Kitabı oku: «Morgoth Uncursed»

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1. Auflage März 2015

Copyright © 2015 by Edition Roter Drache

Edition Roter Drache, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel

eMail: edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Buchgestaltung: Holger Kliemannel

Titelbild: Costin-Alexandru Chioreanu

Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache

© Fotos liegen beim jeweiligen Fotorafen (siehe Bildquellenverzeichnis)

Korrektorat: Sarah Bräunlich

Gesamtherstellung: Jelgavas typografia

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.

ISBN 978-3-944180-62-5


Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort des Verlags

Intro 20.05.2011

1985 - 1989

Kapitel 1 „Golden Age“

Kapitel 2 „Isolated“

Kapitel 3 „From Dusk To Dawn“

Kapitel 4 „The Art Of Sinking“

1989 - 1991

Kapitel 5 „This Fantastic Decade“

Kapitel 6 „Souls On A Pleasuretrip“

Kapitel 7 „Unreal Imagination“

Kapitel 8 „The Travel“

Kapitel 9 „Cursed“

1991 - 1997

Kapitel 10 „The Beyond“

Kapitel 11 „Odium“

Kapitel 12 „Exit To Temptation“

Kapitel 13 „Feel Sorry“?

Kapitel 14 „Being Boiled“

2010 - 2014

Kapitel 15 „A New Start“

Kapitel 16 „… and its amazing consequences“

Anhang

Veröffentlichungen

Die Band

Der Autor

Bildquellen


Vorwort des Verlags

1989: Schallplatten von Bands wie Napalm Death, Godflesh und Carcass aus Großbritannien oder Morbid Angel und Obituary aus USA drehen sich Tag und Nacht auf dem schwarzen Teller. Bis auf diverse Thrash-Metal-Bands, die zum Teil aus dem heimatlichen Ruhrpott kamen und mehr oder weniger Erfolge aufweisen konnten, war die lokale Beteiligung in der härteren Musik eher bescheiden. Dann betraten Morgoth aus dem benachbarten Sauerland die Szene. Als mein Bruder mit der ‚Ressurection Absurd’ Mini-LP nach Hause kam, war ich sofort hin und weg: Die Brutalität und Intensivität in diesen rohen Sound verpackt, das kannte ich bis dato nur von Death und ihrem ‚Scream Bloody Gore’-Album.

Von diesem Tag an hörte ich die EP rauf und runter und bis heute zählt sie zu meinen absoluten Lieblingsveröffentlichungen aus dem Death-Metal-Bereich. Als dann ‚The Eternal Fall’ veröffentlicht wurde, kaufte ich sie mir am gleichen Tag direkt nach der Schule. Zu diesem Zeitpunkt besaß ich keinen eigenen Plattenspieler, also enterte ich das Zimmer meines Bruders und legte die Scheibe auf. Sie enttäuschte mich etwas, da mir der Sound zu poliert war. Das, was ‚Resurrection Absurd’ ausmacht, fehlt mir hier, ich fand nie einen richtigen Zugang zu dieser EP, obwohl die Songs allesamt überzeugen und ich sie live gerne höre.

1990: Ein knappes Jahr war seit dem ersten Lauschangriff von Morgoth vergangen und endlich war es soweit: Morgoth spielten mit Obituary und Demolition Hammer zusammen im Dortmunder Live Station. Endlich konnte ich meine Helden live erleben. Also fuhren wir mit dem Zug von Hagen, dem ‚Tor zum Sauerland‘ wie die Stadt sich selbst nennt, nach Dortmund. Bedauerlicherweise war der ganze Abend nicht von Glück gesegnet: ein Stromausfall mitten im Gig sorgte für Verspätungen, und kaum ging die Show weiter, riss bei Marc Grewe eine Basssaite und vom Ersatzbass fehlte jede Spur. „Nach der Show trat ich vor Wut in eine Tür und verstauchte mir den Fuß dabei“, so erinnert sich Marc anno 2014 an diesen Abend. Morgoth kürzten ihre Setlist um einen Song, damit Obituary fairerweise vor Mitternacht die Bühne entern konnten und zum Trost spielten sie ‚Oppurtunity Is Gone’ als Vorgeschmack auf ihr neues Album ‚Cursed’.

Bis 2014 war dies bedauerlicher Weise aus Zeitgründen meine letzte Live-Erfahrung mit Morgoth.

Selbstredend kaufte ich mir 1991 die ‚Cursed’ auf Schallplatte (die heute signiert im Büro hängt, direkt neben dem von Away bemalten und von Voivod signierten Trommelfell) und auch ‚Odium’ fand den Weg in meine junge CD-Sammlung. Von ‚Feel Sorry For The Fanatic’ jedoch erfuhr ich zufälligerweise erst drei Jahre nach der Veröffentlichung, als ich seinerzeit bei Therion im Hagener Woodhouse-Studio war. Siggi, der Besitzer des legendären Studios, erwähnte diese Scheibe im Nebensatz. Wie alle ‚Cursed’-Fans fand ich nur schwer einen Zugang zu diesem vorerst letzten Morgoth Album. „Würde ein anderer Bandname darauf stehen, fände ich sie von vorne rein klasse.“ Ein Satz, den die Band öfters zu hören bekommen hat.

Aufgrund des Internets und den ganzen Social Media Outlets wie Facebook ist es heute bei weitem leichter, in Kontakt mit den Helden seiner Jugend zu kommen als Anfang der 90er Jahre. Im Herbst 2013 nahm ich mit Marc Grewe Kontakt auf, sendete ihm die Voivod-Biographie ‚Worlds Away’ zu und wir sprachen locker über eine mögliche Morgoth-Biographie.

Im Mai 2014 war es schließlich soweit, ein Treffen mit der Band in ihrem Proberaum in Berlin stand an. Wir besprachen die Optionen und kamen in einem Sushi-Restaurant schnell zum Entschluss, das Projekt umzusetzen. Es fehlte nur noch ein geeigneter Autor, der unsere Idee umsetzen könnte. Schon im Vorfeld bei den ersten Mails zum Buch brachte Marc Christian Krumm ins Spiel, der berteits 2 Sachbücher geschrieben hat.

Überglücklich von diesem beeindruckenden Treffen mit den ‚Helden meiner Jugend‘ vor ich wieder von Berlin nach Haufeld zurück und nahm umgehend Kontakt mit Christian auf. Nach einer kurzen Bedenkzeit sagte er zu, dass Projekt stand somit. Ich muss sagen, dass wir keinen besseren Autor für dieses Buch hätten finden können.

Kurz vor Abgabe des Manuskripts überraschte uns die Nachricht, dass Marc Grewe nicht länger ein Teil der Band sei. Der Aufschrei war groß, Fans verlangten sogar die Auflösung der Band. Nachdem der erste Teaser mit neuer Musik online gestellt wurde, verstummten jedoch die meisten Schreie. Die seitdem am häufigsten gestellte Frage lautet „Was ist passiert?“ und genau zu diesem Punkt schweigen alle Beteiligten. Wer erwartet, in diesem Buch Hintergründe oder Klatsch zu erfahren, der wird enttäuscht werden. Es war nie unsere Absicht, dies in Erfahrung zu bringen und publik zu machen. Morgoth lives – und nur das zählt.

Als Fan, der diese Band seit nunmehr über 25 Jahre lang begleitet, und als Verleger ihrer Biographie, möchte ich an dieser Stelle allen Beteiligten meinen ganz großen Dank aussprechen:

- Marc Grewe, der die Idee in den Raum geworfen hat, eine Bio zu machen,

- Sebastian und Harry, die von Anfang an diese Idee unterstützten,

- an alle ehemaligen und aktuellen Mitglieder für ihre Hilfe beim Zusammentragen der Informationen,

- Christian Krumm, der eine erstklassige Arbeit geleistet hat und sich in die Materie hinein gekniet hat, obwohl er kein „Sachbuch“ mehr machen wollte,

- Leif Jensen von Clandestine Music, dem Management der Band

- Evelyn Steinweg für das umfangreiche Bildmaterial

- Rock Hard, sowie Frank Albrecht und Rüdiger Hennecke, dass sie uns die Erlaubnis zum Abdruck der Tourtagebücher erteilt haben,

- Jagger, der ein fleißiger Rock Hard-Sammler ist und aus seinem Archiv die Tourtagebücher von 1991 ausgegraben hat

- und an alle Menschen, die uns Fotos, Eintrittskarten und diverse andere Bildmaterialien zugesendet und uns mit Informationen versorgt haben.

Haufeld, im Februar 2015

Holger Kliemannel


Intro

20.05.2011


Der 20. Mai 2011 ist für die meisten Metaller ein ganz gewöhnlicher Freitag. In Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt, Stuttgart oder München geht man in die Kneipen oder auf Konzerte; im Ruhrgebiet fiebern nicht wenige dem Pokalfinal-Derby zwischen Schalke und Duisburg am folgenden Tag entgegen. Doch auch in das AJZ Bahndamm in Wermelskirchen zieht es einige. Dort spielt neben The Very End, Debt of Nature und Reckless Manslaughter eine Band, deren Gig für viele Besucher eine Reise in ihre eigene Jugend bedeutet.

Der Bahndamm ist seit über 20 Jahren ein Tempel der Punk- und Metal-Szene: klein, stickig, genau so, wie man sich einen zünftigen Klub vorstellt. Abseits des Konzertraums führt eine Treppe hinauf in eine Küche, wo die Bands das Essen mittels einer Durchreiche in den Cateringraum gestellt bekommen. Diverse langhaarige Gestalten haben es sich hier zwischen zweistöckigen Hochbetten, Sesseln, Sofas, Gitarrentaschen, Snare-Drums, Bass-Verstärkern und Kabelkoffern bequem gemacht.

Auf den Sesseln sitzen drei Gestalten beieinander, deren Namen Marc, Harry und Sebi sind. Keiner von ihnen hätte gedacht, dass sie je wieder an so einem Ort und in genau solch einer Situation zusammen sitzen würden. Über Jahre hinweg haben sie ein mehr oder weniger normales Leben geführt. Marc ist als Erzieher berufstätig, hat aber auch als Promoter und Aufnahmeleiter für das Fernsehen gearbeitet, Sebi kümmert sich um das Marketing für eine Online-Poker-Firma und hat eine Tochter, die in Köln als Krankenschwester arbeitet. Harry hat zwei kleine Kinder und arbeitet als Bodenleger. Was machen sie also hier in diesem kleinen Ort irgendwo zwischen Leverkusen und Wuppertal? Als Teenager haben sie zusammen Musik gemacht und hatten große Pläne wie die meisten Jugendlichen. Doch einen Unterschied gab es: Sie haben sie durchgezogen bis zum bitteren, nun, sagen wir besser stillen, Ende.

„Wie lange ist das jetzt her?“

„14 Jahre. Das war in Paris im ‚La Locomotive‘.“

„Oh Mann, war das ein Scheiß.“

„Kann ich mich gar nicht so dran erinnern.“

„Doch ich schon. Ich weiß noch, wie ich ins ‚Moulin Rouge‘ gedackelt bin, um dem Roadie in den Arsch zu treten. Der hat sich da vergnügt, während wir das Equipment selbst über die Straße geschleppt haben. Das ging ja mal gar nicht.“

„Wieso? Das war doch fast immer so.“

„Immer? Ne, also bei den Touren vorher war das noch anders!“

„Wir waren eben auch verwöhnt.“

„Hat doch mit verwöhnt nichts zu tun, wenn einer seinen Job nicht macht. Wir haben doch auch unseren Job gemacht.“

„Ja, das war genau das Problem.“

„Was meinst Du?“

„Es war ein Job. Wir haben unsere Ärsche von A nach B karren lassen, um unseren Job zu machen.“

„Jetzt übertreib mal nicht. Es war doch weiß Gott nicht immer nur ein Job!“

„Nein, früher nicht. Als wir noch in Meschede geprobt haben.“

„Auch hinterher nicht. Nur zuletzt, aber da haben wir dann auch aufgehört.“

„Das war schon einmalig. Ein paar bekloppte Teenager aus dem Sauerland, die sich in den Kopf gesetzt haben, eine Death Metal Band zu gründen, obwohl sie anfangs nicht einmal Instrumente spielen konnten. Aber wir waren eben Kumpels.“

„Wir haben es durchgezogen. Vertrag bei einem Minilabel, Wochen und Monate in Bussen auf Pritschen oder in irgendwelchen Billighotels übernachtet; irrsinnig, wenn man sich das heute vorstellt.“

„Ja, das war schon krass. Unglaublich, wie das gelaufen ist. Eigentlich sollte das mal einer aufschreiben.“

„Und jetzt, seit 14 Jahren, endlich wieder auf der Bühne. Die deutsche Death Metal Legende: MORGOTH!!!!!“

Dem letzten Gedanken gehen wir noch einmal kurz nach. Während sich die Jungs ihre Instrumente schnappen und die Bühne für ihr erstes Konzert nach anderthalb Dekaden entern, stellen wir uns einmal vor, was dabei herauskommenwürde. Wenn man alle noch einmal einzeln befragen und bitten würde, ihre Erinnerungen Revue passieren zu lassen. Wenn man sie sogar noch einmal zusammenbrächte, für einen Grillabend zum Beispiel, und wenn man all das Gesagte zusammenfügen würde zu einer Geschichte, einer Erzählung über fünf Leute aus einem kleinen Städtchen im Sauerland, die eine Band gründen, um damit mal eben Death-Metal-Geschichte zu schreiben. Ja, wenn man das tun würde …


1985 - 1989


Kapitel 1

„Golden Age“

Irgendwo in einem ruhigen Dortmunder Vorort steht die Tür eines Hauses weit offen, als ich ankomme. Einen Rucksack mit Würstchen und Steaks auf dem Buckel, der rechte Arm schmerzt von dem Gewicht des Bierkastens. Es ist Mitte August 2014 und die Temperaturen haben bereits ein bedenklich herbstliches Niveau erreicht, aber das sollte nicht abschrecken.

Als ich hereinkomme, sitzen bereits vier maßgebliche Personen an einem Tisch und plaudern. Harry, Rüdiger, Marc und Carsten tauschen geflissentlich Alltägliches aus oder philosophieren über Gott und die Welt. Es hat in der Tat etwas von einem Klassentreffen, nur dass keiner mit den Erfolgen seiner letzten Jahre prahlt. Ich begrüße alle und setze mich dazu, schließlich ist hier bereits die Gründungsbesetzung von Morgoth versammelt. Da sich die Herren zunächst in ihren Gesprächen nicht stören lassen, schaue ich in die Runde und versuche mir vorzustellen, wie sie vor dreißig Jahren genauso zusammen gesessen und über die Musik und ihre großen Pläne philosophiert haben. Obwohl mir einige Minuten lang jegliche Idee fehlt, wie ich mich nun in diese Gespräche einmischen und das Thema der Bandgeschichte zur Sprache bringen kann, genieße ich den Anblick. Diese Jungs sind alles andere als besessen von ihrer Vergangenheit. Segen und Fluch ihrer Laufbahn ist, dass sie als verschworene Clique sich nie großartig in etwas haben hineinreden lassen und der Genuss des miteinander Abhängens immer die entscheidende Triebkraft war.

Aber dennoch, so langsam müssen wir anfangen. Schließlich gilt es, in der Summe fünfzehn bewegte Jahre zu resümieren. Bringen wir also ein wenig Licht ins Dunkel der Anfänge von Morgoth.

Rüdiger: „Carsten und ich haben uns Anfang der 80er durch unsere Eltern kennen gelernt. Beim ersten Treffen gab es erst einmal ordentlich auf‘s Maul, aber danach sind wir lange durch dick und dünn gegangen. Dann bin ich sitzen geblieben und kam in die Klasse von Harry. Wenig später ist er sitzen geblieben und kam in die Klasse von Marc – eine Geschichte des Versagens.“

Er lacht. Das macht er ohnehin sehr häufig. In einem Interview sollte man eigentlich immer die Fragen offen stellen, damit dem Gegenüber möglichst schnell etwas einfällt. Bei Rüdiger ist das nicht nötig. Ihm kann man sagen: „Erzähl mal!“, und er legt los:

Rüdiger: „Carsten und ich haben mit Musik angefangen, weil wir unbedingt eine Band haben wollten, aber das war dann doch eher ‚Zwölftonmusik‘. Ohne Harry hätten wir das nicht geschafft. Er hat die Musikalität reingebracht. In einer ganz frühen Phase haben Carsten und ich ja einmal bei Kreator im Proberaum vorgespielt – das war ein frühes Trauma. Als wir fertig waren, herrschte Schweigen unter den Anwesenden. Aber dann wurde Bier gereicht und alles war vergessen. Später bei Despair hatten wir dann eine Art Deja-Vu.“

Carsten: „Am Anfang habe ich noch einige Riffs geschrieben. Es stellte sich schnell heraus, dass Harry das sehr viel besser kann. Rüdiger hat dann als Schlagzeuger, was selten genug ist, die Riffs sortiert und die guten zu Songs weiterentwickelt.“

So viel ist jetzt schon klar. Nach einhelliger Meinung der drei übrigen Beteiligten war es Harry, der die Band auf ein kompositorisch ansprechendes Niveau gehoben hat. Er selbst relativiert das ein wenig:

Harry: „In der ersten Zeit waren Carsten und Rüdiger sicher die treibende Kraft der Band. Der Name und erste handgezeichnete Logos stammten von ihnen, außerdem hatten sie bereits erste Riffs und Songfragmente herausgearbeitet. Meine musikalische Vorbildung ist sicher durch meinen zehn Jahre währenden Klavierunterricht geprägt worden. Und da mir dann der Umstieg auf ein Saiteninstrument relativ leicht fiel, bin ich immer mehr in die Rolle des Songwriters und ‚Rifflieferanten‘ hineingerutscht.“

Auch Rüdiger formuliert seine eigene Rolle etwas anders:

Rüdiger: „Ich habe mich nie als Musiker gesehen, eher als jemanden innerhalb eines Stammes von vier Gleichgesinnten, die in der Musik ein Ventil gefunden haben. Nach Morgoth wollte ich auch keine andere Band haben. Für mich war es das Beste, im Proberaum mit den anderen zu jammen und Dinge zu entwickeln. Ideen zu haben hat mich immer mehr interessiert, als technisch besser zu werden. Das kam mit den Konzerten.“

Eines funktioniert bei ihnen auch nach dreißig Jahren noch perfekt. Niemand stellt seinen eigenen Beitrag in den Vordergrund, lobt vielmehr den jeweils anderen. Auch Marcs Einstieg als Sänger wird von allen gelobt, während er es selbst mehr als Notwendigkeit darstellt:

Marc: „Als Harry und ich dazukamen, war ich noch gar nicht eingeplant. Sie haben einfach jemanden gesucht, der schreien konnte und ohne Gesangsanlage gegen Gitarre und Schlagzeug ankam.“

Harry: „Eigentlich war es eine logische Konsequenz, dass Marc und ich Rüdiger und Carsten kennengelernt haben. Mitte der 80er Jahre gab es im Sauerland kaum Kids, die unsere musikalischen Vorlieben teilten. Als wir Rüdiger und Carsten über den Weg liefen, waren wir schwer beeindruckt von ihren Lederkutten, kamen sofort mit den beiden ins Gespräch und freundeten uns sehr schnell an. Sowas nennt man wohl ‚Liebe auf den ersten Blick‘, haha.“

Das alles geschah Mitte der 1980er Jahre in der sauerländischen Stadt Meschede. Sie ist umzingelt von kleinen Ortschaften, die meistens auf -burg, -heim, -feld oder -hausen enden. Zwischendurch ein -tal, -berg oder ein -see. Ein einsames Teilstück der A 46 befindet sich hier, darüber hinaus gibt es nur Landschaft und Landstraßen, Wälder und Serpentinen. Auf den Gleisen verkehren kleine Regionalbahnen in die östlichen Ausläufer des Ruhrgebiets. Als nächste Großstadt ist Dortmund eine mehrstündige Zugreise entfernt. Die Dörfer umgibt die Romantik alter Fachwerkhäuser und kleiner, rustikaler Ortskerne inmitten der Hügellandschaft. Viele der Einwohner leben dort und fahren nur zum Arbeiten oder Einkaufen nach Meschede. Die Stadt selbst hat ihre Fachwerkhäuser fast gänzlich bei Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg eingebüßt und befindet sich seit Jahren im baulichen Umbruch: Straßen, Brücken, ein Karstadt-Einkaufszentrum, eine Fußgängerzone, ein neues Industriegebiet, das das Großgewerbe aus der Innenstadt aussiedeln soll. Denn durch die Haupteinkaufsstraße quält sich der Industrieverkehr, LKWs mit Schlachtabfällen zum Beispiel, die liebevoll ‚Knochenlaster‘ genannt werden und die nahe gelegene städtische Knochenmühle zum Ziel haben. Dort werden die Abfälle zu Seife verarbeitet und regelmäßig hängt der Geruch verrottenden Fleisches noch lange in der Luft.

Harry Busse und Marc Grewe sind zwei ganz normale Teenager, die in dieser ländlichen Umgebung aufwachsen. Sie lernen sich kennen, als Harry nach seinem Wechsel auf die Realschule zu Marc in die 7. Klasse kommt. Ihnen gemeinsam ist die Vorliebe für harte Musik, oder das, was man zu dieser Zeit als harte Musik bezeichnet. Harry stöbert regelmäßig in der Plattensammlung seines älteren Bruders und findet Bands wie Iron Maiden, Scorpions, AC/​DC, Rainbow, Deep Purple. Neben dieser Gemeinsamkeit verbinden sie weiteregleiche Interessen, wie Mofa fahren ohne Führerschein und Angeln gehen, was bedeutet, kleine Bomben aus mit Unkraut Ex und Schwarzpulver gefüllten Kupferröhren zu bauen, sie in die Ruhr zu werfen und zu schauen, was so an die Oberfläche treibt. Harry spielt seit seinem dritten Lebensjahr Klavier und besitzt eine Akustikgitarre. Da er und Marc, wie viele ihrer Altersgenossen in dieser Zeit, ihren Idolen nacheifern wollen, treffen sie sich nachmittags zu gemeinsamen Sessions mit einem weiteren Kumpel. Die E-Gitarre wird simuliert, indem Harry ein an einen Kassettenrecorder angeschlossenes Mikrofon in den Korpus der Gitarre legt und auf Aufnahme drückt, der Kumpel rhythmisiert alte Persiltrommeln und Marc, nun, der brüllt.

Am Schulzentrum des städtischen Gymnasiums Meschede gibt es, wie damals noch in fast allen Schulen, eine Raucherecke. Den Schülern ab 16 ist es erlaubt, dort qualmend ihre Zeit zu verbringen. Unter ihnen befinden sich zwei, die die Aufmerksamkeit von Harry und Marc reizen, denn beide sehen so aus, als frönten sie derselben Musikrichtung wie sie. Ihre Namen sind Carsten Otterbach und Rüdiger Hennecke, zwei Jahre älter und für sie muss, genau wie für Harry und Marc, Musik vor allem eins sein: laut, hart und schnell.

Diese Leidenschaft ist in dieser Gegend nicht gerade verbreitet. Meschedes damals bekanntestes Musikerzeugnis ist die New Wave Band Short Romans, deren Songs immerhin im WDR und bei Ingolf Lücks ‚Formel 1‘ gespielt werden. Darüber hinaus bietet die Stadt nur einen einzigen Plattenladen, einen von jener Sorte, in dem Stilbezeichnungen wie ‚Pop‘, ‚Jazz‘, ‚Reggae‘ und ‚Klassik‘ etliche Regalmeter füllen und irgendwo ganz hinten am Rand, vielleicht unter ‚Hardrock‘ oder ‚Punk‘, ein paar interessante Platten zu finden sind. Einer jener Läden, der beim Eintreten braun schimmert, mit weichem Teppichboden, der einmal pro Woche geschäumt wird und nicht ein verdammtes Antikreuz auf den Plakaten an der Wand hat. Dorthin zu gehen und nach Heavy Metal zu suchen gleicht dem wöchentlichen Gang zum Briefkasten, um nachzusehen, ob man einen Sechser im Lotto hat – man tut es, aber es passiert einfach nicht. Natürlich kann man Platten bestellen und auch im neuen Karstadt gibt es eine Plattenabteilung. Nur ist das teurer als die üblichen 20 D-Mark, die ohnehin schon das halbe Monatsgehalt eines durchschnittlichen 15-jährigen bedeuten.

So finden sich Harry und Marc regelmäßig in der Raucherecke ein, zum Fachsimpeln und natürlich auch zum Tauschen, beladen mit dem explosivsten Vinylstoff, das schwarze Rillengold, das heiligste: Es gleicht einem zeremoniellen Akt, wenn Rüdiger mit der geschickten Vorsicht eines Juweliers in die Alditüte greift und unter den großen Augen der anderen eine viereckige Papphülle mit umgedrehtem Pentagramm und Teufel mit Schwert zum Vorschein bringt.

Ehrfürchtig, nur mit den Fingerspitzen berührt, wird es von einem zum anderen gereicht wie ein Artefakt aus einem fernen Land. Im Umkreis von einer halben Tagesreise wird es kaum einen Menschen geben, der ‚Show No Mercy‘ sein Eigen nennt. Rüdiger hält die Platte hoch, die neueste Errungenschaft. Oh Gott, wehe, wenn das Album scheiße ist! Jeder wird in den nächsten Tagen ein Tape davon erhalten. So geht es die nächsten Wochen, Monate und es etabliert sich unter den vier einzigen Metallern in Meschede ein System: Einer kauft sich eine Platte, die wird rumgereicht und sorgt in der Regel bei allen für ungeteilte Begeisterung.

Zum Glück ist auf die Thrash-Bands in den achtziger Jahren Verlass. Für ‚Seven Churches‘ lohnt es sich, sobald das Geld zusammen gekratzt ist, den halben Tag nach Dortmund zu fahren, wo es die Plattenläden gibt, die schon von außen wie ein Metal-Tempel aussehen. Natürlich nur für den Initiierten, den Eingeweihten, der dort, wo andere nur Horrorgestalten und Teufelsanbetung sehen, seine Heiligtümer erblickt. Marc erwarb dort seine erste Platte, ‚Killers‘ von Iron Maiden, die er sich nur zulegte, weil er das Cover so geil fand. Neben den unerreichbaren Ikonen reicht Rüdiger eines Tages auch ‚Pleasure To Kill‘ herum, das zweite Album einer aufstrebenden Essener Band namens Kreator um den Sänger Miland ‚Mille‘ Petrozza.


Mille ist ein 17-jähriger Musikbesessener, der mit seiner Band tatsächlich schon eigenes Vinyl fabriziert hat. Im Unterschied zu vielen anderen Idolen wohnt er in Essen. Das ist gefühlt nicht unbedingt sehr viel näher als Los Angeles und San Francisco, aber immerhin muss man dafür nicht in ein Flugzeug steigen. Da auf dem Plattencover in diesen Tagen noch die Telefonnummer von Milles Eltern als Kontakt steht, lässt Carsten sich nicht lumpen und ruft eines Tages dort an:

„Petrozza?“

„Ja, hallo, ist Mille zu sprechen?“

„Wer ist denn da?“

„Carsten und Rüdiger. Wir sind Fans von, äh, Ihrem Sohn.“

„[der Hörer wird zur Seite gelegt, im Hintergrund] Miland? Hier ist ein Fan für Dich dran!“

Kleine Pause

„Hallo?“

„Hallo Mille?“

„Wer ist da?“

„Carsten, aus Meschede. Sag mal, kann man Euch eigentlich mal besuchen?“

So schnell geht das. Wie sich bald herausstellt, ist Carsten ein Kontaktmann allererster Güte. Wo andere sich tagelang den Kopf darüber zerbrechen, wie man mit dem einen oder anderen Kontakt aufnehmen könnte, ist seine Antwort stets: Einfach machen. Also ab nach Altenessen.

Kreator im Proberaum zu treffen, läuft nicht ohne familiäre Unterstützung. Eine Übernachtungsmöglichkeit gibt es bei der Tante, die Eltern dienen als Chauffeure ins Ruhrgebiet und um nicht als Hinterwäldler dazustehen, putzen sich Carsten und Rüdiger in bester Metallermanier heraus: Kutte, Shirt, Nieten; alles, was dazugehört. Derart aufgebrezelt kaufen sie sich am Dortmunder Hauptbahnhof Tickets, setzen sich in die S-Bahn Richtung Essen und harren der Dinge. Der Uniformierte, der mit strengem Gefängniswärterblick die Fahrscheine kontrolliert, mustert sie einige Sekunden.

„Fahrscheine! [strenger Blick über die silberne Lesebrille] Mmh, okay, ihr kommt gleich mal mit!“

„Was ist los? Wir haben Tickets!“

„Das hier ist die erste Klasse. Die Tickets sind nur für die zweite Klasse.“

So geht es im Essener Hauptbahnhof erst einmal zum Polizeirevier. Während die beiden auf den zuständigen Vollzugsbeamten warten, wird ihnen der Blick des Schaffners etwas klarer. Vor ihnen hängt ein Plakat, auf dem in Drohposition einige Gestalten abgebildet sind, die ihnen nicht unähnlich erscheinen. Darüber prangt der Satz: „Sind Sie sicher vor Gewalt?“ – Willkommen im Ruhrgebiet. Man hat das Gefühl, in Abschiebehaft zu sitzen, als müsse man gleich den nächsten Zug zurück in die Heimat nehmen.

Zum Glück ergeht es Rüdiger und Carsten nicht so. Mit erheblicher Verzögerung entern sie endlich Altenessen, wo Mille, Rob und Jülle bereits vor dem Proberaum auf sie warten. Ja, Carsten und Rüdiger sind nervös, die Strapazen der Bahnfahrt und nun auf der Couch mit drei Typen, die sowohl Proberaum als auch eine eigene Scheibe draußen haben. Aber es geht locker zu. Man redet über die Musik und findet schnell Gemeinsamkeiten. Immerhin läuft auch in Altenessen zu dieser Zeit ‚Seven Churches‘ und ‚Hell Awaits‘ rauf und runter. Einfach machen! So landet man im Proberaum von Kreator und genauso muss man seine Visionen angehen.

Diese Vision gibt es tatsächlich: eine Band. Carsten besitzt eine E-Gitarre, was ihn in den Augen der anderen zu einem Profi werden lässt, Rüdiger spielt Schlagzeug. Sie proben zunächst im Fotolabor der Schule, dann ziehen sie in den Werkraum, wo sich auch der christliche Schulchor regelmäßig versammelt. Da gibt es Instrumente, also zumindest ein Schlagzeug, Carsten schleppt dazu seine Gitarre an. Der erste Bandname lautet ‚Cadaverous Smell‘ – danach heißen sie ‚Exterminator‘ und schließlich ‚Minas Morgul‘, nachdem Rüdiger bei seinem Vater dessen Tolkien-Sammlung entdeckt hat.

‚Minas Morgul‘ hat in den Köpfen von Rüdiger und Carsten bereits sehr konkrete Formen angenommen. Die Cover der ersten vier Alben stehen bereits fest. Dass die Lärmerzeugung noch alles andere als systematisch ist, fällt bei ihren Plänen nicht weiter ins Gewicht. Tag und Nacht wühlen sie in Magazinen herum, tauschen sich aus, wollen alles wissen. Das einzige, was ihnen fehlt, sind die Mitmusiker.

Also marschieren Marc und Harry eines Tages in den Werkraum, in dem Carsten seiner E-Gitarre gnadenlos die schrägsten Töne entlockt und Rüdiger dazu auf dem mit Flammen verzierten Schlagzeug eindrischt. Harry mit seinem musikalischen Hintergrund ist schnell als zweiter Gitarrist ins Auge gefasst. Marc ist erst einmal nur dabei. Was allerdings sehr beeindruckt, ist seine Performance als Sänger, als er eines Tages Kreators ‚Flag Of Hate‘ in der brutalstmöglichen Version intoniert. So ist auch der letzte vakante Posten bald besetzt. Die Rolle als Bassist bekommt Marc als Sahnehäubchen oben drauf. Niemand außer ihnen ist Zeuge dieses historischen Moments und auch wenn, angefangen bei der Instrumentenbeschaffung hin bis zum Songwriting, noch einiges fehlt, ist doch jedem hinterher klar: Sollen doch Slayer ruhig ‚Reign In Blood‘ herausbringen oder Kreator ‚Pleasure To Kill‘ – finden wir cool, aber juckt uns nicht. Diese Musik wird härter sein als alles andere, etwas Härteres soll es einfach nicht geben!

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