Kitabı oku: «Tote Vögel singen nicht», sayfa 3

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5.

Ich hatte den Wagen in der Paulanergasse gerade eingeparkt, als mein Telefon läutete. Ich zuckte zusammen. Aber nur, weil es sich mit dem Radio verbunden hatte und das Klingeln in einer infernalischen Lautstärke kam. Ich sah, wie sich in einem nahen Schanigarten einige Köpfe in meine Richtung drehten. Es war Dragana.

„Was willst du? Ich bin gleich da. Hab ich irgendwelche Termine versäumt?“, fragte ich unfreundlich.

„Deswegen rufe ich ja an. Die Verhandlung am Arbeitsgericht wurde vertagt, der Richter oder sein Praktikant haben in der Früh angerufen und sich entschuldigt, der neue Termin kommt mit Ladung und Stanisic hat die Besprechung am Nachmittag abgesagt, er hat heute angeblich keine Zeit. Wenn du mich fragst, hat er schon wieder die Stadt verlassen.“

„Ich frag’ dich aber nicht.“

Mirko Stanisic war einer der Klienten, mit denen ich ein paar Dinger drehte, nichts Großes. Immer wenn ihm das Pflaster hier in Wien zu heiß wurde, tauchte er für ein paar Tage unter. Vor allem der eine Clan aus dem Kosovo war nicht gut auf ihn zu sprechen, seit das mit den Schüssen beim Figlmüller war. Ich schien bei seinen Transaktionen zum Glück nirgends auf, konnte aber bei Gelingen durchaus die Hand aufhalten. Schade, sagte ich zu mir, ich hatte heute mit ein paar lila Scheinchen gerechnet. Solange es sie noch gab.

„Sonst noch was?“, fuhr ich Dragana schroff an.

Sie brauchte das. Wenn ich sie zu gut behandelte, würde sie sich vielleicht eine besser und vor allem regelmäßig bezahlte Arbeit suchen, doch so traute sie sich nicht einmal über eine Kündigung nachzudenken.

„Ich wollte heute früher Schluss machen, wenn sonst nichts ansteht. Meine Tochter kommt mit der Kleinen vorbei.“

„Melanie?“

„Valerie!“

Wieder hatte ich vergessen, wie lange Dragana schon für mich arbeitete und wie lange es tatsächlich her sein musste, dass wir was miteinander laufen hatten. Das war vor ihren Töchtern gewesen. Und die Ältere der beiden hatte jetzt selbst schon ein Kind. Dragana war also eigentlich eine GRILF, eine #Granny I’d like to fuck#. Warum ihre Tochter das Kind ausgerechnet Valerie nennen musste, würde mir ewig ein Rätsel bleiben. Zu einem Nachnamen wie Pantelic hätte eine Sladjana oder von mir aus Silvija einfach besser gepasst.

„Wenn es auf deine Zeit geht, kannst du von mir aus eine halbe Stunde früher Schluss machen.“

„Bei dem, was du mir zahlst, hätte ich die letzten zehn Jahre zu Hause bleiben können.“

„Vorsicht“, warnte ich Dragana, „das kann schneller passieren, als dir lieb ist. Und was würde Ratko dann dazu sagen?“

„War ein Witz. Bis morgen.“

„Bis morgen, aber pünktlich.“

Ich hatte das letzte Wort und ich hatte die Chefkarte gezogen. Natürlich hätte ich sie auch nach Hause schicken können, zu tun gab es im Moment nicht viel, aber ein wenig Schikane entspannte mich. Dafür würde ich nicht früher gehen. Denn ich würde erst gar nicht kommen. Beschloss ich und startete den Motor. Die Fehlzündungen ließen ein paar Gastgartenbesucher blöd gaffen. Würde die Polizei bereits nach mir fahnden, würden die Bullen sicher zuerst in der Kanzlei antanzen.

Keine fünf Minuten später hatte ich mein Ziel erreicht. Ich war beim Mittersteig. Nicht bei der bekannten Strafvollzugsanstalt, sondern bei meinem Wohnhaus. Mittlerweile war ich es leid, zu betonen, dass ich nicht im Gefangenenhaus zu tun hatte, wenn ich nach Hause wollte und dem Taxler meine Adresse gab. Auch im Bekanntenkreis mache ich nur noch Scherze darüber, wenn einer sagt: „Das ist aber praktisch. Da bist du ja ganz in der Nähe von deinen Klienten.“

„Nur, wenn ich versagt habe und sie einsitzen müssen“, antworte ich dann meist. Und schiebe oft nach: „Aber das Beste ist: Die Kuchen, in die ich die Feile einbacke, sind meist noch warm, wenn ich sie rüberbringe.“

Es war weit nach Mittag und ich hatte Hunger. Also kehrte ich bei meinem Stammwirt ein. Sein Lokal am Eck betrieb er seit vielen Jahren und ebenso lang kannten wir uns. Früher hatte mich auch noch was anderes hingetrieben, doch das war jetzt vorbei. Ich betrat das Lokal und grüßte Severin, der hinter der Budel stand und gerade zwei Bier zapfte.

„Für mich kannst auch gleich eins machen“, rief ich ihm zu und suchte mir einen Platz etwas weiter hinten, nicht direkt am Fenster. Ich sitze nicht gern in der Auslage.

Die meisten Tische waren frei, lediglich ein Maler in seiner fleckigen Kluft und zwei Bauarbeiter, die ihre Mittagspause ausdehnten, saßen da. Am Tisch schräg mir gegenüber saß im Zwielicht, durch das sich dünnfadig die Rauchschwaden schlichen, ein Pensionist, der die Kronen Zeitung studierte. Ich hatte selbst auf das Blatt gespitzt, sagte mir dann aber, dass dort wohl noch nichts drinstehen würde. Dafür lief in der Ecke der Fernseher. Die Mittagsnachrichten würden gleich beginnen. Der Ton war auf leise gestellt und ich würde nicht den Fehler machen, den Wirt zu bitten, lauter zu stellen. Das waren genau die Indizien, die so manchen schon zu Fall gebracht hatten. Severin stellte das Bier vor mir ab und fragte, ob ich etwas essen wolle. Ich bejahte.

„Als Menü haben wir heut an g’selchten Schopf mit Kraut und Knödel oder sonst Augsburger mit g’röste Erdäpfel.“

„Dann will ich das Einser-Menü“, sagte ich.

„Den Schopf?“, vergewisserte sich Severin.

„Nein“, sagte ich, „ein Schnitzel.“

Severin grinste: „Geht klar, der Herr in der Panier will’s Fleisch in der Panier.“

Nachdem er die Bestellung in der Küche aufgegeben hatte, kam er mit einem Gewürzbord, auf dem sich in der Mitte tatsächlich noch eine braune Maggi-Flasche befand, und einem in eine große Papierserviette eingewickelten Besteck zurück und sagte, während er mit seinem Geschirrtuch ein paar Brösel vom Tischtuch fegte: „Warst lang nicht da. Wie läuft’s?“

„Nicht gut, ich kann nicht klagen“, sagte ich.

Severin machte einen grübelnden Gesichtsausdruck, bis der Anwaltswitz bei ihm durchgesickert war, dann lachte er.

In der Zwischenzeit war am Bildschirm der Nachrichtensprecher erschienen und ich versuchte, zumindest die Headlines zu verstehen. Nach einem Bericht über einen EU-Gipfel und den nächsten Skandal um das neu errichtete Krankenhaus im Norden Wiens kamen die Lokalnachrichten. Ich trank einen Schluck Bier und das Glas blieb an meinen Lippen hängen, als der nächste Beitrag über den Fund einer Frauenleiche in einem Wiener Hotel berichtete. Man sah sie zwar nicht, aber Schneewittchen hatte es in die Nachrichten geschafft. Keine besonders erstrebenswerte Form der Publicity. Ich würde hier nicht auftreten wollen. Und das Einzige, was das verhindern konnte, war, die Aufklärung dieses Verbrechens in die eigene Hand zu nehmen. Ich musste den Täter finden.

Severin erschien mit einem Teller aus der Küche.

„Sicher eine Nutte, die ihr Zuhälter gemacht hat“, sagte er, den Kopf leicht nach hinten in Richtung Bildschirm gedreht, als er das Schnitzel vor mir abstellte. Der Duft der Zitronenspalte und der gebackenen Brösel stiegen mir in die Nase.

„Ich habe nicht aufgepasst“, log ich und griff nach dem Besteck und wandte mich meinem Essen zu.

Während ich durch die knusprige Panier schnitt, rechnete ich nach, bei welchem Ermittlungsschritt die Kriminalisten jetzt sein mussten. Hatten sie die familiären Verhältnisse schon durchleuchtet und Eltern oder Ehemann schon ihre Aufwartung gemacht? Mit ernster Miene mitgeteilt, dass die Tochter oder Ehefrau einem Verbrechen zum Opfer gefallen war? Und dann gleich in den damit aufgerissenen Wunden weitergebohrt und nach möglichen Tätern gefragt: „Hatte Ihre Tochter Feinde?“ Oder den Partner nach möglichen Motiven ausgehorcht: „Können Sie sich erklären, warum Ihre Frau in dem Hotel war? Wo waren eigentlich Sie?“

Ein plumper Ermittler konnte mir richtig viel Zeit verschaffen, weil die meisten Hinterbliebenen auf solche Fragen zunächst verstockt reagierten und in den distanzlosen Kriminalisten die realen Feinde sahen, die sich nun in ihren Intimbereich einmischen und dort herumschnüffeln wollten. Womöglich würden sie aber zunächst den Arbeitsplatz aufsuchen. Was hatte Schneewittchen wohl gearbeitet? Ich ließ den sonderbaren Abend Revue passieren und konnte mich nicht daran erinnern, dass wir darüber gesprochen hätten, also über das, was jeder von uns machte. Sie behauptete, Maria zu heißen, und mir fiel wieder ihre hanebüchene Geschichte über Schneewittchen ein.

„Schmeckt’s dir heut’ nicht?“, fragte Severin und ich stellte fest, dass ich mehr Gedanken als mein Schnitzel gekaut hatte.

„Aber natürlich, nur wenn ich langsamer ess’, legt sich’s nicht so an, hab ich wo gelesen“, sagte ich, worauf Severin Drahdiwaberl zitierte und sagte: „Schnallt’s den Gürtel enger, dann halt es Schnitzel länger.“

Stefan Weber, der Sänger von Drahdiwaberl hatte hier in der Nähe gewohnt. Doch Weber war tot und seine Band fast in Vergessenheit geraten, selbst wenn der legendäre Falco dort in seinen Anfangszeiten einmal Mitglied gewesen war. Ich kaute wieder ein paar Bissen und überlegte, was ich als Nächstes zu tun gedachte. Ich kannte einen Journalisten, der auch Gerichtsreporter war. Sicher würde dessen Anruf bei der Polizei mehr herausbringen als meiner. Doch bevor ich ihn anrufen und um ein Treffen bitten konnte, läutete mein Telefon.

Zwei Arten von Anrufen gibt es, die jeder Anwalt fürchtet: Kategorie eins – die der Kammer. So ein Anruf bringt meist Probleme, weil denen wieder irgendetwas nicht passt. Etwa weil man sich nicht an die Standesregeln gehalten hat. Oder man sich disziplinar unkorrekt verhalten hat. Am besten man pfeift auf das, was sie wollen, weil es meist an Schwachsinn grenzt oder diese Grenze eindeutig überschritten hat. Aber man darf es auch nicht übertreiben mit dem Ignorieren. Womöglich verliert man die Zulassung und muss dann wie viele ehemalige Kollegen in der Illegalität weitermachen. Nicht, dass das, was ich praktiziere, alles legal wäre, aber es hat zumindest den Anschein. Und die zweite Kategorie sind die unzufriedenen Mandanten und davon sind die Schlimmsten jene, die auf ihr Geld warten. An der Nummer des jetzigen Anrufers erkannte ich sofort, dass es der Typ war, dessen Prozesserfolg mich gestern aus der Bredouille geholt und dessen Geld ich zwischen Dragana und mir aufgeteilt hatte.

„Was sind Sie eigentlich für ein Anwalt?“, eröffnete er das Gespräch.

„Ihrer“, gab ich zurück.

„Daran muss ich zweifeln. Ich habe vorhin mit dem gegnerischen Anwalt telefoniert und der teilte mir nicht nur mit, dass ich gewonnen habe, sondern auch, dass er den eingeklagten Betrag bereits an Sie überwiesen hätte. Wieso erfahre ich das nicht von Ihnen?“

„Ich habe heute den Brief diktiert. Und das Geld wird ihnen spätestens morgen überwiesen.“

Er machte eine Pause. Ich konnte sein nunmehr entspanntes Schnaufen in der Leitung hören. „Dann ist es ja gut“, sagte er, und bevor er auflegte fragte ich ihn noch: „Warum haben Sie eigentlich zuerst die Gegenseite und nicht mich angerufen?“

„Hab ich ja, aber ich konnte Sie nicht erreichen und Ihre Sekretärin hat mich auch nur vertröstet.“

Er legte auf und ich hatte ein weiteres Problem. Ich musste irgendwie an Geld kommen. Jetzt war es dringend, denn ich musste den Klienten bezahlen, bevor er Wirbel schlug und damit meine Absenz zum Thema machte. Entweder Geld eintreiben bei Leuten, bei denen das nicht gesund ist, oder Geld ausborgen bei solchen, bei denen das noch weniger gesund ist. Ich schob den Teller beiseite. Das Schnitzel war kalt, die Panier von der Zitrone aufgeweicht und mein Appetit vergangen.

„So legt es sich ganz sicher nicht an“, sagte Severin, als er den Teller mit dem übrig gebliebenen Stück abservierte. Ich bestellte noch einen Kaffee, und als ich dann zahlen wollte, beugte er sich zu mir hinab und flüsterte: „Komm, ich muss dir was zeigen, du warst ja wirklich lange nicht da.“ Er grinste, als würde er mir die Stelle verraten, wo der Zaun eines Nacktbads bei den Frauen ein Loch hat.

Ich erhob mich und folgte ihm. Wir kamen an den Toiletten vorbei, wo sich der brennende Geruch des Salmiaks der Duftsteine ausbreitete. Er schloss eine Tür mit der Aufschrift „Unbefugten Zutritt verboten“ auf, und kaum hatte ich den Raum betreten, befand ich mich in einem Märchen aus Blinken und mechanischem Rattern.

„Ganz neue Maschinen“, sagte Severin und ich blickte auf eine Batterie an einarmigen Banditen.

Das Leuchten der Anzeigen spiegelte sich in meinen Augen und ich spürte, wie meine Hände feucht wurden. Das war die Chance, ich wusste es. Damit würde ich meine finanziellen Sorgen lösen.

6.

Als ich heimkam, standen mir die Tränen in den Augen. Nicht wegen des verlorenen Geldes, das war ja nicht meines gewesen, es war noch immer wegen Schneewittchen. Als ich in den Lift stieg und die Taste für das Dachgeschoss drückte, hatte ich ihr Bild vom Vortag vor Augen. Niemand sollte mich mit nassen Augen sehen, also verschwand ich schnell in meiner Wohnung.

Man darf jetzt keine übertriebenen Vorstellungen haben, wenn man sich die Bleibe eines Rechtsanwalts unter dem Dach eines Hauses in Wien Margareten vor Augen führt. Als ich die Wohnung vor über zwanzig Jahren bezog, war die Gegend um einiges günstiger als heute und ich habe sie von einem Künstler übernommen. Allein mit dem Pfand der Bierflaschen, die ich in allen möglichen Ecken und Winkeln fand, konnte ich einen Monat lang die Betriebskosten zahlen. Schade, dass man für Schnapsflaschen nichts erhält, denn mit denen hätte ich auch noch die Miete gehabt.

Ich weiß nicht, welche Art Kunst der Mann gemacht hat, auf den paar großformatigen Bögen, die ich zwischen den Flaschen gefunden habe, klebten nur weibliche Genitalansichten, die er zu Hunderten aus Magazinen ausgeschnitten haben musste. Viele hatte er dann nachgemalt. Das Seltsame war, dass diese Collagen, aus der Ferne betrachtet, aussahen wie eine Galerie an Köpfen. Das Geschlecht war das Gesicht und die Schamhaare umkränzten es wie Frisur und Bart. Das Auge glaubte tatsächlich, eine Galerie männlicher Köpfe mit Bärten zu sehen, das war vielleicht die Botschaft, die der Künstler vermitteln wollte.

Ich fand auch noch ein paar Fotos, die bei seinen Ausstellungen entstanden sein mussten. Er posierte nackt auf den ganzen Frauenmösen. Die Plakate lagen um ihn herum am Boden. Der alte Mann hatte buschige Augenbrauen, lange, dünne Haare und einen dafür umso volleren Bart, der fast bis zum Nabel reichte. Sein Penis war klein und schrumpelig, wahrscheinlich vom vielen Alkohol verdorrt. Er übergoss sich dann mit einer klebrigen Flüssigkeit und wälzte sich auf den Plakaten, wo er mit seinem Bart wie mit einem Pinsel wilde Striche und Kleckse hinterließ.

Ich habe über den Mann weder einen Wikipedia-Eintrag gefunden noch den geringsten Hinweis, dass er je einen Preis erhalten hat. Offenbar ein echter Künstler, dessen Interesse nur seinem Werk, aber nicht dem Erfolg galt. An seinem siebzigsten Geburtstag hat er sich aus dem Fenster auf die Straße gestürzt und ich konnte die Wohnung günstig übernehmen. Zwei seiner Bilder habe ich sogar an der Wand hängen. Eines davon erinnert an eine Blume.

Ich kam traurig und pleite in die Wohnung, die sich seit meinem Einzug nur wenig verändert hatte. Weder hatte ich am Dach die Terrasse bauen noch im hohen Wohnraum die vom Makler empfohlene Galerie einziehen lassen. Neues Bad, Klo und Küche und ausmalen, das war’s gewesen. Für alles andere fehlte mir das Geld und tut es bis heute noch. Der Nachmittag hatte ein weiteres Loch in mein Budget gerissen, aber ich kann einfach nicht an so einem Spielautomaten vorbeigehen. Dabei dachte ich, dieses Laster endlich im Griff zu haben.

Ich zog die Jalousie zu und stellte den Fernseher an, während ich aus den Kleidern schlüpfte. Aus der Küche holte ich mir einen Gin Tonic, ließ aber den Gin weg, da ich jede Minute mit meiner Verhaftung rechnete. Ich hatte genug Strafverfahren geführt, dabei oft wahre Verbrecher herausgeboxt, zugleich aber auch wiederholt erfahren, wie Unschuldige von den Mühlen der Justiz zermalmt wurden. Geld und Glück entschieden oft genug über das Schicksal von Menschen. Ich hatte weder das eine noch das andere. Die Fakten sprachen gegen mich und selbst das kleine Ablenkungsmanöver im Hotel würde mich nicht lange retten können. Die Leiche war gefunden und spätestens heute Abend oder morgen würde die Kriminalpolizei die letzten Stunden Schneewittchens rekonstruiert haben.

Als ich mich vor dem Fernseher niederließ, lief der erwartete Bericht über eine heute Morgen in einem Wiener Hotel gefundene Frauenleiche. Man kenne die Identität des Opfers, sagte der junge Fernsehsprecher mit eindringlichem Blick in die Kamera, der bei mir den Eindruck erweckte, als wollte er direkt zu mir sprechen. Maria Schneider habe als Treuetesterin für eine Agentur gearbeitet, sprach der Ansager weiter und die Polizei sei auf der Spur des letzten Opfers der als Lockvogel tätigen Frau. Ich drückte mein Glas fester in der Hand und zwang mich ganz ruhig weiter zu atmen. Kontrolle war wichtig. Ich vermeinte die Glocke läuten zu hören und dazu die Worte: Cosinus Gauß, ich nehme Sie wegen des dringenden Verdachts des Mordes an Maria Schneider fest. Doch das war nur meine Fantasie, die mir den Blick in diese meine nächste Zukunft offenbarte. Dann wurde ein verschwommenes Standbild aus einer Überwachungskamera eingeblendet, das mich am Gang mit dem Löscher zeigte. Das Bild wurde gegen eine scharfe Aufnahme ausgetauscht. Ein Profilbild aus Facebook. Doch das war nicht ich. Daneben das Insert: Erste Spur führt zu Verdächtigem aus Wirtschaft.

Ich stellte mein Glas am Couchtisch ab, bevor es Gefahr lief, endgültig in meiner Hand zerdrückt zu werden. Die Polizei habe sich auf die Spur der letzten Zielperson des Opfers gemacht: ein gut vernetzter Immobilientycoon, der aber für eine Befragung noch nicht greifbar gewesen sei. Ich kannte den Mann: Sigurd Renko. Das war jener Finanzjongleur, der taumelnde Kaufhausketten in sprudelnde Geldquellen verwandeln konnte und ein Großprojekt nach dem anderen durchzog. Einkaufszentren, Fußballstadien oder Luxushotels. Zuletzt jedoch war er finanziell selbst in Schieflage geraten, wie man in Insiderkreisen munkelte. Es war mein Glück, dass Dragana ein Society-Freak war und immer den neuesten Klatsch aus der Welt des Adels und der Hochfinanz kannte. Sie behauptete immer, ich müsste einen dieser Fische an Land ziehen, dann hätten wir ausgesorgt.

Mir fiel ein, dass sie erzählt hatte, dass Renko auf Freiersfüßen wandelte und dass bald die Hochzeit mit Sylvie Vangurten, der Erbin einer Kaufhauskette, anstehen würde. Wenn die Gerüchte stimmten, dann war das auch die nötige Kapitalspritze für sein Imperium. Schwer zu sagen, was an den Gerüchten stimmte, doch so ergab das alles für mich ein schlüssiges Bild. Der Mann brauchte Geld, die Braut brachte das Geld und die argwöhnische Verwandtschaft wandte sich an eine Lockvogelagentur, um die Zuverlässigkeit des anstehenden Familienmitglieds zu testen oder, wenn man ihm die Freiheit eines Seitensprungs vielleicht sogar noch zugestehen wollte, um ihn im Zuge des Liebesgeflüsters über seine wirtschaftlichen Pläne auszuhorchen. Man wollte sicher nicht den Judas zum Messias machen. Ich stellte mir vor, was ich nach einer Hochzeit mit so einer schwerreichen Braut mit den dann zur Verfügung stehenden unbeschränkten Mitteln alles anstellen würde. Warum ist der Lockvogel ausgerechnet an mich geraten?

Mein Telefon läutete und die Nummer am Display bereitete mir umgehend Unbehagen. Es gibt nicht nur zwei Arten von Anrufen, die der Anwalt fürchtet, es gibt noch eine dritte Kategorie, die man als Mann fürchtet: Anrufe der eigenen Mutter.

Offenbar fühlen sich Mütter gerade bei alleinstehenden Männern bemüßigt (oder sie nehmen sich das Recht heraus), immer über jeden Schritt ihrer Sprösslinge informiert zu sein, wenn diese in ihren Augen familientechnisch gescheitert sind oder zumindest nicht ihren Ansprüchen genügen. Weil ich ihr weder Eheweib noch Nachwuchs bieten konnte, dachte sie wohl, ich wäre schwul oder aber nicht für eine längerfristige Partnerschaft geeignet. Dieses womöglich eigene Scheitern wurde also ständig hinterfragt und sie rief mich bei allen möglichen unpassenden Gelegenheiten an. Im Verhandlungssaal, wenn der Richter seine Kappe aufsetzte, um meinen Mandanten für zwanzig Jahre hinter Gitter zu bringen, oder eben jetzt, wo ich jede Minute mit meiner Verhaftung rechnete.

„Hast du gerade die Nachrichten gesehen?“

Jetzt wurde sie mir unheimlich und sofort reimte sich mein Hirn zusammen, dass sie hinter der Sache mit Maria Schneider stecken könnte. Ein Test, um meine sexuelle Orientierung zu erkunden.

„Ja“, sagte ich, „warum?“

„Hast du das mit diesem schrecklichen Mord an dem armen Mädchen gesehen?“

Also doch!

„Ja, warum?“

„Ist dir dabei nichts aufgefallen?“

Ich schüttelte den Kopf. Auf einmal war ich wieder der kleine Bub, der vergessen hatte, sein Jausenbrot zu essen, und dafür Schimpfe bekam. Nach einer Schrecksekunde sagte ich gefasst: „Was soll mir dabei aufgefallen sein?“

Natürlich war mir was aufgefallen. Ich war in den letzten zwei Tagen wiederholt vom Mordopfer angesprochen worden, ich hatte die Nacht neben ihr verbracht und ich war neben ihrer Leiche aufgewacht. Man müsste ein Meister der Verdrängung sein, um das alles nicht bemerkt zu haben, aber das sagte ich nicht.

„Dieser Sigurd Renko sieht fast so aus wie du!“

„Aber der ist doch fett“, antwortete ich jetzt empört, ohne nachzudenken.

„Aber mein Bärchen, ihr seht eben beide stattlich aus.“

Sinnlos, über den verklärten Blick einer Mutter zu diskutieren. Ich konnte nicht anders, als mich zu erheben und zum Spiegel im Vorraum zu gehen. Der gehörte wieder einmal geputzt, war mein erster Gedanke, als ich mein Ebenbild in den Schlieren betrachtete.

„Vielleicht hast du recht“, sagte ich, bevor ich mich verabschiedete und auflegte. Ich stand noch einige Minuten vor dem Spiegel und knetete an meinen Rundungen. Ich fragte mich, ob die Gefängniskost entsprechend kalorienarm sein würde, wusste aber um das Bild einiger ehemaliger Klienten, die an diesem Ort noch dicker geworden waren.

Leider hatte meine Mutter nicht ganz unrecht, wenn sie mir eine optische Ähnlichkeit zu Renko zumaß. Wir hatten beide diese Backen, die das Gesicht kreisrund erscheinen lassen, wie man das von Kinderzeichnungen kennt. Mein Kinn war vielleicht etwas ausgeprägter und länger, doch auch die eher kleine und knubbelige Nase hatten wir gemein. Renko hatte zwar eine andere Frisur und Haarfarbe, aber auch das eher dünne Haar, das sich um den Kopf legte, teilten wir. Bei schlechtem Licht hätten wir als Brüder durchgehen können.

Mein Telefon läutete abermals. Wieder meine Mutter. Bevor sie noch etwas sagen konnte, hatte ich das Wort ergriffen: „Du musst dich vorhin völlig getäuscht haben. Ich und Renko, wir haben optisch nicht viel gemein.“ Und auch sonst nichts, sagte ich zu mir, als ich an seine Millionen dachte.

„Deswegen hab ich jetzt gar nicht angerufen“, sagte meine Mutter. „Ich habe vorhin vergessen, dir zu sagen, dass ich morgen bis zum Wochenende wegfahre. Es wäre toll, wenn sich in der Zeit jemand um Papa kümmern könnte. Red’ dich mit deinem Bruder zusammen.“

Das hatte gerade noch gefehlt. Weder hatte ich Lust, den alten Trottel, der nur mehr vor sich hin sabberte, zu besuchen, noch wollte ich mit meinem Arschloch von Bruder deswegen reden müssen. Ich hatte jetzt etwas anderes zu tun. Ich musste mich auf die Spur von Maria Schneider machen. Und diese Spur führte mich zuerst zu Sigurd Renko.

Ich rief Dragana an. Die war es gewohnt, dass ich sie öfter des Abends anrief. Meist war ich dann betrunken und versuchte sie zu überreden, mit mir zu schlafen. Es klappte nie. Vermutlich sehnte ich mich auch gar nicht nach Sex, sondern wollte nur mit jemandem reden und dabei eine vertraute Stimme hören.

„Bist du um diese Zeit schon dicht?“, fragte sie anstelle einer Begrüßung.

„Warum?“ entgegnete ich. „Wie kommst du darauf?“

„Wenn du am Abend bei mir anrufst, dann nur, weil du mit mir bumsen willst.“

Ich lachte ins Telefon und sagte: „Nein. Ich brauch etwas anderes von dir. Du kennst dich doch in der High Society so gut aus. Was weißt du über Sigurd Renko?“

Ich hörte sie ins Telefon atmen und konnte bildlich die Zahnrädchen in ihrem Hirn rattern sehen, als sie sich jetzt vermutlich fragte, ob das ein Ablenkungsmanöver sein könnte, um sie letztlich doch wieder ins Bett zu bekommen. Bevor die Pause zu lang wurde, sagte sie: „Ziemlich viel. Ich hoffe, du hast Zeit.“

Zum Glück musste ich nicht weit fahren. Es war ein typisches Häuschen in einer Wiener Vorstadtgegend. Die Hecken hoch, die Gärten klein und die Garagen auch. Und da jeder hier einen Zweitwagen hatte, waren die engen Gassen auf beiden Seiten zugeparkt. In den meisten Wohnzimmern war der Fernseher an.

Kalksburg war vor allem wegen seiner Trinker bekannt, jener Alkoholaffinen, die es übertrieben hatten und jetzt auf Entzug dorthin kamen. „Genesungsheim Kalksburg“ hatte diese Sonderanstalt bei der Eröffnung im Jahr 1961 geheißen, was doch eine sehr drollige Umschreibung für den Zweck dieser Klinik war. Die Säufer hatten sich das Hirn vom Hochprozentigen zersetzen lassen und wurden hier wieder mit Wasser aufgefüllt und waren dann – oh Wunder – genesen. Wie bei einer Dialyse wurde hier der Alkohol aus den Adern herausgespült und durch reines Hochquellwasser ersetzt.

Eine frische Brise kam auf und trug den Duft der blühenden Hecken zu mir. Ich näherte mich im schwankenden Licht der Straßenlaternen der Eingangstür jenes Hauses, das mir Dragana als die richtige Adresse genannt hatte. Sie bezog sich dabei auf ein sehr frühes Interview des Latifundienmoguls, worin er auf seine Jugend zu sprechen kam. Damals sei er mit seinem besten und einzigen Freund durch dick und dünn gegangen. Auch die eine oder andere Jugendsünde habe man dabei begangen. Doch mit den Jahren sei der Kontakt letztlich abgebrochen.

„Wenn er irgendwo abgetaucht ist, dann nur bei Josef Frantisek“, hatte Dragana behauptet.

Angeblich waren die beiden als Jugendliche beim Dealen am Schulhof erwischt worden und Frantiseks Vater, ein leitender Beamter beim Magistrat, hatte das dann irgendwie ins Reine bringen müssen. Ich dachte mir, dass einem ein Talent für das Handeln und Geschäftemachen in die Wiege gelegt sein musste. Renko hatte diese Gabe offenbar von klein auf gespürt und sich schon damals nicht von Gesetzen oder Konventionen leiten lassen. Nur so kommt man weiter, dachte ich mir, bevor Dragana erzählte, dass sich die Sache aber schnell glattbügeln ließ, weil die beiden Kumpane nur getrocknete Kräuter angeboten hatten. Sie habe die Geschichte einmal von einem Polizisten erfahren. Der meinte aber, dass die beiden durchaus noch andere Sachen am Kerbholz hätten, jedoch nichts, das sich beweisen lasse.

„Wenn du irgendwo untertauchen musst, dann tust du das nicht bei jemandem, dem du vertraust, nein, das tust du bei jemandem, den du in der Hand hast. Macht zumindest mein Mann immer so“, hatte Dragana dann die Unterhaltung beendet.

Ich fragte mich, ob sie etwas mit diesem Polizisten hatte, und gestand mir ein, in diesem Moment so etwas wie Eifersucht zu verspüren.

Vor einem Gartentor aus grau lackierten Metallstreben und mit einem hässlichen Türknauf, wie man sie selbst vor dreißig Jahren nur mehr an ganz wenige Menschen verkaufen konnte, kam ich zu stehen. Frantisek stand neben der Glocke und ich betätigte diese trotz der vorgerückten Stunde. Durch einen der Gitterstäbe konnte ich sehen, wie sich etwas im Haus bewegte. Ein besonders schlauer Zeitgenosse schob einen Vorhang etwas zur Seite und blickte zum Gartentor. Ich drückte nochmals den Knopf. Diesmal so lange, dass ich das Summen bis zu mir auf die Straße hören konnte. Kein Wunder, hier war es so ruhig, dass ein Mäusefurz als nächtliche Ruhestörung zur Anzeige gebracht worden wäre. Der Vorhang fiel in seine Ausgangsposition zurück.

„Gehen Sie weg, sonst hole ich die Polizei!“, tönte eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher.

„Machen Sie das, die freut sich sicher, Herrn Renko endlich verhören zu können.“

Ein Summen ertönte und ich konnte die Tür aufdrücken. Ich ging über einen mit Steinplatten ausgelegten Weg auf drei Stufen zu, die in das Haus führten. Die Eingangstür, in deren Blatt einige bunte Milchglasscheiben eingelassen waren, wurde von einem Mann um die vierzig geöffnet. Er trug ein altes, ausgewaschenes T-Shirt und Boxershorts. An den Füßen Sandalen. Er fuchtelte mit der Rechten durch die Luft und zischte in meine Richtung: „Schnell, machen Sie schon, nicht dass Sie jemand sieht.“

Ich liebe diese Wiener Außenbezirke. Jeder behält den anderen im Auge. Untertags lächeln sich die Nachbarn freundlich zu und am Abend zerreißen sie sich das Maul über den andern. Rundumüberwachung. Nicht einmal der Innenminister in einem Polizeistaat würde so etwas derart lückenlos und flächendeckend hinbekommen. Frantisek zog mich ins Haus und drückte eilig die Tür zu. Er musterte mich. Ich war unrasiert, mein hellblaues Jackett sicher zerdrückt und mein Hemd hatte am Hals seit dem Mittagessen einen Fleck. Aber es ging hier nicht um mich.

„Was wollen Sie?“, fragte Frantisek.

„Er will zu mir.“

Renko tauchte in der Tür hinter dem Hausherrn auf. Wir sahen uns einen Moment schweigend an und ich nehme an, Renko ist es ähnlich gegangen wie mir. Als ob man ein verzerrtes Spiegelbild in einem dieser Kabinette im Prater betrachten würde. Man ist es und dann doch wieder nicht. Der Anflug eines Lächelns zeichnete sich auf Renkos Lippen ab. Und auch ich verzog meine Mundwinkel. Was hätte ich für Vorteile aus diesem Look-Alike ziehen können? Mein Bankberater, der mit mir Geduld aufbrachte wie mit einem unehelichen Sohn, hätte als Zeuge dieses Aufeinandertreffens sicher gern meinen Kontorahmen aufgestockt. Einem wie Sigurd Renko warf man das Geld nach und zur Not auch einem, der wenigstens so aussah wie Renko.

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