Kitabı oku: «Von der irrwitzigen Flucht ins Zentrum des Seins», sayfa 3
Dann, das kannte man ja, kehrte bei den Menschen schnell wieder der Alltag ein. Spätestens am dritten Tag gierten sie nach einem neuen Skandal mit neuen, Gesichtern, Namen und Geschichten. Welches Verbrechen hatte in der heutigen Zeit denn schon die Kraft, länger als 72 Stunden ernsthaft ein fremdes Herz zu berühren! Selbst Erdbeben mit einer Viertelmillion Toten, das habe doch Haiti gezeigt, vermochten das nicht. Es verlangte schon eine permanent musikunterlegte Bilderwelt mit dramatischen Szenen von Elend, Blut und Tod, damit aus einer Scheinbetroffenheit eine scheinbar echte wurde.
Und was hatte er denn schon für Bilder zu bieten? Gar keine. Ein unscheinbarer Systemadministrator war doch kein Bild! Da war kein Sixpack unter einem engen Hemd, stattdessen eine leichte Wölbung. Und die Haare waren lichter als noch vor drei Jahren. Mein Gott! Gut, Lucy mit ihrer schönen Mutter war ein Bild. Das würde die Boulevardpresse gern ausschlachten. Aber ihr familiärer Bekanntheitsgrad war derzeit einfach noch zu gering, um damit eine tagelang anhaltende Serie auf der ersten Seite zu füllen. Später, wenn die Kinder einmal alle berühmt wären, dann wäre es natürlich etwas anderes. Mit anderen Worten: Seine Liebsten mussten die öffentliche Kreuzigung und die ganze Dramatik des gehässigen Geschwätzes wirklich nur kurze Zeit aushalten. Und das war doch wohl zumutbar! Er selbst trüge letztlich eine noch viel größere Last, um sie alle zu versorgen.
Mit den Widrigkeiten einer Haft würde er sicher klarkommen. Dennoch musste er den Gedanken akribisch zu Ende denken. Was würden fünf Jahre Knast für ihn bedeuten? Diverse Ängste und Gefahren innerhalb der Mauern, Verletzungen aller Art bis hin zur Selbstverletzung im Wahn, mögliche Bedrohungen durch die Mitgefangenen, all das und mehr musste er einer genauen Risiko-Abwägung unterziehen. Aber im Kern war dieser Knast-Gedanke ein guter Plan. Würde er auch nach seiner strengen Analyse am Ende aufgehen, dann täte sich ihm ein völlig neues Leben auf.
Karl wusste, auf seine Löwin zu Hause konnte er sich verlassen. Würde irgendjemand es wagen, Mikosch oder Lucy wegen ihres inhaftierten Vaters leiden zu lassen, dann konnte ihm derjenige nur leidtun. Viktoria müsste nur früh genug in den Besitz des Geldes aus einem möglichst gelungenen Raubüberfall kommen – und zwar auf eine Weise, die es ganz sicher und auf Dauer vor dem Zugriff der Justiz schütze. Klar war: Man würde Viktoria überwachen und dabei beobachten, dass sie ihr Leben finanziell nicht drastisch einschränkte, obschon er doch im Gefängnis saß. Das würde nur einen logischen Schluss zulassen: Er sitzt ein, während sie die Beute verjubelt. Nur ein perfekt geplantes und sauber durchgeführtes Verbrechen würde all diese unliebsamen Bedenken aus der Welt schaffen. So perfekt, dass man ihn als Täter genau für die gewünschte Zeit einsperrte. Und so flexibel, dass man ihn wegen guter Führung auch eher entlassen könnte, falls er mit seinem großen Werk früher als geplant fertig würde. Und alles so geschickt getimt, dass außer Viktoria keiner an das Geld herankäme.
Das einzige, was er selbst brauchte, waren Ruhe und ein Computer. Viktoria und die Kinder könnten ihn an jedem Besuchstag sehen und erleben, dass es ihrem Vater besser ginge als je zuvor. Ideenreich und gut gelaunt würde er ihnen entgegentreten, und Viktoria wiederum wäre in der Lage, ihr jetziges Leben ohne große Änderungen weiterzuführen. Die Bindung zwischen ihnen beiden war ausreichend tief, dass eine Entzweiung durch den Knastaufenthalt nicht wirklich zu befürchten war. Selbst Beischlaf wäre nach einer gewissen Zeit und einer günstigen Prognose in speziellen Räumen möglich. Hier jedoch verweigerte sich seine Fantasie und ging schnell zu einem anderen Gedanken über.
Beseelt von seiner Idee begann Karl seine Recherchen zu den vielen im Knast geschriebenen Büchern ehemaliger Gefangener. Je tiefer er grub, umso mehr wuchs die Gewissheit, dass dies die richtige Lösung war. Sein Fall lag zwar anders als der seiner schreibenden Knastbrüder, aber das war letztlich nur positiv für ihn. So würde ihm die kritische Nabelschau wegen eines kriminellen Hintergrundes erspart bleiben. Er könnte sich direkt seinen literarischen Anliegen zuwenden.
3.
Als Systemadministrator kannte Karl seine Bank, und zwar nicht nur die elektronischen Sicherheitssysteme, sondern auch die personellen Strukturen. Über den Zentralcomputer hatte er zu allen Informationen Zugang, die auf Schwachstellen seiner Bank abzielten. In jeder Bank gab es eine Schwachstelle – und sei es das eigene Personal. In diesem Fall er selbst. Er, der jetzt sich selbst als Schwachstelle nutzen würde. Er, der für die Sicherungssysteme Hauptverantwortliche, wurde selbst zum größten Sicherheitsrisiko, ohne dass auch nur einer etwas ahnte.
Sein Coup war in allen Details geplant. Karl wusste, wann welche Gelder wo lagen und ankamen. Er wusste um die Ausgänge, Alarmsysteme und Arbeitszeiten des Personals. Er wusste, wann die Geldtransporte kamen, welche immer wieder neuen Wege sie nehmen und wie schnell die Polizei vor Ort sein konnte. Er wusste um die Traumatisierung seiner Kollegen, die schon einmal einen Überfall erlebt hatten. Er wusste vor allem, dass er keine Fehler machen durfte. Ein Fehler und er wäre tot, statt in zirka fünf bis sechs Jahren ein international gefeierter Schriftsteller zu sein. Sein Tod.aber würde bedeuten: auch die Kinder und Viktoria hätte er dann verraten. Er musste also alles perfekt planen, angefangen beim ersten Schritt: dem Zugriff auf die Beute.
Ohne Beute wäre die ganze Aktion nicht nur sinnlos, sondern eine persönliche Katastrophe. Seine Kinder würden ihm dann erst recht niemals verzeihen. Diese Gefahr bestand zwar auch jetzt – aber er war fest davon überzeugt, dass sie seine Tat eines Tages in einem anderen Licht sehen würden, wenn Viktoria ihnen mit ihren eigenen Worten die besonderen Umstände erklärt hatte. Dabei würde sie von seinem besonderen Mut erzählen, für sich selbst und seine Familie alles zu riskieren. Die Kinder würden erkennen, dass ihr Vater in Wirklichkeit ein Held war, auch wenn er selbst nichts davon hören wollte.
Karl verließ nun abends immer häufiger das Haus und kam erst spät in der Nacht zurück. Seiner Frau beteuerte er, dass sie niemals um ihre Beziehung fürchten müsse, dass er keine andere Frau als nur sie wollte. Das nächtliche Fernbleiben sollte sie nicht belasten. Ganz im Gegenteil, so versicherte er ihr, er würde sie mehr lieben als je zuvor. Er bäte sie aufrichtig, seinen vorübergehend geheimen Aktionen alles Vertrauen zu schenken, was sie in sich trage. Er hätte etwas Wunderbares vor.
Die Art und Weise, wie Karl das sagte, hatte etwas von einer verzweifelten Bitte. Viktoria glaubte ihm. Zudem sagten ihr ihre weiblichen Sinne, dass es tatsächlich keine andere Frau in seinem Leben gab. Auch deswegen, weil sie wie nebenbei und unvermeidlich den Geruch seiner Kleidung einer Prüfung unterzog und auch am gemeinsamen Konto keine Bewegungen stattfanden, die auf neue »Sonderausgaben« hindeuteten. Kein fremdes Haar auf seinem Jackett – keine unbekannte Nummer auf seinem Handy, keine geheimen Blickzeichen zwischen ihm und ihren Freundinnen, die sie schneller entlarvt hätte, als Wimpern sich verräterisch niederschlagen konnten. Was immer Viktoria aus Sorge und Sicherheitsbedürfnis schnell und gezielt kontrollierte, gab keinen Anlass zu Misstrauen.
Noch stärker jedoch empfand sie seine Wahrhaftigkeit durch die seelische und körperliche Nähe, die seit der vergangenen Nacht wieder einem besonderen Liebreiz besaß. Fast lag so etwas wie eine sehnsüchtige Verzweiflung in seiner Umarmung, die ihr neu und schmeichelhaft vorkam, mit einer leisen Spur der Sorge, als habe man nur noch wenig Zeit zusammen. Dieser Gedanke wurde schnell von einem ihrer Wurfmesser an die imaginäre Küchenwand genagelt. Natürlich hätten sie das ganze Leben noch vor sich. Sie würde einfach vertrauensvoll abwarten. Mit irgendetwas Schönem würde er sie sicher bald überraschen!
Karl suchte so häufig er konnte Spielkasinos auf. Er ließ sich zu verschiedenen Zeiten überall dort blicken, wo er ahnte, dass man früher oder später auf ihn aufmerksam werden würde. Das gehörte zu seinem Plan und war sehr wichtig. Er nahm hier und da auch einmal Platz für ein Spielchen – ohne jedoch groß etwas zu gewinnen oder zu verlieren. Sein Gesicht jedoch wurde immer wieder gesehen. Bewusst nahm er die drei fahrtechnisch für ihn erreichbaren Kasinos ins Visier, lief dort stundenlang herum. Unvermeidlich, dass die Kameras dabei immer wieder sein Konterfei registrierten. Die einarmigen Banditen waren dabei sein häufigstes Ziel. Natürlich nur jene Apparaturen, die über eingebaute Auszahleinheiten verfügten. Kein Croupier, der hier die genauen Ausschüttungen fest in seinem geschulten Blick hatte. Dass diese Ausschüttungen sehr hoch sein konnten, war bekannt.
Hin und wieder, nicht allzu auffällig, trug Karl eine leicht ausgebeulte Aktentasche aus den Spielsälen der Einarmigen Banditen. Wer welches Geld genau an diesen Apparaten verlor oder gewann, entzog sich jeder Kontrolle. Die pralle Aktentasche jedoch suggerierte eine schwere Füllung. Beim täglich wechselnden Publikum hatte niemand den Überblick darüber, ob Karl nun eher der Gewinner- oder der Losertyp war. Diese Unklarheit war Teil seines Plans. Wichtig war, dass er augenscheinlich zur Spielerszene gehörte. Denn die Polizei würde Fragen stellen, wenn sie nach der Beute suchte.
Der Überfall in der eigenen Bank war eine logistische Meisterleistung. Alles klappte minutiös perfekt. Karl entkam unerkannt mit dem Geld, nachdem er noch einige Warnschüsse in den Raum abgegeben hatte. Er hatte die Sicherungsanlagen der Bank so manipuliert, dass nicht festzustellen war, wie der oder die Täter sich ins System einhackt haben konnten. Diese Vorgehensweise passte genau ins Bild einer Raubserie in den vergangenen Jahren. Ein Phantom, das vor jedem Überfall die Kameras außer Kraft setzen konnte, so dass man sich auf sehr vage Zeugenaussagen verlassen musste. Der Täter war bis zum heutigen Tag nicht gefunden worden.
Karl musste als Systemadministrator damit rechnen, dass man früher oder später mit entsprechenden Fragen auf ihn zukommen würde. Und das war auch gewollt. Aber das Timing musste stimmen. Er brauchte mindestens zwei bis drei Tage, um die geplanten finanziellen Transaktionen durchzuführen. Geldwäsche zugunsten seiner Familie. Er hatte sich vorsorglich krank gemeldet.
480.000 Euro hatte er erbeutet. Eine schöne Summe. Keine, mit der man sein ganzes Leben bestreiten konnte, wohl aber ein paar entscheidende Jahre und die Ausbildung der Kinder. Danach würden die Tantiemen aus seinem Bestseller fließen. Auch das Musikinternat für Nathan war damit gesichert.
Seine angebliche Spielsucht mit dem damit scheinbar erworbenen Vermögen würde später dafür sorgen, dass man den entscheidenden Teil des Familienvermögens nicht konfiszieren konnte. Das war zentral für sein Anliegen und seinen Plan. Müsste die Beute zurückgezahlt werden, so könnte er sich noch in der Untersuchungshaft erhängen. Die erste Hälfte des Plans der Geldsicherung gelang. Die sorgsam vorbereiteten Festanlagen auf anderen, teils ausländischen Banken für Studium und Ausbildung der Kinder, die Entschuldung des Hauses und das neue Auto für Viktoria ließen die Beute gleich um eine ordentliche Summe schrumpfen. Dennoch konnte Viktoria sich weiterhin finanziell sorgenfrei.um Mikosch und Lucy kümmern. Wenn sie trotzdem arbeiten gehen wollte, so sollte sie es halt tun. Das war allein ihre Entscheidung.
Einen Tag nach dem Überfall gestand Karl Viktoria sein »nächtliches Geheimnis«. Sie waren jetzt reich. Nicht superreich. Kein Millionengewinn – aber so reich, dass sie einen Großteil der Schulden tilgen konnten. So reich immerhin, dass er ihr die Schlüssel zu ihrem neuen 3er Kombi feierlich überreichte und ihr die Papiere über die Treuhandkonten für die Ausbildung der Kinder übergab. Viktoria war selig.
Karl sei ein Glückskind, und sie selbst würde ganz offensichtlich von den Göttern ebenfalls geliebt. Karls Spielerglück verwunderte sie überhaupt nicht, da sie ihm potentiell fast alles zutraute. Hatte er ihr doch in letzter Zeit auf vielfache Weise seine Kraft bewiesen. Seine persönliche Krise schien vollkommen überwunden, er befand sich neuerdings in einem ständigen Wechsel von Hochstimmung und Anspannung, so als hätte sie ihm ihren eigenen unbändigen Lebensvirus injiziert.
Karl erzählte Viktoria in allen Einzelheiten von den diversen Kasinos, und wie sehr er sich darüber freuen würde, wenn sie ihn einmal dorthin begleitete. Am Montag wollte er sich der Polizei stellen, falls man ihm nicht vorher auf die Schliche kam. Auch damit war schließlich zu rechnen. Das mit der Polizei erzählte er Viktoria natürlich nicht. Der Schock würde noch früh genug kommen. Selbst der Zeitpunkt ihrer unvermeidlichen Erschütterung war genau geplant. Den Sonntag wollte er noch einmal harmonisch mit den Kindern verbringen. Eine Herzensangelegenheit. Ein wenig müsste die Polizei eben noch warten. Bis auf den Verbleib der Beute wäre dann alles in wenigen Minuten geklärt. Und auch für das Verschwinden der Beute hatte er eine perfekte und glaubhafte Geschichte, die sich nicht widerlegen ließ.
Viktorias Freude war so groß, dass sich ihre Gedanken überschlugen. Karl wusste, es blieb ihm nur noch sehr wenig Zeit. Aber dann würde er schreiben können. Und Viktoria würde die ganze Wahrheit erfahren. Er würde Viktoria klarmachen, wie sie sich exakt zu verhalten habe, wenn die Polizei konfiszieren wollte oder die Justiz ihre gierigen Krallen ausfuhr. Die Scheine waren nicht nummeriert und notiert – und zudem auch längst angelegt und teils ausgegeben. Offiziell stammten sie einzig und allein von legalem Glücksspiel. All dies würde aber erst kommenden Montag geschehen, jetzt hieß es, das letzte gemeinsame Wochenende zu genießen.
Natürlich sprachen Viktoria und Karl auch über den Überfall auf die Bank. Man hatte Karl trotz seiner Krankschreibung sofort zurückbeordert, da es den sensiblen Bereich der computergesteuerten Sicherheit betraf. Er war in den Besprechungen bevorzugter Ansprechpartner für den Bankenvorstand und die Kripo. Er wurde maßgeblich zu den Ermittlungen hinzugezogen und folgte pflichtbewusst dieser Aufforderung. Doch die Ereignisse überschlugen sich ganz unerwartet. Während einer der Sonderkonferenzen kam die polizeiliche Meldung, man habe den Bankräuber durch die Rasterfahndung nicht nur verhaftet, sondern er habe in der anschließenden Vernehmung auch ein generelles Geständnis abgelegt. Seitdem schweige er beharrlich und wurde bereits dem Haftrichter vorgeführt. Der Raub war aufgeklärt. Karl war schockiert. Die Konferenz klatschte. Die Presse feierte die Polizei. Die Justiz feierte sich selbst.
Sieben Banküberfälle legte man dem Täter zur Last. Auf Befragen gab er alles zu. Alle Überfälle trugen die gleiche Handschrift. Die kleinen Unterschiede ergaben sich lediglich aufgrund gewisser technischer Verschiedenheiten computergesteuerter Sicherungssysteme. Es war das Werk eines ausgekochten Computerfreaks, dessen Spezialkenntnisse die Systeme schon lahmzulegen drohten, wenn er nur an sie dachte. Jetzt aber war der Serientäter nur noch müde und erschöpft. Er befand sich seit vier Jahren auf der Flucht. Teile der Beute hatte man aufgefunden. Er selbst war immer wieder knapp entkommen. Sein Steckbrief hing allerorten. Er selbst war zermürbt von der Jagd, entnervt und geschwächt. Immer neues frisches Geld, das er nicht ausgeben konnte. Ein merkwürdiger Zwang hatte ihn daran gehindert, zu einem günstigen Zeitpunkt aus dieser Masche auszusteigen und es sich einfach irgendwo gut gehen zu lassen. Der bittere Preis dafür war, dass er selbst zur Beute seiner Häscher wurde. Halali! Sein Leben war ruiniert. Trotz der Geldverstecke. Er wollte nur noch Ruhe und hatte mit allem abgeschlossen. Es reichte. Und er würde auch nichts mehr sagen. Zu gar nichts. Aus. Schluss. Vorbei. Mochten sie fragen was sie wollten. Was ging es ihn an. Irgendwann unterschrieb er verstockt, was sie ihm vorlegten, und schwieg. Das Strafmaß hätte sich so oder so in seinem Fall nicht mehr verändert. Und sein Lebensabend war gesichert.
Die kriminalistische Befragung des Serientäters wurde angesichts des überraschend schnellen Geständnisses eher halbherzig durchgeführt. Meist blieb es dabei, dass er alles zugab, falls er überhaupt einmal den Mund aufmachte. Was wollte man noch! Man hatte nicht nur irgendeinen Bankräuber. Nein, man hatte den bundesweit gesuchten Serientäter, der sieben Überfälle begangen hatte. Mit solchen Lorbeeren kann sich auch die Justiz nicht so häufig schmücken. Der Fall war erledigt.
Karl konnte es nicht fassen. Im ersten Augenblick empfand er Erleichterung. Er konnte nicht mehr in Verdacht geraten – und war frei. Er brauchte den Knastplan nicht weiter zu verfolgen. Seinen Job jedoch durfte er aus zwei Gründen nicht aufgeben. Die zeitliche Nähe zum Überfall hätte, auch wenn man den vermeintlichen Täter gefasst hatte, den Verdacht schüren können, dass er mit seinen Detailkenntnissen der Sicherungssysteme irgendwie in das Ganze verwickelt sein könnte. Immerhin war die Beute weg und über den Täter hatte sich der gesammelte Schlaf der Welt gelegt. Und ein weiterer Grund sprach gegen die Jobaufgabe. Das Geld war ja verplant, bereits angelegt und damit zusammengeschmolzen. Er bräuchte vorübergehend noch sein Gehalt – bis die Buchtantiemen flossen –, da seine staatliche Vollpension im Knast nicht finanziert würde. Doch das Geld war ja nur die Hälfte des angestrebten Ziels.
Der zweite und entscheidend wichtige Teil des Planes, die notwendige Ruhezone für seine Arbeit, war jetzt gescheitert. Dennoch ging es Karl zunächst besser. Denn es war nicht so, als hätte ihm die Knastvariante nicht auch ein wenig Angst gemacht. Sie war letztlich nur der hilflose Versuch, die Quadratur in den Kreis zu quetschen. Dass er dabei auch Prellungen und Schürfwunden abbekommen würde, war unvermeidlich. Doch die Bilanzierung aller Vor- und Nachteile dieses sonderbaren Unternehmens bis hin zu seinem eventuellen Tod hatte er in Gedanken ausreichend oft durchgespielt.
Binnen weniger Tage kehrte sich die Sachlage gegen ihn. Der Grund lag sowohl in der Familie wie auch in seinem beruflichen Umfeld. Man hatte aufgrund des Überfalls beschlossen, ein neues Sicherungssystem zu installieren, was auch eine neue Personalstruktur nötig machte. Ihm wurde jetzt gleichberechtigt ein junger Computerfachmann frisch von der Universität an die Seite gestellt. Es bedeutete nichts anderes als das Teilen seiner Machtbefugnisse. Eine Entmachtung, eine Degradierung. Niemand sprach es laut aus, für jeden war es offensichtlich. Natürlich bekam er seine Bezüge weiter in voller Höhe. Ein Fehler war ihm nicht direkt nachzuweisen. Dennoch spürte Karl das Misstrauen der Kollegen. Er hatte seine Antennen dafür. Ihm machte da keiner etwas vor. Der Serientäter musste irgendwie an banktechnische Systeminformationen gelangt sein, auch wenn man das Leck noch nicht gefunden hatte. Karls Stresspegel stieg. Die Stimmung in der Bank war durch und durch mies.
Keine miese Stimmung herrschte dagegen in der Familie, dafür war das Leben zu Hause anstrengender denn je. Jetzt, wo alles nicht mehr so knapp kalkuliert werden musste, verwirklichte Viktoria offenbar alle ihre Träume auf einmal. Mit ihrem hyperaktiven Antrieb ließ sie die Zeit schrumpfen und beamte die in der Vergangenheit verpassten Anschaffungen und Renovierungen nun in die einzige Gegenwart, die sie hatte. So, als gäbe es kein morgen mehr. Konkret bedeutete das für Karl: Handwerker gaben sich die Klinken in die Hand und wünschten ihm einen guten Morgen und einen guten Abend. Alles war Baustelle, und das, so versprach Viktoria wäre erst der Anfang! Karl zweifelte nicht an ihrer Kraft, das alles auch wahr zu machen. Sie hätte nun auch für ihn ein paar wunderbare Überraschungen, und er möge ihr jetzt bitte genauso vorbehaltlos vertrauen wie sie ihm. Schon in Kürze würde es ihn in Entzücken versetzen, was sie sich ausgedacht hatte. Als er eines Tages, müde von der Arbeit kommend, ein Architektenauto aus seiner Ausfahrt wegfahren sah, befürchtete er eine baldige Großbaustelle. Nicht ausgeschlossen, dass sie für Monate in ein Hotel ziehen mussten. Oder plante Viktoria den Komplettabriss? Gar ein völlig neues Haus?
Ihm wurde ganz übel bei diesen Gedanken. Er hätte wissen müssen, dass Viktoria sich nun ihrerseits ihre Lust an Überraschungen nicht nehmen ließ. Ein Kardinalfehler, diesen Umstand schlicht und einfach vergessen zu haben. Er hatte jedoch nicht davon ausgehen können, dass ein Fremder sein Verbrechen gestand. Sonst säße er jetzt ja längst im Knast und Viktoria hätte andere Sorgen, als Großbaustellen zu organisieren.
Lucy hatte inzwischen wieder mit Sprechen begonnen. Das beständige Fluchen der Handwerker über die maroden Zustände des Gemäuers und der elektrischen Leitungen übten einen unwiderstehlichen Reiz auf das süße blond gelockte Mädchen aus. Hier lohnte es sich für die Kleine, besonders aufmerksam zu sein. Sie erkannte, dass es hier schöne Wörter zu lernen gab, die ihre kleinen Freundinnen nicht beherrschten. Wahrscheinlich würden sie auch Nathan und Mikosch gut gefallen, und sie würden viel Spaß damit haben. Die Handwerker boten ihr einen kostenlosen Grundkurs in Verbalattacken, der nicht selten unter die Gürtellinie ging, wenn etwas nicht richtig lief. Ihr noch sehr geringer Sprachschatz bereicherte sich plötzlich um bedeutsame Vokabeln, die ihr ihre Eltern vollständig vorenthalten hatten. Nathan würde staunen. Auch wenn sie nun gar nicht wusste, was es bedeutete. Aber das würde sie schon noch herausbekommen. Manchmal saß sie auf der Wiese zwischen der Betonmischmaschine und einem Sandhügel und übte die korrekte Aussprache schwieriger Wörter wie Schädelficken und Kumpelbumser. Das hörte sich richtig lustig an. Hörte man dem kleinen goldgelockten Engel zu, hätte man alles vermutet – nur keine gute Erziehung.
Viktoria nahm es gelassen und meinte, dass geniale Kinder eben zuerst mit Sprache spielen müssten. Sicher, selbst habe man ein anderes Niveau und einen gehobenen Stil, aber es deute sich doch letztlich nur wieder die Hochbegabung durch diese lebendige Aufnahme von Sprache an. Sich ausschließlich mit gewöhnlichen Worten langweiliger Durchschnittsmenschen abzugeben, wenn man stattdessen eine spannende Alternative geboten bekam, wäre für ein intelligentes Kind ganz und gar undenkbar. Lucys Wahl war auf die Bauarbeiter gefallen, und sie hielt sich in jeder freien Minute in ihrem Umfeld auf. Sie war dort immer gern gesehen. Ihre Bereitwilligkeit, den Arbeitern ständig Nachschub von Karls Bier zu bringen, war scheinbar unbegrenzt. Nirgends jemand, der das liebe Kind stoppte. Und da das Kind derbe Witze besonders zu lieben schien, lernte es im zarten Alter von fünf Jahren, was die meisten Kinder erst zum Beginn der Pubertät erfahren. Auch bauchten sie mit ihr an. Prost, Lucy! Und Lucy trank mehr Limonade als je zuvor. Prost, Männa!
Mit dem erfolgreich durchgeführten Verbrechen waren die familiären Anstrengungen gewachsen. Von seinem eigenen Ziel war Karl jetzt weiter entfernt als je zuvor. Er wurde unruhiger und begann, nachts im Garten umherzuwandern. Einmal stieß er dabei gegen Handwerkszeug, ein anderes Mal fiel er in einen offenen Eimer mit Farbe, der gleich noch einen weiteren mitriss. Es war alles nur noch zum Schreien. Aber selbst das konnte er schon nicht mehr. Karl saß grübelnd im nassen Gras. Der zweite, gescheiterte Teil seines Plans musste korrigiert werden. Er konnte die Polizisten sicher von seiner Täterschaft überzeugen. Er hatte so viel Detailwissen, wie es nur der Täter gehabt haben konnte. Er würde sich stellen. Gleich zu Beginn der kommenden Woche.
Viktoria schmiss Karls Wochenendpläne über den Haufen, und er fügte sich in sein Geschick. Der Sonntag mit den Kindern dagegen wurde noch einmal ein richtiges Highlight. Davon würde er nun die nächsten fünf Jahre zehren. Einzig das körperliche Zusammensein mit Viktoria wollte nicht klappen. Vielleicht nagten die bevorstehenden Belastungen schon zu sehr an seinen Nerven. Aber sie waren Teil des Vertrags, den er mit sich geschlossen hatte.
Am Montagmorgen ging Karl nicht in die Bank, sondern direkt zur Polizei. Er hatte Viktoria nicht eingeweiht. Sie hätte das niemals zugelassen. Sie würde voll hinter ihm stehen, auch hinter dem, was er getan hatte. Bei der Geldverwertung hätte sie sicher keine Gewissensbisse. Völlig egal aus welchen Quellen es stammte. Immerhin diente es der Förderung einer dreifachen Hochbegabung. Vermutlich war sie der Meinung, dass ein gewisses Steueraufkommen dafür unbedingt gerechtfertigt, nein, Pflicht sei. Und die Lasten hätten keine Privatpersonen zu tragen, sondern in letzter Konsequenz eine Bank, der Staat oder die Kasinos. Alles wäre in Ordnung. So oder so ähnlich würde sie wohl denken, wenn sie erst einmal die Wahrheit erfuhr.
Viktoria würde wie eine Löwin um ihn kämpfen, ihn davon abhalten wollen, sich völlig unnütz freiwillig zu stellen. Er kannte doch seine Siegerin. Viktoria! Es ihr vorher zu sagen, hätte alles zunichte gemacht. Erst musste er zur Polizei. Bei ihr und den Kindern zu bleiben, kam für ihn einer Vernichtung gleich, die nur jenen Menschen widerfahren kann, die sich zu Tode geliebt fühlen. Und so fühlte er sich.
Und außerdem, so machte sich Karl gewohnheitsgemäß wieder einmal Viktorias Gedanken, musste er ja auch ihre Sicht der Dinge mit ins Kalkül ziehen. Wie stünde sie denn da? Als eine Xanthippe, vor der man freiwillig in den Knast flüchtet! Hausdrache, Megäre, weibliches Scheusal. Was sollte man denn davon halten? Und das nur, um ein bisschen Ruhe zu haben? Sie wäre dann am Ende das Monster! Eine schwierige, geradezu unmögliche Situation für seine Frau. Die Wahrheit war nur als homöopathische Lösung zu verabreichen. Monatlich ein wahres Wort, verpackt in drei verlogenen Ausreden.
Viktoria war nun einmal ein Mensch, der keinen negativen Gedanken ausließ, wenn er auch nur irgendwie denkbar war. Das Negative als alternative Möglichkeit hatte schon immer einen Reiz auf sie ausgeübt, der im ständigen Widerspruch zu ihrem enormen Kampfes- und Siegeswillen stand. Ganz so, als wäre sie auf diese Erde geschwebt, um ein weltumfassendes Schlachtfeld der Gedanken zu befehligen. Sie war allerdings ungeeignet dafür, eine gute Verliererin zu sein. Dann schon besser tot. Das dachte sie zwar nicht, aber sie lebte es. Bisher überlebte sie sich selbst famos damit.
Aber diese ehelichen Interna brauchte niemand erfahren, da es offiziell ja nur um einen Bankraub mit Schusswaffengebrauch und einer verschwundenen Beute ging. Der direkte Weg zur Polizei war für ihn die einzige Möglichkeit, jemals seine Ruhe zu bekommen ohne dabei phlegmatisch in einem Sarg herumzuliegen und auf sehr untätige Weise wurmstichig zu verfaulen.