ein kinderloses altes Ehepaar in der Nachbarschaft wollte aufs Altenteil gehen und suchte einen tüchtigen Bauern. So kam es, dass sie den Hof übernehmen konnten, allerdings mit der Verpflichtung, das in die Jahre gekommene Paar zu versorgen. Unter rumänischer Verwaltung war es ein schwieriges Unterfangen, wenn ein Jungbauer einen eigenen Hof bewirtschaften wollte. Land durfte er nicht kaufen, das war verboten. Land von einem anderen Bauern pachten und auf die Hälfte säen, das heißt die Ernte wurde hälftig geteilt, oder Land erben waren die Alternativen. Sie hatte 10 Hektar gutes Ackerland, zwei Milchkühe und einige Schafe und Hühner mit in die Ehe gebracht. Ihrem Robert wurden weitere fünf Hektar Land überschrieben. 15 Hektar säte er zur Hälfte … Es war alles noch im Aufbau und am Beginn. Dann war da noch das Land seines Vaters, auf dem er auch mithalf. Ohne Hilfskräfte hätte das keiner geschafft, er auch nicht.

Über die Ausstattung meiner Mutter weiß ich kaum etwas. Ob sie auch Basttaschen dabeihatte wie die meis­ten Frauen oder handgewebte bunte Taschen oder ein Holzköfferchen? Das Tragetuch war jedenfalls dabei, in dem trug sie mich später. Was hatte sie alles mitgenommen? Das Packen war ihr sicher schwer gefallen, denn so eine lange Reise hatte sie noch nie gemacht. Ein Besuch mit der Kutsche bei ihren beiden älteren Brüdern Immanuel und Reinhold, die in Annowka etwa 50 Kilometer entfernt gesiedelt hatten, war bis dahin ihr größter Ausflug gewesen. Mit dem Zug oder gar mit einem Schiff war sie noch nie verreist.

Ob sie damals auch nach Deutschland wollte, habe ich sie mal gefragt. Alle in ihrem Dorf, hatte sie geantwortet, hatten sich für die Umsiedlung gemeldet. Alle! »Wir waren ein Dorf, wie eine Familie, wir wollten alle zusammen bleiben. Auch in der neuen Heimat. Wenn wir geblieben wären, was hätten die Russen mit uns gemacht? Mit unseren Kindern? Wir wollten Deutsche bleiben. Wir wollten freie Menschen bleiben!«

Sie war sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war, die sie vor einer noch dunkleren Zukunft bewahrt hatte.

Tief beeindruckt waren die Ankommenden, als sie erfuhren, dass die gesamte Arbeit im Lager von den Volksdeutschen aus Jugoslawien geleistet wurde. Freiwillig und unentgeltlich, mit einer ganz selbstverständlichen Hilfsbereitschaft. Es war für sie ein ›Ehrendienst‹! Sie leisteten ihn wochenlang, obwohl die meisten von ihnen Bauern waren, eigene Wirtschaften mit großen Feldern und Weingärten hatten. Dort wurde während der Erntezeit jede zupackende Hand gebraucht.

Und die Umsiedler konnten kaum fassen, dass die Verpflegung im Lager, die wohlschmeckenden Mahlzeiten, die da so reichlich angeboten wurden, Spenden der Banater Schwaben waren. Die Mädchen in ihren schönen Trachten nähten Kleider und Wäsche für sie und waren im Lager bei der Betreuung und Verpflegung sehr behilflich.

Es war für sie alle ein großes Bedürfnis, den deutschen Brüdern und Schwestern in ihren schweren Stunden beizustehen. Sogar eine Lagerkapelle hatten sie organisiert, die beim Eintreffen eines Dampfers flotte Märsche spielte. Am Abend spielten die Mädchen der Banater Schwaben Theater, sangen oder tanzten in den Zelten, um die Umsiedler zu erfreuen.

Für die enteigneten Bessarabien-Deutschen war es eine unsagbare Wohltat in dieser stürmischen Zeit. Sie konnten für einige Stunden ihre großen Sorgen wegen der ungewissen Zukunft vergessen. Und ihre Augen leuchteten, denn dieses Verhalten war ihnen etwas Vertrautes. Auch in ihrer gesamten Volksgruppe hatten sie seit eh und je nach dem alten Kolonistenspruch gelebt: »Einer für alle und alle für einen.«

Einige hatten Fotos ihrer Wirtschaft und des Dorfes mitgenommen. Eine unschätzbare Kostbarkeit. Sie wurden jetzt den neuen Freunden gezeigt. »Das war unsere Kirch, das die Schul und das unser Haus …«, hieß es dann.

Es waren keine verzagten, verzweifelten und klagenden, sondern gläubige und hoffende Menschen. Sie legten ihr Schicksal in Gottes Hand, mit seiner Hilfe würde es einen neuen Anfang geben, trösteten sie sich.

Besonders die Alten saßen mit sorgenvollen Gesichtern beieinander. Auch wenn sie sicher waren, dass die Jungen es schon schaffen würden. Sie würden sich umstellen und so manches dazulernen können. Mit ganzer Kraft und zähem Willen würden sie die neuen Aufgaben bewältigen können. Doch es beschäftigte sie sehr, was aus ihren verlassenen Höfen und den Dörfern werden würde. Keiner wusste, was man mit ihren gepflegten Wirtschaften und den großen, schönen Dörfern vorhatte. Wer würde sie übernehmen? Sie waren fest davon überzeugt, dass da mit Willkür und Unkenntnis vieles verdorben und die jahrzehntelange harte Arbeit sinnlos vernichtet werden würde. Aber die Frage ›wer‹ als Nachfolger der Richtige wäre, ließ sie nicht los. Am geeignets­ten erschien ihnen der Bulgare. Sie kannten ihn als arbeitsfreudig und fleißig. Er würde Land und Vieh gut versorgen und die Häuser sauber halten. Oder doch der Ukrainer? Das wäre auch noch annehmbar. Die hatten viel von den deutschen Bauern gelernt. In einem waren sich aber alle einig: »Nur nicht die Gagausen!« Dieser Volksstamm, ein Überbleibsel aus der Türkenzeit, war allen fremd. Fremd ihre türkische Sprache, fremd ihre Lebenshaltung, fremd ihre mongolischen Gesichter. Wenn die Siedler durch die zerstreut zwischen deutschen Siedlungen liegenden kleinen Gagausendörfern fuhren, konnten sie nicht verstehen, wie man so leben konnte. Die kleinen unsauberen schilfgedeckten Häuser waren aus Lehm und Stroh gebaut und standen ungeschützt in der glühenden Sommerhitze. Ohne Bäume und Blumen, wie es in den deutschen Dörfern so selbstverständlich war. Das ungepflegte Vieh war mager, die meisten kleinen Felder waren planlos angelegt und schlecht bestellt. Wie diese Menschen mit ihren vielen Kindern von einer so kleinen Ernte leben konnten, war unvorstellbar. Mit einer heftigen Abwehr reagierten die Alten auf diese Vorstellung. Auch die Rumänen waren keine erwünschten Nachfolger ihrer Wirtschaften. Diese konnten ja kaum für ihren eigenen kleinen Besitz richtig sorgen. Ihre Genügsamkeit und der Verdienst aus gelegentlicher Hilfsarbeit ermöglichte ihnen nur ein bescheidenes Leben. Doch sie konnten spekulieren, so viel sie auch wollten, die bange Frage nach dem Nachfolger blieb offen.

Nach drei oder vier Tagen Aufenthalt im Lager war ein Weitertransport geplant. Wenn dann am frühen Morgen durch Lautsprecher gemeldet wurde: »Achtung, Achtung, alle mit der Erkennungsnummer Ki 5 oder A 4 fahren heute weiter«, war dann die Aufregung groß. Jetzt ging es endlich nach Deutschland. Aber wohin genau? Wie weit war es noch? Würden die nachkommenden Männer den Ort im Deutschen Reich finden? Wer sagt ihnen, wo ihre Familien gelandet waren?

IM UMSIEDLUNGSLAGER BÖHMISCH-LEIPA

Mit dem Zug ging es weiter nach Deutschland. Es mussten dort 93.000 Umsiedler untergebracht werden, bevor sie Haus und Hof erhielten. Dazu benutzte man große Gebäude mit entsprechenden Räumen, sogenannte ›Umsiedlungslager‹. Es waren etwa 800 verschiedene ›Auffang- und Beobachtungslager‹ vorgesehen, auf die die Bessarabien-Deutschen verteilt wurden. Sie befanden sich hauptsächlich in Sachsen, Franken, Bayern, im Sudetenland und in Österreich. Es wurde darauf geachtet, dass die Dorfgemeinschaften nach Möglichkeit zusammenblieben. Gnadentaler Bewohner kamen nach Böhmisch-Leipa im Sudetenland, eine Kleinstadt in Nordböhmen circa 70 Kilometer nördlich von Prag.

Zuerst trafen die Frauen und Kinder ein, die mit dem Zug vom Zwischenlager Prachowo über Zagreb und Villach nach Böhmisch-Leipa gereist waren. Und so erfuhren auch sie zuerst, dass das Lager eine ehemalige Spinnerei war, die einem Wiener Juden mit Namen Rosenthal gehört hatte. Es hieß, die SS hätte ihn abgeholt und nach Treblinka gebracht.

Die Fabrik war ein zweiflügliges großes, vierstöckiges Gebäude mit einigen Nebengebäuden und Baracken. Vierzehn große Räume waren für 1.700 Umsiedler vorbereitet worden. Statt Produktionsmaschinen stand nun alles voll mit primitiven, zweistöckigen mit Strohsäcken belegten Holzpritschen. Trennwände für die Familien waren nicht vorhanden.

Die Ankommenden konnten es nicht glauben, dass ihnen so etwas zugemutet wurde. »Da hatten es ja unsere Tiere in Bessarabien besser!«, stellten sie fest. Widerwillig nahmen sie die ihnen zugeteilten Betten dann aber dennoch in Besitz. Mit Tüchern und Decken, die sie als Sichtschutz aufhängten, schafften sich einige Familien etwas Privatsphäre.

Das Stimmengewirr und die Geräusche, die Gesprächsfetzen von Nachbarn, das Weinen der Kinder und Alten, all das machte den künftigen Tagesablauf aus. Gegessen wurde im großen ›Speisesaal‹, der in einem Nebengebäude zu finden war. Das Lager beherbergte außer den 1.200 Gnadentalern noch 500 Personen aus Neuarzis und 100 von dem Weiler Demir-Chadschi, beides Ortschaften, die im Umkreis von Gnadental zu finden waren.

Jungs und Mädchen ab 15 Jahren wurden getrennt in verschiedenen Sälen einquartiert. Unterrichtet wurden die Kinder von Lehrern aus unseren Heimatgemeinden. Schüler, die eine weiterführende Schule besuchen wollten, gingen in die Oberschule der Stadt Böhmisch-Leipa.

Im ersten Stock der Fabrik hatte das Umsiedlungskomitee in einer Ecke eine behelfsmäßige Entbindungsstation eingerichtet, wo ich eine Woche später auf die Welt kam – das erste Kind, das dort geboren wurde. Meine Tante Lydia, die in Stuttgart Kinderkrankenschwester gelernt hatte, war zuständig für diese Station und half meiner Mutter bei meiner Geburt, die ohne Komplikationen verlief. Mutter war danach noch einige Zeit in dieser Station untergebracht, in der wir gut versorgt wurden.

Alma O. kann sich noch daran erinnern, dass in der ersten Zeit auf der anderen Seite der Straße im ersten Stock einer Villa ein älterer tschechischer Arzt eine Krankenstation hatte.

Etwa drei Wochen später trafen die Männer und noch ein paar Frauen in der neuen Unterkunft ein. Sie waren den gleichen Weg gekommen wie ihre Familien. Viele liefen ihnen entgegen und man freute sich so über das Wiedersehen.

Meinem Vater wurde sofort berichtet, dass er eine gesunde Tochter bekommen hatte. Er hätte ja lieber einen Jungen gehabt, aber als er mich das erste Mal im Arm hatte und ich ihn anlächelte, war alles andere vergessen, erzählte er mir später.

Alle waren wieder glücklich beisammen.

Viele Fragen wurden gestellt, viele Informationen ausgetauscht. »Wie war es, als ihr Gnadental verlassen habt? Seid ihr mit dem Treck gut nach Galatz gekommen? Wer versorgt jetzt die Tiere, melkt die Kühe? Wer wohnt in unserem Haus?«

Die Gruppe wurde immer größer und die Männer berichteten abwechselnd: »In Gnadental haben wir mit vollgeladenen Planwagen ungeduldig auf den Tag der Abfahrt gewartet. Der zu erwartende Herbstregen beunruhigte uns, weil wir wussten, dass dann im aufgeweichten Boden ein Vorwärtskommen unmöglich war. Es war aber nicht nur die zu erwartende Regenzeit, die uns Sorgen machte. Es war das völlig fremde, veränderte Leben, das seit der Übernahme durch die Sowjets das Dorf beherrschte.«

Ihre festgefügte und selbstverständliche Lebensordnung war gestört und sie fühlten sich nicht mehr als freie Menschen. Sie lebten in ihren Wirtschaften, aber es war nicht mehr ihr Zuhause. Die vielen Verordnungen des Dorfsowjets erfüllten sie sorgfältig. Aber es kamen immer neue dazu. Wie Kolchosearbeiter mussten sie den neuen Herrschern gehorchen, um nicht den Ablauf der Umsiedlung zu gefährden oder sogar in Haft genommen zu werden.

All ihr Tun wurde misstrauisch vom Dorfsowjet und den Männern der roten Miliz beobachtet. Nun konnten sie sich vorstellen, wie sich ihr Leben gestalten würde, wenn sie bleiben würden. Mit selbstständiger Bauernarbeit wäre es für alle Zeiten vorbei. Alles musste nach dem Befehl des Dorfsowjets geschehen, auch wenn es gegen jede Erfahrung und noch so unsinnig war. Jeder noch so kleine, selbst berechtigte Einspruch wäre zwecklos und jeder Widerstand gefährlich. Es wurde ständig mit Abschiebung nach Sibirien gedroht.

Nachdem die Frauen und Kinder weg waren, herrschte eine unheimliche Stille in den Häusern. Meistens war nur der Vater mit einem oder mehreren erwachsenen Söhnen zurückgeblieben. Der Wagen mit dem Gepäck war gerichtet, ein Verdeck zum Schutz vor Regen angebracht. Man wartete nur noch auf den Abmarschbefehl.

Die Männer rückten zusammen. Oft waren 10 bis 12 Wagen auf einem Hof zusammengeschart und es wurden Wachen aufgestellt. Und wer diesen Dienst zu versehen hatte, hatte es nicht gerade leicht. In den Abendstunden erhob sich nämlich das Geheul der zurückgebliebenen Hunde auf den leeren Höfen, das die Nacht hindurch anhielt. Die zurückgelassenen Haustiere, die Pferde, Kühe und Schafe, waren den Russen übergeben und in große Gehege eingepfercht worden. Das Brüllen, Blöken und Wiehern mischte sich in das Heulen der Hunde und weckte Mitleid und Betroffenheit bei denen, die es anhören mussten.

Sie waren erleichtert, als auch Gnadental den Aufruf zur Abfahrt erhielt. Im Morgengrauen ordneten sie die Planwagen auf der breiten Dorfstraße. Es wurden Wagen, Pferde und Umsiedlungsnummern kontrolliert und der lange Zug in Kolonnen eingeteilt. Einige Männer der Umsiedlungskommission, die den Treck bis zum Donauhafen begleiteten, gaben das Signal zur Abfahrt.

Unter dem feierlichen Geläut der Kirchenglocken setzte sich der lange Zug in Bewegung. Sie fuhren langsam, schauten immer wieder zurück. Sie fuhren an Feldern vorbei, auf denen sie jahrelang gearbeitet hatten. Es waren noch die tiefen Radspuren von den vollgeladenen Erntewagen zu sehen. Und auch die großen Strohschober, Zeugen der letzten Ernte, zeichneten sich noch dunkel gegen den hellen Morgenhimmel ab. Der noch nicht geerntete Mais auf den Feldern und die Rebstöcke in den Weingärten – dieser Anblick wird wohl ein Leben lang in ihrer Erinnerung bleiben.

Sie fuhren gen Süden, zur Donau, an verlassenen deutschen Dörfern vorbei. Sie fuhren an großen, ungeernteten Maisfeldern und an Stoppelfeldern vorbei, durchquerten eine leere Steppe, bis sie an einen Wasserlauf oder Brunnen kamen, wo sie einen Rastplatz für die erschöpften Menschen und Tiere fanden. Sie gönnten sich nur eine kurze Nachtruhe und fuhren ganz früh am Morgen weiter durch einsame, leicht wellige Landschaften, durch die sie ab und zu riesige Schafherden ziehen sahen.

Manchmal führte sie der Weg auch durch bulgarische und russische Dörfer. Oft standen dann Leute am Wegrand, um ihnen ein Abschiedswort zu sagen. Einige reichten gekühlten Wein, Trauben oder Melonen zur Erfrischung. Die Frauen weinten und die jungen Burschen riefen: »Nehmt uns doch mit, wir wollen auch nach Deutschland, dort mit euch arbeiten!«

Noch fuhren sie durch bekannte Gegend, aber je weiter sie in den Süden kamen, umso fremder wurde die Landschaft. Als es dann auch noch zu regnen begann, waren sie der Verzweiflung nahe. Nur langsam ging es jetzt vorwärts, doch glücklicherweise hörte der Regen nach kurzer Zeit auf.

Abends erreichten sie die gefürchteten Lösschluchten. Hätte es in der Nacht weitergeregnet, wären sie in der weichen Erde, in der sich das Wasser gestaut hätte, ste­cken geblieben.

Hier nächtigten sie, bauten eine große Wagenburg als Schutz vor Kälte und vor Überfällen und wärmten sich am Lagerfeuer.

Ohne besondere Vorfälle durchquerten sie am nächsten Morgen die großen, gefahrvollen Lösschluchten und gelangten an die Grenze. Im Donauhafen Reni kontrollierten die Russen die Umsiedlungslisten und durchsuchten das Gepäck. Alles Essbare wurde konfisziert. Mit Stöcken wurde in Hab und Gut herumgestochert und nach Wertvollem gesucht.

Als diese Kontrollen endlich überstanden waren, war den Menschen die Erleichterung anzumerken. Die nächs­te Herausforderung stand aber schon bevor; die behelfsmäßig errichtete Pontonbrücke über den Grenzfluss Pruth. Sie schwankte und die Pferde weigerten sich weiterzugehen. Nur mit sehr viel Geduld und Zuspruch schafften sie die Überfahrt nach Rumänien.

Nach tagelanger, anstrengender Steppenfahrt erreichten sie dann den Hafen von Galatz. Der Anblick der Donau mit den vielen großen Schiffen war für die meisten ein großes Erlebnis. Viele kannten Erzählungen ihrer Väter und Großväter, die ihr Getreide in Galatz verkauft hatten. Nun waren sie den gleichen Weg gefahren, aber nicht um Geschäfte zu machen, sondern um alles, was sie sich erarbeitet hatten, endgültig zurückzulassen.

Ihr übriggebliebenes Gepäck luden sie im Hafen aus. Es wurde registriert und auf Frachtern nach Wien weitergeleitet. Mit dem leeren Wagen fuhren sie dann in das umzäunte und streng bewachte Sammellager, wo sie ihre Pferde bei einer deutschen Kommission abgeben mussten. Und dabei waren die Pferde eines bessarabischen Bauern ganzer Stolz. Sich von ihnen zu trennen, tat besonders weh.

Von der Donaufahrt erzählten die Männer wenig. Sie waren erschöpft und müde und wollten ihre Ruhe haben.

Die Männer hatten nur einen kleinen Koffer mit den nötigsten Wäschestücken dabei. Die übrigen Sachen sollten von Wien aus an die neuen Ansiedlungsorte versandt werden.

Nach Erhalt und Öffnen der Kisten und Koffer sollten sie später aber mit Schrecken feststellen, dass fast alle wertvollen Gegenstände fehlten. Auf Reklamationen beim SS-Ansiedlungsstab erfolgte keine Antwort. Wie aber später dann bekannt wurde, war im Zentrallager in Wien eine Diebesbande am Werk, die organisierten Raub betrieben. Während sonst im Reich auf Plünderungen die Todesstrafe stand, wurden jene am Hab und Gut der Umsiedler durch amtliche SS-Stellen geduldet, teilweise sogar selbst betrieben. Nach durchgeführten Erhebungen wurden 30 bis 50 Prozent des Umsiedlergroßgepäcks gestohlen, was einem Wert von mehreren Millionen Mark gleichkam.

Offiziell wurden die Umsiedler von der NS-Propa­ganda feierlich willkommen geheißen, von der Lagerleitung aber oft als Menschen zweiter Klasse angesehen. Die Einheimischen bezeichneten die Einwanderer sogar als weiße Araber oder Russen und Balkanesen.

Das Regime in diesem Lager glich dem eines KZ. Die zugeteilten Rationen von Lebensmitteln wurden zum größten Teil gestohlen. Lagerverwalter, Verwaltungs-personal, Köchinnen und deren Mitläufer bedienten sich, während die Insassen hungerten.

Die moralische Wirkung dieser Vorgänge auf die Umsiedler war katastrophal. Diebstahl, Ungerechtigkeit, Übergriffe auf persönliche Freiheit, Brutalität und Frechheiten mussten sie über sich ergehen lassen.

Zusammengepfercht in den großen Hallen lebten sie ohne Privatsphäre. Trostlose Langeweile machte ihnen zu schaffen. Mathilde H. berichtete, dass die Betten voller Wanzen und Flöhe gewesen seien. Ihr kleiner Sohn sei jeden Morgen am ganzen Körper mit roten Flecken übersät gewesen. Auch Albert B. erzählte, dass viele Insassen mit stark juckenden roten Flecken oder Quaddeln auf der Haut zu kämpfen hatten. Man spürte den Biss der Bettwanze nicht, erst am nächsten Morgen fängt er an zu jucken. Hinzu kamen Krankheiten hauptsächlich durch Mangelernährung und eine erhöhte Ansteckungsgefahr durch die beengten Verhältnisse. Der hohe Geräuschpegel belastete vor allem die alten Menschen. Sie konnten sich an die Unruhe nicht gewöhnen.

Alles in allem waren es unmenschliche Bedingungen. Und niemand ahnte, dass das Lagerleben fast ein Jahr dauern würde.

Nach einer Quarantänezeit erfolgte im Dezember 1940 dann die Einbürgerung. Bei diesem Vorgang wurden alle Lagerbewohner einer als Gesundheitsprüfung getarnten rassischen, erbbiologischen und gesundheitlichen Selektion unterzogen. Auch die politische Zuverlässigkeit sowie die berufliche Einsatzmöglichkeit wurden geprüft.

Albert B. berichtete: »Eine Mannschaft aus Ärzten, Schwestern und SS-Leuten führten die Untersuchungen durch. Die ›Patienten‹ mussten sich nackt ausziehen, dann wurden sie einer nach dem anderen von oben bis unten untersucht, es wurde nach früheren Krankheiten gefragt, die Lunge wurde abgehört, die Körpergröße gemessen, der Zustand der Zähne vermerkt. Blut wurde abgenommen und es wurde nach Erbkrankheiten gefragt. Man musste den Ahnenpass vorlegen und es wurde genau geprüft, ob die Ahnenreihe stimmte, ob es bestimmte Krankheiten oder Behinderungen gegeben hat. Nach Können und Fähigkeiten wurde gefragt und alles penibel in Karteikarten eingetragen. Zum Schluss wurden alle mit einer umgehängten Registriernummer fotografiert. Nach dieser Prozedur wurden sie in O-Fälle, A-Fälle und S-Fälle eingestuft.«

Diese Behandlung empfanden vor allem die Erwachsenen als sehr verletzend.

Die Urkunden, Stammbäume, Familienbücher und Auszüge aus dem Kirchenregister hatten die Umsiedler schon bei der Registrierung zur Ausreise aus Gnadental benötigt und so konnten sie nun ihre Herkunft belegen.

Durchgeführt wurde diese Prozedur auf Weisung Himmlers von ›Fliegenden Kommissionen der Einwandererzentralstelle‹, einer Einrichtung des Reichssicherheitshauptamtes. Die Einwanderungszentralstelle, zusammengesetzt aus Polizei, SS und Sicherheitsdienst, entschied über das weitere Schicksal von ganzen Familienverbänden.

Das Versprechen bei der Umsiedlung, dass alle im Warthegau einen Hof zugeteilt bekämen, erwies sich nun als Lüge. Nur die ›besseren Umsiedler‹, die sogenannten O-Fälle, sollten in den Ostgebieten, das heißt im damaligen Warthegau oder in Westpreußen, angesiedelt werden.

Die Einstufung als A-Fall war das Schlimmste, was den Menschen passieren konnte. Sie sollten ins Altreich zur Umerziehung geschickt werden und in Fabriken arbeiten. Sie mussten Abschied nehmen von der Volksgruppe, von der Dorfgemeinschaft, von Verwandten und Bekannten, teilweise auch von ihren Familien, wenn die anderen Geschwister O-Fälle waren und im Osten angesiedelt wurden.

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