Kitabı oku: «Verfassungsprozessrecht», sayfa 17
8. Rechtsschutzbedürfnis
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Liegen die vorstehend erläuterten Zulässigkeitsvoraussetzungen vor, steht damit in der Regel fest, dass der Beschwerdeführer ein rechtlich geschütztes Interesse an einer Entscheidung des BVerfG hat. Während es bei der Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzungen im Übrigen auf das Datum der Erhebung der Verfassungsbeschwerde ankommt, verlangt das BVerfG, dass das Rechtsschutzinteresse auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts besteht (vgl BVerfGE 21, 139, 143; 106, 210, 214).
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Bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde dürfte das Rechtsschutzbedürfnis nur zu verneinen sein[215], wenn dem Beschwerdeführer ein einfacherer Weg zu seinem Rechtsschutzziel zur Verfügung steht (dann allerdings dürfte er typischerweise den Rechtsweg nicht erschöpft haben und seine Verfassungsbeschwerde deshalb unzulässig sein) oder nicht ersichtlich ist, dass ihm eine positive Entscheidung des Gerichts irgendeinen Vorteil bringen kann (verneint bei bereits erfolgter bergbaulicher Inanspruchnahme des Grundstücks, gegen dessen Entzug der Beschwerdeführer vorgeht – BVerfGE 134, 242, 288).
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Kein rechtlich geschütztes Interesse an einer Entscheidung des BVerfG hat der Beschwerdeführer vor allem dann, wenn das BVerfG schon einmal über eine von ihm erhobene Verfassungsbeschwerde mit identischem Streitgegenstand (dh der Behauptung, ein bestimmter Akt der öffentlichen Gewalt verletze ihn in einem bestimmten Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht) entschieden oder eine solche nicht zur Entscheidung angenommen hat. Gleiches gilt, wenn der Beschwerdeführer eine gesetzliche Regelung angreift, die das BVerfG bereits als verfassungsgemäß bestätigt hat – es sei denn, es haben sich zwischenzeitlich rechtserhebliche Änderungen der Sach- und Rechtslage ergeben (BVerfGE 128, 326, 365).
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Bei Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde – dieser Zeitpunkt kann Jahre nach Erhebung derselben liegen – kann das Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers (dem die mitunter sehr lange Verfahrensdauer nicht zum Nachteil gereichen darf, da er sie nicht oder nur bedingt beeinflussen kann, BVerfGE 74, 163, 172 f; 128, 109, 123) zu verneinen sein, wenn sich der Angriffsgegenstand inzwischen aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen erledigt hat und von ihm keinerlei nachteilige Wirkungen mehr ausgehen (vgl etwa BVerfG-K, 1 BvR 2492/08 vom 21.3.2012, Abs.-Nr 9)[216]. Das ist nach der stRspr des BVerfG (vgl BVerfGE 116, 69, 79 f; 119, 309, 317 f mwN) nicht der Fall, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist (häufig in versammlungsrechtlichen Zusammenhängen, vgl etwa BVerfG-K, 1 BvR 2794/10 vom 20.12.2012, Abs.-Nr 14), die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer weiterhin beeinträchtigt oder durch inhaltlich unveränderte Nachfolgeregelungen ersetzt wurde (BVerfG, 1 BvR 142/15 vom 18.12.2018, Abs.-Nr 32 f). Trotz Erledigung des Beschwerdegegenstandes besteht das Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers auch in Fällen tiefgreifender und folgenschwerer Grundrechtseingriffe „jedenfalls dann fort, wenn sich die direkte Belastung durch den Hoheitsakt nach dem typischen Verfahrensablauf auf einen Zeitraum beschränkt, in welchem der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung kaum erlangen kann“ (BVerfGE 115, 166, 181 – Wohnungsdurchsuchung; ohne diese Einschränkung für freiheitsentziehende und daher tiefgreifend grundrechtseingreifende Anordnungen BVerfGE 134, 33, 54 f; vgl auch BVerfGE 149, 293, 316 f – kein Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses bei entlassungsbedingter Erledigung einer angegriffenen Fixierungsanordnung). Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht auch in Fällen fort, in denen von einem Rehabilitierungsinteresse auszugehen ist (zu Recht bejaht in BVerfGE 148, 267, 279 im Falle eines Beschwerdeführers, der zwei Jahre Stadionverbot erhalten hatte; zu Unrecht bejaht hinsichtlich der Beschwerdeführerin zu III. in BVerfGE 148, 296, 341 f, die schon während des Revisionsverfahrens auf eigenen Wunsch aus dem Beamtenverhältnis ausgeschieden war und daher durch die bundesverwaltungsgerichtliche Feststellung, dass eine gegen sie ergangene Disziplinarverfügung rechtmäßig gewesen sei, nicht nennenswert belastet war).
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Wo dies nicht der Fall ist, kann das objektive Rechtsschutzinteresse über das Fehlen des subjektiven Rechtsschutzbedürfnisses hinweghelfen[217]. Auch nach Erledigung des eigentlichen Rechtsschutzanliegens des Beschwerdeführers besteht das Rechtsschutzbedürfnis fort, wenn die Klärung einer grundsätzlich bedeutsamen verfassungsrechtlichen Frage andernfalls unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt (BVerfGE 104, 220, 232 f, 105, 239, 246) bzw. besonders belastend erscheint (BVerfGE 139, 148, 171). Besonderes Gewicht hat eine Grundrechtsverletzung dann, „wenn sie auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt“ (BVerfG-K, 1 BvR 331/10 vom 24.8.2010, Abs.-Nr 15).
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In der zitierten Entscheidung hatte der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 GG wegen überlanger Verfahrensdauer gerügt. Einige Monate nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde wies das Sozialgericht – knapp vier Jahre nach Klageerhebung – seine Klage ab. Das mit der Verfassungsbeschwerde verfolgte Ziel des Beschwerdeführers, das fachgerichtliche Verfahren zu beschleunigen, erledigte sich damit. Trotzdem bejahte die Kammer das Rechtsschutzbedürfnis, da die Gefahr der Wiederholung des Grundrechtseingriffs in anderen bereits anhängigen oder in Zukunft anhängig werdenden Klageverfahren vor diesem Gericht bestehe. Das Sozialgericht handhabe die Verfahrenslast zudem in einer Weise, die die Grundrechte der Rechtssuchenden allgemein vernachlässige und die Bedeutung der Garantie effektiven Rechtsschutzes verkenne (BVerfG-K, 1 BvR 331/10 vom 24.8.2010, Abs.-Nr 16 ff).
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Welche Folgen der Tod des Beschwerdeführers während des laufenden Verfassungsbeschwerdeverfahrens hat, ist gesetzlich nicht geregelt und kann „letztlich nur für den einzelnen Fall unter Berücksichtigung der Art des angegriffenen Hoheitsakts und des Standes des Verfassungsbeschwerdeverfahrens“ entschieden werden (BVerfGE 124, 300, 318 unter Hinweis auf BVerfGE 6, 389, 442). Der Grundsatz, dass sich eine Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung höchstpersönlicher Rechte des Beschwerdeführers im Falle seines Todes erledigt (vgl BVerfGE 6, 389, 442 f; 12, 311, 315; 109, 279, 304; BVerfGK 9, 62, 69), gilt nicht ausnahmslos (BVerfGE 124, 300, 318; vgl auch BVerfGE 141, 220, 260). Da die Verfassungsbeschwerde auch die Funktion hat, das objektive Verfassungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden, kann eine Entscheidung auch nach dem Tod des Beschwerdeführers in Frage kommen, wenn die Verfassungsbeschwerde über die höchstpersönliche Betroffenheit des Beschwerdeführers hinaus Klarheit über die Rechtslage schaffen kann (BVerfGE 124, 300, 318).
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Zudem hat das BVerfG schon verschiedentlich Erben, Angehörigen, Testamentsvollstreckern oder den Begünstigten eines Rentenanspruchs gestattet, die Verfassungsbeschwerde des Toten weiterzuführen, soweit es um finanzielle Ansprüche ging oder um Strafurteile, da die StPO bestimmte Angehörige ermächtige, die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens zu Gunsten des Verstorbenen zu beantragen (BVerfGE 6, 389, 442 f; 10, 229, 230; 17, 86, 90 f; 36, 102, 112; 37, 201, 206; 114, 73, 87). Diese Fälle zeichnen sich dadurch aus, dass der Rechtsnachfolger die Rügen des verstorbenen Beschwerdeführers (auch) im eigenen Interesse geltend machen konnte (BVerfGE 109, 279, 304), insbesondere, wenn es sich um finanzielle Ansprüche handelt (vgl BVerfG-K, 2 BvR 2660/06 vom 13.8.2013, Abs.-Nr 31)[218].
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Diese Differenzierung zwischen höchstpersönlichen und nicht höchstpersönlichen Rechten des Beschwerdeführers ist in der Literatur mit Recht kritisiert worden, da es gerade eines der Kennzeichen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist, dass es ausschließlich der Durchsetzung bestimmter subjektiver, höchstpersönlicher Rechte des Beschwerdeführers dient[219]. Wenn man davon ausgeht (vgl Rn 153), dass das Grundgesetz Grundrechte um der Würde des Menschen willen gewährleistet und zudem die Ansicht des BVerfG teilt, dass die Pflicht zur Achtung und zum Schutz der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG) mit dem Tod nicht endet (vgl Rn 161), dürfte die Annahme, ein Verfassungsbeschwerdeverfahren erledige sich automatisch mit dem Tod des Beschwerdeführers, nicht zu halten sein. Die Achtung vor dem Verstorbenen gebietet es, die begehrte Entscheidung zu treffen – ganz gleich, wie der Stand des Verfahrens ist (anders offenbar BVerfGE 124, 300, 318) und ob es zufällig Angehörige gibt, die die Fortsetzung des Verfahrens wünschen.
§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › III. Die Entscheidung
III. Die Entscheidung
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Soweit die Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind, darf das BVerfG in die Sachprüfung eintreten. Der Schutzbereich des als verletzt gerügten Grundrechts muss – nun wirklich, nicht nur möglicherweise – in sachlicher und persönlicher Hinsicht eröffnet sein, der gerügte Akt öffentlicher Gewalt einen Eingriff darstellen, und dieser darf verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt sein. Das heißt: Das Grundrecht muss einschränkbar sein, es muss eine verfassungsgemäße gesetzliche Grundlage geben, und – soweit der Beschwerdeführer sich gegen einen Akt der Exekutive oder Judikative wendet – muss die Rechtsanwendung den Vorgaben genügen, die die Verfassung enthält und der Kognitionskompetenz des BVerfG unterliegen (s. dazu Rn 249 ff). Rügt der Beschwerdeführer ein Unterlassen der öffentlichen Gewalt, prüft das Gericht nun, ob der Beschwerdeführer wirklich einen Anspruch darauf hat, dass die öffentliche Gewalt zum Schutz seiner Grundrechte tätig wird.
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Erweist sich die Behauptung des Beschwerdeführers, er sei durch einen bestimmten Akt öffentlicher Gewalt in einem oder mehreren seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt, als zutreffend, stellt das BVerfG dies fest (§ 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Es kann zugleich aussprechen, dass jede Wiederholung der beanstandeten Maßnahme das Grundgesetz verletzt (§ 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG). Grundrechtsverletzende Entscheidungen (zB Verwaltungsakte, Gerichtsurteile) hebt das BVerfG auf (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Hat der Beschwerdeführer – was die Regel ist – vor Anrufung des BVerfG den Rechtsweg erschöpft, verweist das BVerfG die Sache gem. § 95 Abs. 2 BVerfGG an „ein“ zuständiges Gericht zurück. Dies gilt va deshalb, weil hier meist noch eine abschließende Entscheidung über die Kosten des Verfahrens zu treffen ist (s. dazu BVerfGE 6, 386, 389; 84, 1, 3 f). Gericht im Sinne dieser Vorschrift ist nicht zwangsläufig eines der mit der Sache bereits befassten Fachgerichte, sondern jedes sachlich zuständige Gericht (BVerfGE 4, 412, 424).
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Gemäß § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG erklärt das BVerfG grundrechtsverletzende Gesetze für nichtig. Aus § 95 Abs. 3 S. 2 BVerfGG ergibt sich, dass es das auch dann tun soll, wenn es eine Gerichtsentscheidung aufhebt, die deshalb grundrechtsverletzend ist, weil sie auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht. Wie in den Verfahren der abstrakten und der konkreten Normenkontrolle sieht sich das Gericht auch hier zu geltungserhaltenden Entscheidungsaussprüchen befugt[220], die es nach der Maxime „näher am Grundgesetz“ dann wählt, wenn die Nichtigerklärung schwerwiegendere Folgen hätte als die (befristete bzw. begrenzte) Weitergeltung des gerügten Gesetzes (s. dazu etwa BVerfG FamRZ 2010, 1403, 1409 f; umfassend dazu Rn 696 ff). Diese Praxis der „Unvereinbarerklärung“ hat der Gesetzgeber inzwischen mit Recht gebilligt (vgl § 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG). Er hat dem BVerfG in der genannten Vorschrift auch die Möglichkeit eröffnet, ein Gesetz auf der Grundlage einer erfolglosen Verfassungsbeschwerde für mit dem Grundgesetz vereinbar zu erklären und damit für Rechtsklarheit zu sorgen. Da § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG und § 78 S. 1 BVerfGG im Wesentlichen übereinstimmen[221], ist § 78 S. 2 BVerfGG im Verfassungsbeschwerdeverfahren entsprechend anwendbar, der es ermöglicht, den Entscheidungsausspruch auf weitere Vorschriften eines angegriffenen Gesetzes zu erstrecken, wenn diese aus denselben Gründen mit dem Grundgesetz unvereinbar sind (BVerfGE 128, 326, 404 mwN). Dies gilt insbesondere für im Laufe des Verfahrens in Kraft getretene, inhaltlich unveränderte Nachfolgeregelungen (BVerfG, 1 BvR 142/15 vom 18.12.2018, Abs.-Nr 171).
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§ 95 BVerfGG gestattet dem BVerfG nur die Vernichtung des grundrechtsverletzenden Aktes. Schadensersatzansprüche können im Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht geltend gemacht werden (BVerfGE 1, 3, LS 1). Auf die Feststellung einer Verletzung des Grundgesetzes darf sich das Gericht nur beschränken (BVerfGE 89, 381, 394),
„wenn ein zur Aufhebung geeigneter Akt öffentlicher Gewalt überhaupt nicht oder nicht mehr vorliegt, die angegriffene Entscheidung eine den Beschwerdeführer belastende Wirkung nicht mehr entfaltet oder die festgestellte Grundrechtsverletzung den sachlichen Inhalt der Entscheidung nicht berührt.“
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Das ist vor allem dann der Fall, wenn das BVerfG zum Ergebnis kommt, dass der Gesetzgeber dadurch, dass er eine bestimmte Regelung unterlassen hat, Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt hat. Es ist „nicht möglich, eine Norm insoweit für nichtig zu erklären, als sie etwas… nicht anordnet“ (BVerfGE 18, 288, 301). Hier muss das Gericht dem zuständigen und an die Entscheidung des BVerfG gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG gebundenen Gesetzgeber die verfassungsgemäße Neuregelung überlassen.
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Wo mehrere Angriffsgegenstände vorliegen, hebt das Gericht sämtliche Hoheitsakte auf, die das Grundrecht des Beschwerdeführers verletzt haben (BVerfGE 6, 386, 388). Hebt es eine gerichtliche Entscheidung auf, muss eine bestätigende Rechtsmittelentscheidung notwendigerweise ebenfalls aufgehoben werden (BVerfGE 4, 412, 424). Das gilt nicht, wenn die Rechtsmittelinstanz die untere Instanz nicht bestätigt, sondern nur das Rechtsmittel als unzulässig verworfen hat (BVerfGE 14, 320, 324; 74, 358, 380). Umgekehrt kann sich das BVerfG darauf beschränken, nur die letztinstanzliche oder die letzte tatrichterliche Entscheidung aufzuheben, „wenn damit den Interessen des Beschwerdeführers besser gedient ist als mit der Aufhebung sämtlicher Entscheidungen“ (BVerfGE 84, 1, 5). Dies wird vor allem dann der Fall sein, wenn die Sache tatsächlich geklärt ist und nur eine Rechtsfrage verfassungsrechtlich zutreffend beantwortet werden muss, weil so dem Beschwerdeführer die erneute Durchführung eines zeitaufwändigen gerichtlichen Verfahrens erspart werden kann (so geschehen in der Kopftuch-Entscheidung, BVerfGE 108, 282, 313 f).
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Der Zweite Senat des BVerfG hält sich – anders als der Erste Senat – für befugt, den Angriffsgegenstand auf eine zulässige Verfassungsbeschwerde hin „unter jedem in Betracht kommenden Gesichtspunkt auf [seine] verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit“, dh auch am Maßstab nicht gerügter Grundrechte zu überprüfen (s. etwa BVerfGE 113, 29, 46 f; 141, 56, 67; 17, 364, 378 mwN). Angesichts des Antragserfordernisses (vgl Rn 124) ist diese Praxis nicht unbedenklich[222]. Der Antrag des Beschwerdeführers begründet die Zuständigkeit des Gerichts, begrenzt sie aber zugleich auch. Greift der Beschwerdeführer einen denkbaren Angriffsgegenstand nicht an oder rügt er ein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht nicht, ist die Prüfung dem BVerfG insoweit versagt.
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Hinweis:
Soweit der Sachverhalt einer Übungsarbeit Informationen darüber enthält, welche Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte der Beschwerdeführer als verletzt rügt, sollten diese im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung angesprochen werden. Im Rahmen der Begründetheitsprüfung ist dann ggf hilfsgutachtlich auf weitere Grundrechte einzugehen, die ebenfalls verletzt sein können und daher der Verfassungsbeschwerde jedenfalls dann, wenn man die Praxis des Zweiten Senats zugrundelegt, zum Erfolg verhelfen.
§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › IV. Annahmeverfahren
IV. Annahmeverfahren
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Gemäß § 93a Abs. 1 BVerfGG bedarf die Verfassungsbeschwerde der Annahme zur Entscheidung (s. dazu bereits Rn 108 ff)[223]. Der Gesetzgeber hat sich gegen ein freies Annahmeverfahren entschieden[224] und hätte sich angesichts der Verfassungsrechtslage auch gar nicht anders entscheiden können: Gemäß § 93 Abs. 2 BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen, soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt (Rn 357) oder wenn es zur Durchsetzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten angezeigt ist (Rn 358). Dies kann nach § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG auch der Fall sein, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht. Die gesetzlichen Annahmevoraussetzungen belassen dem Bundesverfassungsgericht zwar einen Spielraum bei der Auslegung und Anwendung der maßgebenden, ausfüllungsbedürftig formulierten Rechtsbegriffe, räumen ihm aber kein Ermessen ein[225].
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Vorgaben für das Verfahren ergeben sich aus § 93d BVerfGG. Eine mündliche Verhandlung findet im Annahmeverfahren nicht statt. Die Entscheidung („Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen“) ist unanfechtbar und bedarf keiner Begründung. Von dieser Entlastungsmöglichkeit (dem „leeren Blatt aus Karlsruhe“[226]) macht das BVerfG immer wieder Gebrauch[227]. Über die Annahme der Verfassungsbeschwerde können sowohl die Senate als auch die Kammern (§ 15a BVerfGG) entscheiden, § 93b BVerfGG. Während die Annahme durch den Senat schon dann beschlossen ist, wenn mindestens drei Richter ihr zustimmen (§ 93d Abs. 3 S. 2 BVerfGG), kann die Kammer eine Verfassungsbeschwerde nur durch einstimmigen Beschluss ablehnen (§ 93d Abs. 3 S. 1 BVerfGG) oder annehmen – Letzteres jedoch nur, wenn die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung der Kammer vorliegen (§ 93c BVerfGG).
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Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung hat eine Verfassungsbeschwerde nur dann, wenn sie – was in der Praxis eher selten vorkommt bzw. vom BVerfG bejaht wird[228] – (BVerfGE 90, 22, 24 f, vgl auch BVerfGE 96, 245, 248)
„[…] eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lässt und noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt oder die durch veränderte Verhältnisse erneut klärungsbedürftig geworden ist. Über die Beantwortung der verfassungsrechtlichen Frage müssen also ernsthafte Zweifel bestehen. Anhaltspunkt für eine grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinne kann sein, dass die Frage in der Fachliteratur kontrovers diskutiert oder in der Rechtsprechung der Fachgerichte unterschiedlich beantwortet wird. An ihrer Klärung muss zudem ein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse bestehen. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn sie für eine nicht unerhebliche Anzahl von Streitigkeiten bedeutsam ist oder ein Problem von einigem Gewicht betrifft, das in künftigen Fällen erneut Bedeutung erlangen kann. Bei der Prüfung der Annahme muss bereits absehbar sein, dass sich das BVerfG bei seiner Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde mit der Grundsatzfrage befassen muss. Kommt es auf sie hingegen nicht entscheidungserheblich an, ist eine Annahme nach § 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG nicht geboten.“[229]
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Zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt ist die Annahme der Verfassungsbeschwerde, wenn (BVerfGE 90, 22, 25 f, vgl auch BVerfGE 96, 245, 248)
„[…] die geltend gemachte Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten besonderes Gewicht hat oder den Beschwerdeführer in existenzieller Weise betrifft. Besonders gewichtig ist eine Grundrechtsverletzung, die auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet oder wegen ihrer Wirkung geeignet ist, von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten. Eine geltend gemachte Verletzung hat ferner dann besonderes Gewicht, wenn sie auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt. Eine existenzielle Betroffenheit des Beschwerdeführers kann sich vor allem aus dem Gegenstand der angegriffenen Entscheidung oder seiner aus ihr folgenden Belastung ergeben. Ein besonders schwerer Nachteil ist jedoch dann nicht anzunehmen, wenn die Verfassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder wenn deutlich abzusehen ist, dass der Beschwerdeführer auch im Falle einer Zurückverweisung an das Ausgangsgericht im Ergebnis keinen Erfolg haben würde.“[230]
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Mit der Verwendung des Merkmals „angezeigt“ in § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG sollte dem BVerfG ein „Entscheidungsraum“ eröffnet werden[231], den das Gericht auch nutzt, neuerdings etwa durch das seit 2016 von den Dezernaten unterschiedlich gehandhabte „Prima-vista-Verfahren“, in dem über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde nach Annahmekriterien auf der Grundlage einer evidenzbasierten Entscheidung befunden wird und nicht annahmewürdige Fälle im Konsens ausgesondert werden.[232] Das Merkmal des „Angezeigtseins“ darf also nicht im Sinne von „erforderlich“ oder „geboten“ verstanden werden[233]. Umstritten ist aber, ob das Gericht auch die Annahme zulässiger und begründeter Verfassungsbeschwerden als „nicht angezeigt“ verweigern darf. In einer älteren Entscheidung – ergangen vor dem Inkrafttreten der derzeitigen Regelungen über das Annahmeverfahren[234] – hat das BVerfG festgehalten, dass es bei Nichtvorliegen der Annahmegründe auch die Annahme einer offensichtlich begründeten Verfassungsbeschwerde ablehnen könne (BVerfGE 46, 313, 314). Das wird in der Literatur zwar ebenso vertreten[235], entspricht aber nicht der ständigen Praxis des Gerichts[236]. Mit der Regelung des Annahmeverfahrens in § 93a BVerfGG schränkt der Gesetzgeber – gestützt auf die Ermächtigung des Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG – den in Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG garantierten Zugang zum BVerfG ein[237]. Als Verfahrensregelungen haben die Vorschriften über das Annahmeverfahren wie alle Verfahrensregelungen dienende Funktion. Das Annahmeverfahren darf deshalb nur ein Filter sein, der das BVerfG möglichst vor einer Überlastung mit unberechtigten Verfassungsbeschwerden bewahren soll. Unzulässige oder unbegründete Verfassungsbeschwerden sollen möglichst frühzeitig und mit möglichst wenig Aufwand (Entscheidung nicht durch den Senat, sondern durch die Kammer; Möglichkeit, von einer Begründung abzusehen) ausgesondert werden können[238], damit sich das mit nur 16 Richtern besetzte Gericht den substanzhaltigen verfassungsrechtlichen Anliegen intensiv genug widmen kann[239].
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Ob eine Verfassungsbeschwerde aber berechtigterweise erhoben wurde, hängt nicht von ihrer (objektiv oder subjektiv bestimmten) Gewichtigkeit ab. Hat die Verfassungsbeschwerde keine oder nur verschwindend geringe Aussicht auf Erfolg, ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte nicht angezeigt. Es steht damit fest, dass sie nicht anzunehmen ist[240]. Ein besonders schwerer Nachteil ist nicht anzunehmen, wenn die Verfassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (BVerfGE 90, 22, 25 f). Vertretbar scheint es auch, eine Verfassungsbeschwerde im Falle geringer Bedeutung bei völlig ungewissem Ausgang nicht zur Entscheidung anzunehmen, um dem BVerfG ein aufwändiges Verfahren zu ersparen[241]. Ist sie hingegen Erfolg versprechend oder gar offensichtlich begründet, ist die Nichtannahme wegen „geringer Bedeutung“ nicht mehr von Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG gedeckt[242].
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Ganz in diesem Sinne, aber nicht zum eigenen Annahmeverfahren, sondern zur Revisionsannahme im Zivilprozess, führt das Plenum des BVerfG aus (BVerfGE 54, 277, 296)[243]:
„Ebenso wenig könnte vor Art. 3 Abs. 1 GG eine Auslegung bestehen, die dahin ginge, § 554b ZPO gestatte es, die Annahme einer im Endergebnis Erfolg versprechenden Revision dann abzulehnen, wenn das fehlerhafte Urteil des Vordergerichts den Revisionskläger nicht in unerträglicher Weise beschwert, etwa kein den Betroffenen in seiner wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Existenz bedrohendes Fehlurteil ist. Diese Auffassung bedeutete, dass vor dem Gesetz nicht mehr alle gleich wären, dass Recht nicht mehr ohne Ansehen der Person von den Gerichten zuteil würde. Die geltende Rechtsordnung enthält zahlreiche Rechtsgrundsätze wie Einzelbestimmungen, die es gebieten, die soziale Lage, etwa eine besondere Not- und Härtesituation, bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen; ihre Auslegung und Anwendung steht unter dem Anspruch der Grundsätze des sozialen Rechtsstaats. Wenn eine Partei indes – nach der bei der Vorprüfung gewonnenen Auffassung des RevGer. – unter Beachtung aller dieser sozialen Tatbestände im Endergebnis Recht hat, dann darf ihr dieses Recht nicht aus dem Grund verweigert werden, sie sei aus wirtschaftlichen oder sonstigen außerrechtlichen Gründen in der Lage, das Fehlurteil zu ertragen. Hier wäre der Sinn der Gewährleistung von Recht durch Gerichtsbarkeit im Kern getroffen. Denn im Bereich des Normvollzugs ist die Gleichheit der Rechtsanwendung die Seele der Gerechtigkeit. Und dies seit den Anfängen unseres Rechtsdenkens (vgl 3. Mose 19, 15).“
§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › V. Prüfungsschema (Zulässigkeit)